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Donata Elschenbroich

Weltwissen der Siebenjährigen

Wie Kinder die Welt entdecken können


Verlag Antje Kunstmann

Inhalt

I Welt-Bildung

Die Eltern

Schleusen der Kultur

Bildungsauftrag

Weltwissen: Die Recherche

Eine erste Liste

Ein Panorama nach 150 Gesprächen

Kanon-Bildung

Ein Kanon des Weltwissens: der Orbis Sensualium Pictus von Comenius

Ein Orbis im 21. Jahrhundert

Das Wissen des Weltwissens

II Je mehr man von der Welt weiß, umso interessanter wird sie

Gespräche mit Fachleuten aller Art

Ein Bildungskanon für die frühen Jahre?

Kinder als Lebens-Unternehmer

Aus mehreren Quellen leben können

Lebens-Erwartung und ihre Wurzeln in der Kindheit

Gewinnen wollen und verlieren können

Das Kinderparlament

Kinder als Forscher, Sammler, Erfinder

Wenn ich ans Erfinden geh, bin ich wieder ein Kind

Sach-kundig

»Nichts« gibt es nicht! Chemie im Vorschulalter

Sehen und tun: Die Kinder-Akademie Fulda

Computerschulen für Kinder

Wie entsteht Gott im Kind? Religions-Bildung

»Das Kreuzzeichen machen können«

Die Entstehung Gottes im Kind

Kinder haben unsere Gemeinde verändert

Den Kindern in Deutschland fehlt…

Selma sollte sich ein Spiel ausdenken müssen

Die Kinder in Deutschland haben kein general knowledge

»Strahlende Intelligenz« im Vorschulalter. Und wie geht es weiter?

Ich bin der einzige Siebenjährige in unserer Familie

Sie will allen Dingen auf den Grund gehen

Wie ging es weiter?

III Bildungsminiaturen

Das Ich-als-Kind-Buch

Die Dinge

Weltverbesserer

Heimweh in Teneriffa

Fensterplatz

Aufgeräumt

Weniger war mehr

Geburt

Nochmal!

Die Apfelsine

Waldtag

Schrift und Zeichen

Die Stille als Teil der Musik

Meine Hand

IV Kindheit und Pädagogik der frühen Kindheit in anderen Ländern

USA

England

Japan

Ungarn

Nachwort: Das Kind erfinden

Dank

Anmerkungen

Literatur

I
Welt-Bildung


Menschen sind Wesen, die nicht nur geboren werden, sondern noch zur Welt kommen müssen. Frühgeboren zu sein ist eines unserer wesentlichen Gattungsmerkmale. Um uns in der Welt schrittweise einquartieren zu können, sind wir darauf angewiesen, dass man sie uns zeigt. Die menschlichen Nachkommen wiederum sind die einzigen jungen Lebewesen, die auf die Dinge zeigen. Eine Aufforderung, eine Bitte, ein schon vor dem Spracherwerb begonnener Dialog: Der Säugling, das noch nicht ich-sagende Subjekt, bittet, fordert: Erklär mir. Antworte! Der Finger, die Hand des Kindes – es kann den Kopf schon heben, drehen –, sie wählt aus. In der Umwelt, in die das Kind hinausgetreten ist, in diesem aktuellen Ausschnitt von Welt überhaupt, wählt es zielgerichtet: den erstaunlichen Gegenstand, da! das Fahrrad, der Föhn: da! Das Kind staunt. Und verwandelt sein Staunen in eine Geste, in ein Fragezeichen: ein geborener Lerner. Das Kind inszeniert den Dialog: Der Blick wandert vom Phänomen zum Erwachsenen, dem weltsicheren älteren Gattungsgenossen. Mit instinktivem Vertrauen in dessen Macht, sein Weltwissen und seine Gutartigkeit, fordert es: Gib ab davon! Teile mit mir. Du bist jetzt dran! Und der Erwachsene, er kann nicht anders. Die Mutter, biologische Mäzenin über neun Monate, setzt ihr Mäzenat als ein elementar pädagogisches fort. Nicht nur die Mutter, wir alle sind geborene Lehrer. Wir können uns nicht verweigern. Intuitiv verfallen wir im Dialog mit Säuglingen in den Singsang einer bis zu einer Oktave angehobenen Kopfstimme, wir dehnen und wiederholen die Silben und bieten dem Säugling damit die bestmögliche Propädeutik für den Spracherwerb. Wir bringen automatisch unser Gesicht im richtigen Winkel und im richtigen Abstand für die Augen der Neugeborenen so in Stellung, dass sie die Botschaften des menschlichen Gesichts entziffern lernen. Und wir springen an auf ihre gestischen Fragen, den deutenden Finger, den zwischen dem fixierten Gegenstand und unseren Augen wandernden Blick. Wir sind dran! Wie die Hirten auf dem Felde machen wir uns auf den Weg, wir Erwachsenen im Umgang mit den Neugeborenen, und tun, wie uns gesagt wurde. Den Einjährigen benennen wir die Dinge, wir kommentieren ihre Hantierungen wie Sportreporter, obwohl es von ihrem Wortschatz her noch keinen Sinn macht. Für das Gespräch mit den Nachkommen sind wir programmiert.1 Nur in Verwöhnungssystemen können wir als Gattung gedeihen.

Den Kopf heben, Aufhorchen – das sind weltbildende Gesten. Das Kind hebt den Kopf und sieht die Welt aufgehen. Das Kind bildet dabei einen Horizont, die Grenze zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten, dem Wirklichen und dem Möglichen. Terrain gewinnen, den Horizont voranschieben, unterwegs zu einem Zuwachs an Welt, unablässig: Das heißt lernen. Der Mensch, sagt Sloterdijk, ist ein »Mehrwelttier« und die Welt-Aneignung eine »Fortsetzung der Geburt mit anderen Mitteln«.2

Die Welt ist der Inbegriff von allem, womit man Erfahrungen macht, wenn man in ihr ist. Dieses progressive Welteinwohnen beschäftigt uns lebenslang, aber in den frühen Stadien des Lebens ist es besonders abenteuerlich, verheißungsvoll, pionierhaft. In den frühen Jahren ist genetisch alles darauf gerichtet, dass das biologisch nicht angepasste menschliche Junge, ausgestattet mit verschwenderisch reichhaltigem Potenzial, die Signale aufnehmen kann, die in Borneo, Boston oder Bremen Sinn machen für seine jeweilige Existenz. In diesen frühen Jahren ist es stärker noch, deutlicher noch als später angewiesen auf den Anderen, den Informations-Bereiter. Für das Entschlüsseln des Gesichtsausdrucks und das Decodieren der Sprache ist viel Gehirnkapazität vorgesehen. Das menschliche Gehirn lernt gern von anderen Menschen. Nicht die biologische Mutter muss es sein, da hat die Natur gut vorgesorgt. Jeder andere Mensch mit einem Vorsprung an Weltwissen kann mitspielen.

Sigmund Freud nannte es die »strahlende Intelligenz« der Kinder im Vorschulalter: ihre großzügige Ausstattung mit Talenten, ihre unerschrockene Erfinderlust, ihre Begeisterung fürs Lernen. Kennen Sie ein Krabbelkind, das null Bock aufs Krabbelnlernen hatte? Ehrliche Lerner. Sie mogeln nicht, sie lassen sich nicht einsagen…

»Wüchsen die Kinder fort wie sie sich andeuten, wir hätten lauter Genies«, bemerkt Goethe in Dichtung und Wahrheit im Hinblick auf das verschwenderische Entwicklungspotenzial von Kindern in frühen Jahren. Der »Horizont« ist durchlässig. Die Fülle des Vorhandenen spricht zum Kind von der Macht des Möglichen. Weltbewusstsein ist immer auch Überschussbewusstsein. Wer angefangen hat, in der Welt zu sein, ist unterwegs zu einem Zuwachs an Welt.

Die Eltern

Was sollte ein Kind in den ersten sieben Lebensjahren erfahren haben, können, wissen?

Wer fragt so? Eltern. Auch für Eltern sind Kinder eine Botschaft des Möglichen.

Das ist nicht nur Verheißung, das ist beunruhigend. Hat dieses Kind, was es braucht? Wenn ein kleiner Abstandsschritt zum Alltag mit einem Kind möglich ist, fragen sich das alle Eltern, irgendwann nach den ersten Jahren. Anfangs war man noch damit beschäftigt, das Kind kennenzulernen, seinen Rhythmus, sein Temperament. Und das Kind war vollauf beschäftigt mit seinem mitgebrachten Programm, seinen frühen ontogenetischen Entwicklungsaufgaben. Jede, kaum bewältigt, löste schon die nächste Aufgabe aus: Fixieren, Greifen, Sitzen, Beißen, Laufen…

Aber dann, je weiter das Kind in der Sprache vordringt, weitet sich der Horizont atemberaubend schnell, und die Möglichkeiten und Alternativen der Anregung vervielfältigen sich. Was wir nicht tun, ist das eine Unterlassung, ist das Vernachlässigung? Was wir nicht anregen, wird das brachliegen? Dabei sein, im Weg sein, umgehen mit allem, was zur Hand war, so war das Kind unterwegs zur Welt, es hatte Stoff, ganz offensichtlich. Aber reicht das für die Zukunft?

Keine Mutter, kein Vater, die nicht insgeheim mehr von sich erwarten. Mehr wovon? Das Gleiche wie in der eigenen Kindheit kann es nicht sein. Wie machen es andere Eltern? Was sagen die Fachleute? Was braucht dieses Kind? Auf einmal beginnt die Zeit knapp zu werden. In den ersten Monaten und Jahren konnte es den Eltern oft nicht schnell genug gehen – bis der Nachtschlaf wieder ungestörter wurde, bis das Kind von sich aus gern einmal in einem anderen Haus übernachtete. Nun läuft die Zeit davon. In Gedanken überschlägt man die restliche Kindheit: wieviel Jahre noch, bevor die Schule beginnt? Sollen das zwei, drei Jahre Spielparadies sein, soll man das Kind schützen vor Ansprüchen, es »in Ruhe« lassen? Aber die Zweitsprache, die jemand in dieser Familie spricht – wenn sie dem Kind je zu einer zweiten Muttersprache werden soll, dann müsste man sie jetzt einführen. Von »Entwicklungsfenstern« hat man gelesen, von optimalen Zeitpunkten für den Erwerb kognitiver Grundfähigkeiten, den mathematischen, sprachlichen, musikalischen. Wird sich mit jeder Kerze auf der Geburtstagstorte ein Entwicklungsfenster schließen? Macht man es sich zu leicht, was hat man übersehen? Die vierjährige Cousine in England unterschreibt schon auf der Postkarte mit ihrem Namen und einem Gruß…

Eltern, nicht anders als Tiere bei der Aufzucht, sondieren das Terrain, in das sie die Jungen schicken. Sie umkreisen es in Gedanken, konzentrisch, wie der Vogel das Nest umflattert. Wo sind heutzutage die nahrhaften Weideplätze, wann ist der ungefährlichste Zeitpunkt für den nächsten Entwicklungsschritt nach draußen? Auf Probegängen erkunden Eltern diesen nächsten Weltausschnitt, den der russische Entwicklungspsychologe Lev Vygotsky die zone of proximal development nannte.

Zugleich wissen wir, dass, anders als Spatzen oder Kängurubabys, der Nesthocker Mensch bei seinem Aufwachsen keinem verlässlichen genetischen Programm folgen kann. Zur Überlebensfähigkeit und zum Glück des Menschen gehört seine Entscheidungsfähigkeit, die Freiheit zu wählen und Nein zu sagen. Nur die eigenen Fragen, nur die eigenen Lösungen des Kindes machen es zu einem Zeitgenossen, zu einem menschlichen Weltwissenden. Ausgesetzt auf der Datenautobahn geht das Kind ein. Wissen ist immer persönliches und soziales, subjektgebundenes Wissen.

Diese gattungsspezifische, diese zeitgenössische Entwicklungsaufgabe begriffen zu haben, heißt alles für das Kind Geplante mit einem Vorbehalt versehen. Ein pädagogisches Zögern, die Skepsis gegenüber Belehrung und Verschulung, ein leise ironisches Verhältnis zur Pädagogik überhaupt, das ist ein Erbe des 20. Jahrhunderts, des »Jahrhunderts des Kindes«. Die Traumstraßen und Irrwege des 20. Jahrhunderts auf der Suche nach idealen Kindheiten haben uns auch die Erkenntnis hinterlassen, dass Kinder nicht belehrbar sind. Sie können nur selber lernen. Die Frühlese-Trainingsprogramme der 70er Jahre haben die Kinder nicht intelligenter gemacht. Zum Ende des Jahrhunderts haben viele Erwachsene die Entwertung ihres Wissens erfahren, und sie müssen zweifeln an ihrem generationalen Wissensvorsprung. »Er sah, daß sein Kind ihm in vielem voraus war. Und er war der Zeit, der Gegenwart, dafür dankbar«, heißt es 1980 bei Peter Handke in der »Kindergeschichte«.3

Zwanzig Jahre später bemühen sich in einem Vortragssaal fünf Erwachsene vergeblich, einen Video-Beamer in Gang zu setzen. Hilfesuchend: »Ist hier vielleicht irgendwo ein Kind?«

Wie wird man solche Erkenntnisse integrieren bei der Unterstützung im Aufbau von Welt-Wissen? Im Kind die Kraft zu bestärken, sein eigener Lehrer zu sein, darum geht es. Wieviel Überlegung, Zeit, Energie fordert das jungen Erwachsenen ab, die selbst mit ihren Neuanfängen, ihrem eigenen Verlernen und Lernen zu tun haben!

Schleusen der Kultur

Was sollte ein Kind in seinen ersten sieben Lebensjahren erfahren haben, können, wissen? Womit sollte es zumindest in Berührung gekommen sein?

So fragen auch ganze Kulturen. Zumindest beantworten Gesellschaften die Frage faktisch durch das, was sie Kindern in ihrem ersten Lebensabschnitt ermöglichen oder verweigern. Die Organisation von Kindheit, die Gestaltung dieser Lebensphase eines Teils der Bevölkerung, ist eine gesellschaftliche Daueraufgabe. Durch welche Schleusen schicken Gesellschaften ihre Kinder weltwärts?

Kinder sind ein Schlüssel zum Verständnis eines Landes, nicht nur der Sitten einer Gesellschaft, sondern auch ihrer kollektiven Intelligenz, ihrer Zukunftsfähigkeit. Was wird investiert in die frühen Jahre jeder Generation – wieviel Fürsorge, in Form von Zeit, Phantasie, Geld sind sie den Erwachsenen wert? Welche Freiheiten gestatten sie den Heranwachsenden, bei welchen Gelegenheiten dürfen sie Nein sagen?

Die psychologischen Wissenschaften vom Kind und die sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung haben bisher noch nicht viel zur Selbsterkenntnis im internationalen Vergleich beigetragen. Die Indikatoren sind noch zu grob. Man erhebt zwar weltweit die Quoten der Säuglingssterblichkeit, und man weiß etwas über die Familienformen, in denen Kinder zwischen Kalkutta, Kalifornien und Kenia aufwachsen. Aber wie zum Beispiel teilen sich in verschiedenen Gesellschaften die Generationen den Raum? Den Raum innerhalb der Wohnungen, den Raum in den Städten? Wieviel Raum wird Kindern in öffentlichen Diskursen, in den Medien, zugestanden – sind Kinder vor allem ein Frauenthema, etwas für die Wochenendbeilage, oder ein Thema für die erste Seite, für die gute Sendezeit? Mit welchen kulturellen Phantasien werden die ersten Lebensjahre der Kinder besetzt: Dominieren Leistungserwartungen oder eher regressive Phantasien über eine spannungsfreie Oase, ein »Kinderparadies«? Wieviel Zeit, Mütter-Zeit, Beziehungs-Zeit, wird für Kinder aufgewendet, und was ist sie einer Gesellschaft wert, wird diese Zeit geachtet, wird sie vergütet? In welchem Ansehen stehen diejenigen, die sich beruflich mit Kindern beschäftigen – gilt ihr Beruf als attraktiv oder eher als »zweite Wahl«?

Für solche Filter in den Kulturen des Aufwachsens fehlen uns vergleichende Untersuchungen. Eine Zukunftsaufgabe.

Bildungsauftrag

Was sollte ein Kind in seinen ersten sieben Jahren erfahren haben, können, wissen? Womit sollte es zumindest in Berührung gekommen sein?

So fragt auch die Berufsgruppe der Erzieher in Kindergärten. So umfassend fragt sie noch nicht lange, erst seitdem eine neue Bildungsdiskussion allmählich mehr Aufmerksamkeit auch auf die frühen Jahre lenkt.

Seit 1996 hat jedes in Deutschland lebende Kind ein Recht auf einen Kindergartenplatz. Ab dem Alter von spätestens vier Jahren gilt nun jedes in Deutschland lebende Kind als »Kindergartenkind«.

Rund 4.000 wache Stunden verbringen Kinder heute vor dem Schuleintritt in einem Kindergarten. In diesen Stunden sollen sie ausdrücklich mehr als nur »betreut« werden: Das Kindergartengesetz von 1996 formuliert einen Bildungsauftrag an alle Kindergärten. Damit ist die historische Trennung in verschiedene Typen von Kindergärten – Betreuung von Kindern, während die Mütter in der Fabrik oder auf dem Feld arbeiten einerseits, Anregung und Bildung der Kinder in ausgesuchten Kindergärten gegen höhere Gebühr oder über unbezahlte Mitarbeit von Müttern andererseits –, diese Trennung, die immer eine Klassentrennung war, überwunden, zumindest vom Anspruch her. Seit das Kindergartengesetz in Kraft getreten ist, gibt es keinen Trägerverband, keine Fortbildungsakademie, die diesem neuen »Bildungsanspruch an die frühen Jahre« nicht jährlich mehrere besorgte Tagungen widmet.

Erzieher sind in Deutschland keine verwöhnte Berufsgruppe. In den vergangenen 30 Jahren haben sich die Beschäftigten in diesem Berufsfeld vervierfacht. Aber am Status der Erzieherinnen – zu 95% sind es Frauen – hat sich nichts geändert, sie verdienen bestenfalls zwei Drittel des Gehalts von Grundschullehrerinnen, und ihre Ausbildung an Fachschulen, fern von Kunst und Wissenschaft, macht es ihnen unmöglich, in einem anderen europäischen Land zu arbeiten. Deutschland bildet, was den Status der Erzieherausbildung angeht, mit Österreich das Schlusslicht der europäischen Länder. In den Beruf der Kindergärtnerin lenkt man junge Frauen, die keine guten Erfahrungen mit dem Lernen gemacht haben. Die Bildungsexpansion, die gestiegenen Quoten von Abiturientinnen haben dem Berufsfeld viele selbstbewusste, unternehmungslustige junge Frauen entzogen.

Kindheit war im 20. Jahrhundert einige Male ein Hoffnungsthema, es mobilisierte Visionen und Energien weit über die unmittelbar mit Kindern Beschäftigten, wie Eltern und Erzieher, hinaus. Der letzte große historische »Kindheitsaufbruch« in diesem Sinne waren die Jahre nach 1968.

Viele der heute in Politik und Medien Erfolgreichen haben in den 70er Jahren in Kinderläden gearbeitet. Es gab damals diesen fast intuitiven Konsens: Um den autoritären Charakter, wie ihn Nationalsozialismus und 50er Jahre hervorgebracht haben, zu überwinden, muss man im Kindergarten anfangen. Ein demokratischer Charakter kann nur in frühen Jahren sozial und psychologisch grundgelegt werden.

Der Umgang mit Kindern wurde liberaler, andere Themen gelangten in den Horizont ihres Aufwachsens. In den 80er Jahren jedoch erlahmte die reformerische Energie. Um Kinder und Kindheit wurde es stumm. Als Rentenverdiener war noch von ihnen die Rede, von den immer weniger werdenden Kindern und Rentenverdienern. Darüber hinaus zogen Kindheit und Kinder wenig Phantasie auf sich. Eine soziale Minderheit, um die sich die Angestellten in den sozialen Berufen schon kümmern würden. In der westdeutschen Fachszene der Kindergärten ging es in den 80er Jahren vor allem um »Betreuung« auf »Betreuungsplätzen« mit »bedarfsgerechten Öffnungszeiten« – während die Mütter arbeiteten oder studierten.

Das Interesse verlagerte sich von den Kindern auf die Frauen. »Vereinbarkeit von Familie und Beruf« war die Devise. Der Kindergarten – ein Dienstleistungsbetrieb.

In der Fachdiskussion der Berufserzieher in diesen Jahren ging es vorwiegend um »Rahmenbedingungen der Kinderarbeit«. Unsinnlich bis in die Sprache hinein, hießen Kindergärten fortan »Einrichtungen«, in denen »bedarfsgerecht betreut« werden sollte, mit der »Elternschaft« wurden »Betreuungsansätze« und »Öffnungszeiten« gemäß deren »Erwartungshaltung« »ausgehandelt«, und den Kindern im Kindergarten begegnete man nicht mehr in Räumen, sondern in »Räumlichkeiten«. Erträglich für die Kinder sollte ihre betreute Unterbringung allerdings sein, soviel wollte man in einem reichen Land verlangen können. Der Kindergarten sollte vor allem ein spannungsfreies und ein unterhaltsames Milieu sein. Lernen, wenn überhaupt, sollte spontan, unbemerkt zustande kommen. Erwartungen an Begegnungen mit Kunst und Wissenschaft wurden auf spätere Jahre verschoben. Die Erzieherinnen hatten da nichts beizutragen, sie waren fürs Soziale zuständig. Lernen, Bildung wurden gleichgesetzt mit »Leistungsanspruch«, und diesen nicht »vorzuziehen« galt als die besondere Aufgabe von Erziehern. »Kreativ«, »gewaltfrei«, waren die Stichworte. Wenig Zukunftssorgen scheint man sich um Kinder in den 80er Jahren gemacht zu haben, in diesen Jahren der Wachstumsgewissheit der alten Bundesrepublik, den Jahren mit der niedrigsten Arbeitslosenrate der deutschen Geschichte.

Die Kindheit nicht verschulen! Noch heute entwerfen Erzieherinnen in ihren Zukunftsszenarios bevorzugt Rückzugsecken, geschützte Raumebenen in Kindergärten mit gedimmertem Licht, snoezle rooms, Klangmulden, Duftkojen, gepolsterte Nester, Hängematten … Beruhigungspädagogik, Freizeitpädagogik. Dagegen: das Kind als Forscher, Erfinder, stimuliert durch Schreibecken, Werkbänke, Exploratorien – in diese Richtung gehen die Entwürfe noch selten. Und doch ist die Berufsgruppe in Bewegung und sucht: wie den neuen Bildungsauftrag verstehen? Die jungen Eltern – selbst noch aufgewachsen im leistungskritischen Klima der 80er Jahre – haben in ihrer Ausbildung und am Arbeitsplatz den Übergang von der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft längst erfahren. Die rapiden Umwälzungen der Alltagsgewohnheiten beschäftigen die Erzieher genauso wie die Eltern ihrer Kindergartenkinder. Man hat auch gehört, dass in internationalen Vergleichsstudien das deutsche Bildungswesen schwach abschneidet. Ein neues Kindheitsbild, ein neues Selbstbild der Erzieher ist im Entstehen: »Lernen zu lernen« – wie kann das aussehen in den viertausend Stunden?

Die deutsche akademische Elementarpädagogik kommt den 400.000 Erzieherinnen bei ihrer Suche nicht zur Hilfe. Mit einer Hand voll Lehrstühle führt die Pädagogik der frühen Kindheit in Deutschland ein Schattendasein. Selbst wenn man nicht alles Heil von akademischer Pädagogik erwartet: Es gibt in diesem Feld kaum Dissertationen, Kongresse, keine Habilitationen, in den Bibliotheken fehlen internationale Zeitschriften. Man kann deshalb in Deutschland auf breiter Ebene bisher nur wenig lernen von guter Praxis in anderen Ländern. Von den Early Excellence Centers in England etwa, von der Reggio-Pädagogik in Italien, von den Projekten zum emergent curriculum (Curriculumforschung für den Elementarbereich) in den USA, von der sorgfältigen Kleinkindpädagogik in Japan wissen nur wenige. Die deutsche elementarpädagogische Szene ist abgeschnitten von solchen Anregungen, sie kennt mehr oder weniger nur sich selbst.

961,67 ₽
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9783888978135
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