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Dominique Manotti
MARSEILLE.73
Aus dem Französischen von Iris Konopik
Ariadne 1247
Argument Verlag
Impressum
Titel der französischen Originalausgabe: Marseille 73
© Éditions Les Arènes, Paris, 2020
Deutsche Erstausgabe
Alle Rechte vorbehalten
© Argument Verlag 2020
Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg
Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020
www.argument.de
Umschlag: Martin Grundmann, unter Verwendung einer alten Postkarte
Lektorat: Else Laudan
ISBN (Buch) 978-3-86754-247-0
ISBN (Epub) 978-3-86754-836-6
ISBN (Mobi) 978-3-86754-837-3
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung
Prolog
Mittwoch, 15. August
Montag, 20. August
Dienstag, 21. August
Mittwoch, 22. August
Donnerstag, 23. August
Freitag, 24. August
Sonntag, 26. August
Montag, 27. August
Dienstag, 28. August
Mittwoch, 29. August
Donnerstag, 30. August
Freitag, 31. August
Samstag, 1. September
Sonntag, 2. September
Montag, 3. September
Dienstag, 4. September
Mittwoch, 5. September
Donnerstag, 6. September
Freitag, 7. September
Samstag, 8. September
Sonntag, 9. September
Montag, 10. September
Dienstag, 11. September
Mittwoch, 12. September
Donnerstag, 13. September
Freitag, 14. September
Samstag, 15. September
Sonntag, 16. September
Montag, 17. September
Dienstag, 18. September
Mittwoch, 19. September
Donnerstag, 20. September
Freitag, 21. September
Samstag, 22. September
Montag, 24. September
Dienstag, 25. September
Mittwoch, 26. September
Donnerstag, 27. September
Freitag, 28. September
Samstag, 29. September
Sonntag, 30. September
Montag, 1. Oktober
Dienstag, 2. Oktober
Mittwoch, 3. Oktober
Donnerstag, 4. Oktober
Freitag, 5. Oktober
Samstag, 6. Oktober
Sonntag, 7. Oktober
Montag, 8. Oktober
Liste der Protagonisten
Die Polizei in Marseille.73
Nachbemerkung
Dank
Glossar
Vorbemerkung
Willkommen zu einem Abstecher in die Geschichte des Rassismus. Während die Côte d’Azur in der Sommersonne glitzert, das Werftgelände in La Ciotat vom Arbeitslärm widerhallt, der Duft von Couscous durch die Gassen von Marseille zieht und im alten Hafen versenkte Leichen auftauchen, liegt die militante Kolonialpolitik Frankreichs kaum mehr als ein Jahrzehnt zurück. Pieds-Noirs, Algerienheimkehrer, finden sich in allen Strukturen der Stadt und reiben sich an der Anwesenheit maghrebinischer Arbeitskräfte. In der Polizeizentrale Évêché tobt ein Kleinkrieg zwischen den Etagen, chauvinistische Seilschaften mauscheln und verwalten ihre Pfründe. Doch auch die Gegenseite schläft nicht …
Commissaire Théo Daquin ist der lange Arm Dominique Manottis, mit ihm greift sie in die Vergangenheit und knöpft sich die Gemengelage vor, die in Frankreich den radikalen Nationalismus zur Blüte trieb. Im Spannungsfeld schwelender sozialer Konflikte, selbsternannter Scharfrichter und mehr oder weniger subtil hetzender Medien muss Daquin mit seinen Inspecteurs alle Register ziehen, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Der politisierten Leserin drängen sich bei der Lektüre Parallelen zu Ermittlungspannen um die NSU-Morde auf, und das ist nicht die einzige schmerzhafte Aktualität in diesem historischen Roman policier. Manotti erweckt die sich bekriegenden Interessen zum Leben, gießt sie in Figuren, deren Treiben und Streben sich zu einem fesselnden Ermittlungsthriller fügt, zutiefst noir, hochpolitisch und so rasant wie sinnlich. Großes Kino. Else Laudan
Ein Personenverzeichnis sowie eine Erläuterung zur Organisation der Marseiller Polizei 1973 hat Dominique Manotti diesem Roman nachgestellt. Wir haben für deutsche Leser*innen ein Glossar mit Begriffen, Organisationen und Abkürzungen ergänzt (im Text fett markiert).
Prolog
1973. Grasse, reizendes provenzalisches Städtchen mit seinen Blumen, seinen Düften, seinen dreißigtausend Einwohnern und knapp tausend zugewanderten Arbeitskräften, häufig aus Tunesien, Landarbeiter, Bauarbeiter, allesamt Schwarzarbeiter.
Im Herbst 1972 beschließt die französische Regierung, die migrantische Bevölkerung strenger zu kontrollieren als bisher. Der Runderlass Marcellin-Fontanet verlangt, dass Einwanderer, die sich in Frankreich niederlassen wollen oder dort bereits ansässig sind, einen Arbeitsvertrag und eine »anständige« Wohnung vorweisen müssen, ehe sie eine Aufenthaltserlaubnis erhalten und so »legalisiert« werden. Damit wechseln 86 Prozent der Immigranten in Frankreich von der Rubrik »Schwarzarbeiter« in die Rubrik »illegale Arbeitskräfte« und bilden von einem Tag auf den anderen eine neue Kategorie, die der »Sans-Papiers«, der »Illegalen«: ab Sommer ’73 Abschiebekandidaten.
Als der Termin näherrückt, an dem das Gesetz in Kraft treten soll, wirft sich die nationalistische rechtsextreme Bewegung Ordre nouveau in die Bresche, die die Regierung geschlagen hat, und lanciert am 9. Juni 1973 die landesweite Kampagne »Stoppt die wilde Einwanderung«.
In Grasse wie andernorts fühlen sich die eingewanderten Arbeiter bedroht. Sie haben weder Arbeitsvertrag noch anständige Unterkunft. Am 11. Juni 1973 halten sie in der Altstadt, wo viele von ihnen in Bruchbuden leben, eine Versammlung unter freiem Himmel ab und beschließen, am nächsten Tag für Arbeitsverträge und anständige Unterkünfte zu streiken. Über Nacht bedecken sich die Mauern der Stadt mit Schwarzweißplakaten, der Slogan »Stoppt die wilde Einwanderung« trägt den Stempel des Ordre nouveau.
Viele folgen dem Streikaufruf für den 12. Juni, zwei- bis dreihundert Streikende versammeln sich am Morgen vor dem Rathaus von Grasse. Sie verlangen, dass der Bürgermeister eine Delegation empfängt, die ihm ihre Forderungen vortragen soll.
Statt die Delegation zu empfangen, ruft der Bürgermeister die Feuerwehr, lässt die Arbeiter mit Wasserwerfern auseinandertreiben und fordert zur Verstärkung die Bereitschaftspolizei CRS (Compagnies Républicaines de Sécurité) an.
Am Nachmittag schlendern Gruppen von Streikenden durch die Altstadt, wo viele von ihnen wohnen, und diskutieren. Gegen 16 Uhr gehen die CRS-Truppen mit Schlagstöcken heftig gegen sie vor, die Handwerker und Händler von Grasse bewaffnen sich mit Knüppeln und schließen sich den CRS an. Die Jagd auf Immigranten bis in die Häuser hinein dauert den ganzen Abend und einen Teil der Nacht. Bilanz: fünf Schwerverletzte, zweihundert Verhaftungen.
Am nächsten Tag gründen die Einwohner von Grasse ein »Wachsamkeitskomitee der Händler und Handwerker«, dessen erklärtes Ziel lautet: »die tausende Müßiggänger loswerden, die dem guten Ruf der Stadt schaden«.
Der Bürgermeister (ein Politiker der Mitte) verkündet der einberufenen Presse: »Diese Demonstrationen von Immigranten sind absolut skandalös und stören die öffentliche Ordnung. Es ist nicht minder skandalös, dass sie nicht mit größerer Härte niedergeschlagen werden.« Er fügt hinzu: »Es ist wirklich unerträglich, wissen Sie, so von ihnen überschwemmt zu sein.«
L’Express, seinerzeit das wichtigste überregionale Nachrichtenmagazin, berichtet über die Ereignisse unter dem Titel: »Die Hexen von Grasse. Etwas Folgenschweres ist im Entstehen begriffen, und es trägt einen Namen: Rassismus.«
Mittwoch, 15. August
Freier Tag für Commissaire Théodore Daquin. Sein erster seit Anfang August. Als jüngstem Commissaire und letztem Neuzugang in der Brigade Criminelle, der Einheit für Schwerverbrechen, hat man ihm während der Urlaubszeit, zwischen dem Weggang des alten Chefs, der Ende Juli wegen Inkompetenz gefeuert wurde, und der für den 20. August geplanten Ankunft des neuen Chefs, die Leitung des Bereitschaftsdiensts aufgebrummt. Er arbeitet im Tandem mit Inspecteur Principal Michel, einem alten Hasen, der schon mit einem Bein im Ruhestand ist. Eintönige Arbeit zwischen einer halbkomatösen Behörde und einer Stadt unter Spannung.
Er hat es sich in einem Liegestuhl auf seinem Balkon bequem gemacht, mit einer Tasse Espresso und einem guten Buch, Der Tag der Eule von Sciascia. Palermo-Marseille, Parallelen, Unterschiede. Noch nicht die große Hitze, der Vieux-Port zu seinen Füßen, Notre-Dame-de-la-Garde gegenüber, weiß vor einem riesigen blauen Himmel. Lass los, vergiss die Stadt am Rande des Nervenzusammenbruchs, genieß den Augenblick.
Telefonklingeln. Er steht knurrend auf, hebt ab.
»Théo?« Die Stimme von Vincent.
»Bist du schon aus dem Urlaub zurück?«
»Ja. Meine Kanzlei hat mich gestern Abend angerufen, Schlägerei mit Schusswechsel zwischen Kleinganoven, ein Toter, eine schöne Gelegenheit, mich zu bewähren, meine Karriere wird durchstarten, wenn ich erfolgreich bin. Ich habe mich verführen lassen und bin gestern Nacht zurückgekommen. Lädst du mich für heute Abend zu dir zum Essen ein?«
»Einverstanden, aber es gibt Vorratskost, ich improvisiere mit dem, was ich dahabe, ich habe absolut keine Lust, einkaufen zu gehen.«
»Das wird perfekt, wie immer. Ich muss Schluss machen, ich hab zu tun, bis heute Abend.«
Daquin legt auf. Vincent, ehemaliger Kommilitone von der Pariser Jurafakultät, in den Jahren, als ihre Generation den Sittenaufstand probte und einige, darunter Daquin, Vincent, viele ihrer Freunde, das Glück entdeckten, zu ihrer Homosexualität zu stehen. Nicht an der Jurafakultät, zu traditionalistisch als Milieu, aber Paris bot so viele andere Gelegenheiten …
In Marseille sieht das anders aus. Vincent, der im Begriff ist, sich als Anwalt in einer auf die Verteidigung von Gangstern spezialisierten großen Kanzlei der Stadt zu etablieren, ein sicheres und angesehenes Berufsfeld, legt Wert darauf, sich nicht zu kompromittieren, und behandelt ihre Liebesaffäre mit höchster Diskretion. Er hat Daquin lang und breit erklärt, dass ein junger Commissaire von siebenundzwanzig, obendrein Pariser, in Marseille seine Homosexualität nicht öffentlich zeigen, nicht einmal erahnen lassen darf, andernfalls wird er aus der Polizei und der Stadt verstoßen. Deshalb unterhalten die beiden Männer eine heimliche, episodische, lauwarme und bequeme Affäre, während sie auf bessere Zeiten warten. Heute Abend wird er Vincent wiedersehen, er fühlt sich mit einem Mal wie unter Hausarrest. Frustrierend.
Er geht zurück zum Balkon, um wieder in sein Buch abzutauchen. Stopp, Warnlicht. Vincent, auf die Verteidigung von Großgangstern spezialisierte Kanzlei, »gestern Abend Schlägerei, Kleinganoven, ein Toter, schöne Gelegenheit, meine Karriere wird durchstarten«, er selbst hat nichts davon gehört, da ist etwas faul … Neugier. Das ist immerhin mein Job, selbst im August … Er greift nach dem Quotidien de Marseille, der auf dem Couchtisch liegt und den er fest vorhatte nicht zu lesen, blättert darin. Wie es sich für das Wochenende vom 15. August gehört, war gestern nichts los. Oder fast nichts. Auf Seite 2 (bedeutsamer als die Lokalnachrichten auf Seite 5) unter der Überschrift »Zoff in Vallon des Tuves«:
»Auslöser für die Prügelei war eine junge Frau … Es fielen Schüsse … Ein Toter, ein Verletzter … beide gebürtig aus Algerien …«
Vincent und seine Kanzlei sollen sich für diese Geschichte interessieren? Unendlich unwahrscheinlich. Aber dann, in der letzten Zeile des Artikels: »… der Chef der Sûreté ist am Tatort.« Man fährt so schweres Geschütz auf wegen einer Prügelei unter Nordafrikanern um ein Mädchen? Ganz sicher nicht. Steckt also etwas anderes dahinter? Vincents Einsatz bei diesem Fall rückt wieder in den Bereich des Möglichen.
Er ruft Inspecteur Michel an, der die Tagesbereitschaft allein sicherstellt. Ja, er ist über Vallon des Tuves auf dem Laufenden, ja, er hat den Staatsanwalt erreicht, nein, nichts für uns, eine Schlägerei zwischen rivalisierenden Banden mit bösem Ende, der Staatsanwalt und der Chef der Sûreté haben sich darauf geeinigt, die Sûreté mit der Ermittlung zu beauftragen. »Du kannst weiterfaulenzen.«
Unnötig, heute ins Zentralkommissariat im Évêché zu gehen, ich werde nicht mehr in Erfahrung bringen. Vincent wird später nicht widerstehen können zu plaudern, sich wichtig zu machen … Er versenkt sich wieder in die Lektüre vom Tag der Eule.
Vincent kommt gegen Abend, eine Flasche Champagner in der Hand. Die Männer setzen sich auf den Balkon und köpfen die Flasche. Vincent erzählt von seinem Urlaub auf den Balearen, Daquin hört nicht zu, betrachtet ihn. Ein schöner Mann. Er erinnert sich an ihren ersten Sex. Nicht in Paris, sondern in Marseille, das Treffen begann auch da auf dem Balkon bei einer Flasche Champagner. Er spürt wieder die Wonne der ersten Berührung des mageren, starkknochigen Gesichts, des muskulösen Körpers ohne einen Hauch Fett, des hübschen Hinterns. Er weiß, dass diese tief unter den vorstehenden Brauenbögen liegenden blauen Augen grau werden, wenn die Begierde wächst. Daquin liebt das Vergnügen, den Körper wiederzuentdecken, den seine Hand schon gestreichelt hat, die Empfindungen, die ihn zum Beben gebracht haben. Schätze dies Vergnügen nicht gering, Théo. Vergiss nicht, du bist für die Einsamkeit nicht gemacht. Er trinkt den Champagner aus, steht auf.
»Ich koche uns ein Spaghettigericht. Ich brauche eine Viertelstunde.«
»Vor oder nach der Liebe?«
»Dieselbe Frage hast du mir bei unserer ersten Verabredung vor sechs Monaten gestellt …«
»Und du hast geantwortet …«
»Erst die Liebe, dann das Kochen.«
Zwei Stunden später sitzen sie zusammen vor einer Schüssel Spaghetti mit Knoblauch, Piment und Olivenöl. Vincent ist euphorisch.
»Diese Spaghetti, die Krönung eines goldenen Tages.«
»Vallon des Tuves lässt sich gut an?«
Vincent schreckt auf. »Der Staatsanwalt sagte, er würde nichts verlautbaren …«
»Gerüchte verbreiten sich schnell im Haus. Aber ich dachte, du interessierst dich nur für die Verbrecherelite.«
»Die Verbrecherelite hat auch Handlanger, die sich in ihrer Freizeit zu Dummheiten hinreißen lassen, und ich wiederum muss mich bewähren.«
Noch ein Glas Côtes-du-Rhône, und Vincent geht etwas mehr aus sich heraus: »Das Schwierigste für mich ist, meinen Klienten zu einem Schuldbekenntnis zu überreden. Die Leute in der Gegend kennen ihn, haben ihn wiedererkannt, ihn schießen sehen, und er besteht darauf, irgendwelchen Unsinn zu erzählen. Wenn er sich vor dem Schwurgericht in Aix schuldig bekennt, erwirke ich mildernde Umstände für ihn. Mein Klient stand drei Arabern gegenüber, als er geschossen hat. Drei Araber auf einem Haufen, das macht Angst, alle Geschworenen werden dem zustimmen. Also Notwehr und Bewährung. Und das wäre eine hervorragende Visitenkarte für meine künftige Karriere.«
Eine Verteidigung, die stinkt und wahrscheinlich funktioniert. »Deine Karriere … Weißt du noch, dass wir dich an der Uni den idealen Schwiegersohn nannten?«
Vincent verzieht das Gesicht, böse Erinnerung an erlittene Schikanen.
»Wir hatten recht. Karrieretechnisch gebe ich dir einen Rat: Verheirate dich. Schleunigst.«
Montag, 20. August
Daquin durchquert das Panier-Viertel und steigt in der herrschenden Hitze hinauf zum Évêché. Seine Inspecteurs kommen heute aus dem Urlaub zurück, und der neue Chef der Brigade Criminelle rückt an. Der Betrieb nimmt wieder Fahrt auf. Er läuft schnell und erreicht den Vorplatz der Kathedrale. Das Meer ist da, sich immer gleich, glitzernd in der Sonne, zudringlich. Es hinterlässt einen scharfen Geschmack auf seinen Lippen. Er wendet sich um. Vor ihm die kantige, massige Silhouette des ehemaligen Bischofspalasts, klassische Architektur, die den Neubau verdeckt, einen Kubus aus Beton und Glas, der zur Vergrößerung des Zentralkommissariats errichtet wurde. Die geordnete, klassische Fassade bildet einen auffallenden Kontrast zur Struktur des Innenraums, einem Labyrinth aus endlosen Fluren, Sackgassen, Treppen, die von einem Gebäude ins andere führen, überall fahles Licht, der Geruch nach schmutzigem Staub. Da ist ein untergründiger Gleichklang zwischen der Anlage der Gebäude und der Architektur der Machtnetzwerke, die darin ansässig sind, haufenweise offizielle, halboffizielle, geheime, mafiöse Gestalten, Garanten einer allgegenwärtigen Macht und Überwachung hinter der Fassade von Polizeiapparaten, die beinahe beruhigend, weil althergebracht sind. Zum ersten Mal sieht Daquin den Évêché als kohärentes Universum.
Genug getrödelt, er nimmt einen tiefen Atemzug und betritt das Gebäude.
Die Teamchefs der Brigade Criminelle sitzen um den Besprechungstisch. Commissaire Principal Percheron betritt den Raum. Mitte vierzig, breite Statur, wenn nicht leicht klobig, fleischiges Gesicht, schwarze Augen, schwarzer Bürstenschnitt. Er setzt sich, stellt sich in aller Kürze vor: »Vor meiner Berufung an die Spitze der Marseiller Brigade Criminelle war ich bei der in Montpellier. Wir hatten ein paar gemeinsame Dossiers, bestimmten Fällen werde ich hier wiederbegegnen.«
Dann kommt er zur Sache. »Ich habe eine großartige Woche mit der Führung der Marseiller Kriminalpolizei verbracht, um mich mit den aktuellen Fallakten vertraut zu machen. Seien wir ehrlich miteinander. Ehrlichkeit innerhalb der Abteilung, untereinander, ist ein wesentlicher Grundsatz, und ich werde ehrlich mit Ihnen sein. Ich bin hier, weil die Brigade Criminelle in der Krise ist. Man muss gar nicht bis zum Frühjahr ’72 zurückgehen mit der Ermordung eines unserer besten Ermittler durch einen immer noch flüchtigen Gangster – die Brigade Criminelle hat gerade das Fiasko im Mordfall Jeremy Cartland in Pélissanne erlebt. Ich will jetzt nicht die ganze Affäre nochmals ausbreiten. Aber ich rufe Ihnen in Erinnerung, wie sie endet: Scotland Yard kreuzt bei uns auf, um die Ermittlung von vorn aufzurollen, unsere Regierung duldet diese Einmischung, und zu guter Letzt spricht die englische Justiz den Cartland-Sohn, unseren mutmaßlichen Täter, frei. Unsere Abteilung wurde in ihren Grundfesten erschüttert. Wir werden unsere Glaubwürdigkeit wiederherstellen, ich vertraue Ihnen, vertrauen Sie mir.«
Daquin, der Percheron gegenübersitzt, stellt fest, dass der Funke nicht überspringt. Er empfindet keine Wesensverwandtschaft, mehr noch, er verspürt spontan tiefes Misstrauen. Es ist immer ein schlechtes Zeichen, wenn ein Chef mit seiner Ehrlichkeit als Kardinaltugend hausieren geht und von seinen Untergebenen Vertrauen einfordert.
Jeder berichtet über den Stand seiner aktuellen Fälle. Dann ergreift Percheron wieder das Wort.
»Vergangene Woche bei unserem Gedankenaustausch hat der Direktor betont, wie wichtig der Susini-Prozess ist, der Anfang 1974 vor dem Schwurgericht von Aix-en-Provence stattfinden soll. Und er hat mich überzeugt. Susini und acht Komplizen sind angeklagt, die Stadt Marseille zwischen 1969 und ’70 mit einer wahren Schwemme schwer bewaffneter Raubüberfälle überflutet zu haben, jedes Mal mit erheblicher Beute. Wir haben in Marseille eine sehr starke Gemeinde von rund einhunderttausend Pieds-Noirs, die Algerien bei Kriegsende, also bereits vor über zehn Jahren, Hals über Kopf verlassen haben und immer noch voll Nostalgie in der Erinnerung leben. Und in dieser Erinnerung spielt Susini eine zentrale Rolle. 1961, gegen Ende des Algerienkrieges, da ist er noch sehr jung, lehnt er es ab, dass Frankreich die algerische Unabhängigkeit anerkennt und damit sein Algerien, Französisch-Algerien, verrät. Er greift zu den Waffen, um es zu verteidigen, gründet mit einigen Gleichgesinnten eine geheime Untergrundorganisation, die OAS, die mit Bombe und Gewehr die Verräter in der französischen Armee und die algerischen Feinde gleichermaßen attackiert. Für die Pieds-Noirs sind sie romantische Helden. Der Algerienkrieg und der Krieg der OAS enden mit einem Blutbad und dem überstürzten Exodus von neunhunderttausend Europäern, aber die Pieds-Noirs, jedenfalls viele von ihnen, nehmen Susini das nicht übel, sie vergessen das Blut und bewahren die Erinnerung an einen gemeinsamen Traum, eine Art herzliche Verbundenheit, Brüderlichkeit, selbst dann noch, als die OAS in Algerien jede Hoffnung aufgeben muss und ihre Attentate und Morde noch jahrelang auf französischem Boden fortsetzt, diesmal gegen die Regierung, die sie verraten hat. Und der Prozess gegen Susini und seine Bande wird vor den Augen der gesamten Pied-Noir-Gemeinde von Marseille stattfinden. Der Direktor hat recht, wir müssen für einen reibungslosen Ablauf sorgen. Inspecteur Benoit und Inspecteur Varin waren an der Verfolgung und Verhaftung der Bande beteiligt, sie kennen das Dossier gut, aus erster Hand. Ich schlage vor, dass wir ihnen die Prozessvorbereitung übertragen …«
Einhellige Zustimmung.
»Wir brauchen einen sehr ruhigen Prozess. Keine Ausschreitungen in der Bevölkerung, Zeugen, die ihre Aussagen gut vorbereitet haben, keine Patzer, und deren persönliche Sicherheit gewährleistet ist. Bei Soldaten auf verlorenem Posten weiß man nie … Hier kann man gern noch eine Schippe drauflegen. Und bei alledem die Presse gut pflegen. Ziel ist, dass jeder versteht: Die Helden sind wir, die wir die Gangster verfolgt, allesamt verhaftet und in der Stadt wieder für Ruhe und Ordnung gesorgt haben, und nicht die Susini-Bande, die ihren Krieg mit einer Serie von bewaffneten Überfällen besiegelt und in Geldgier versinkt. Wir werden Benoit und Varin jede erdenkliche Hilfe angedeihen lassen.«
Meinungsbild, einstimmig angenommen. Percheron macht weiter.
»Noch etwas anderes. Unsere Kollegen von der Regionaldienststelle in Toulon haben uns kontaktiert. Sie überwachen seit einiger Zeit die UFRA … Sind alle im Bilde? Nein? Die ›Vereinigung der französischen Algerienheimkehrer‹, eine Interessenvertretung der Pieds-Noirs, nicht die größte, aber die umtriebigste, mit Sitz im Departement Var und einer ausgeprägten Neigung zur Illegalität. Unseren Kollegen zufolge ist eine bewaffnete Gruppe aus dem UFRA-Umfeld bei einem Notar aufgetaucht und hat mit Waffengewalt die Versteigerung der schuldenhalber beschlagnahmten Habe eines ihrer Mitglieder verhindert. Einen Monat später traten sie erneut in Aktion, um die Zwangsräumung bei einem Pied-Noir-Landwirt zu verhindern, der seine Pacht nicht bezahlt hatte. Unsere Kollegen haben die Gelegenheit genutzt, um ein paar UFRA-Mitglieder wegen unerlaubten Waffenbesitzes zu verhaften, und während der Hausdurchsuchung bei einem von ihnen haben sie einen kompletten kleinen Chemiebaukasten gefunden, mit dem sich eine recht hübsche Bombe basteln lässt. Im aktuellen Kontext, nach den Ereignissen in Grasse und bei dem angespannten Klima in der Region, fürchten unsere Kollegen, dass es auf die eine oder andere Weise knallt. Der Staatsanwalt von Toulon hat entschieden, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. Und die Kollegen haben in den Adressbüchern der verhafteten Personen ein paar Marseiller Adressen gefunden, deshalb bitten sie uns, Verbindung aufzunehmen und Informationen auszutauschen. Ich weiß, dass mein Vorgänger sehr zurückhaltend war, was die Beziehungen zur Dienststelle in Toulon betrifft. Aber mir scheint, dass wir in der aktuellen Situation diese Anfrage nicht übergehen können. Daquin, ich dachte, Sie und Ihr Team könnten sich um dieses Dossier kümmern. Sie nehmen Kontakt auf und wir schauen zusammen, was sich möglicherweise daraus ergibt.«
Vorschlag akzeptiert.
Als die Sitzung beendet ist, nimmt der Chef Daquin mit in sein Büro und übergibt ihm die Kontaktdaten der Touloner Kollegen, bei denen er sich melden soll. In vertraulichem Ton fügt er hinzu: »Um deutlich zu sein. Wir unterstützen unsere Kollegen in Toulon im Rahmen des Ermittlungsverfahrens, das der dortige Staatsanwalt eröffnet hat, aber bis dato gibt es in Marseille keine Ermittlung. Wir müssen umso vorsichtiger sein, als ich mir habe sagen lassen, dass sich im Dunstkreis der UFRA Kollegen aus unseren Reihen befinden. Ich will keine Konflikte hier im Haus. Außerdem darf man diese UFRA-Leute nicht alle in einen Topf werfen. Gewisse Aktivisten drohen die Spannungen im Zusammenhang mit der Einwanderung aus Nordafrika zu verschärfen, indem sie auf Provokation und Gewalt setzen. Die muss man mäßigen. Andere können uns zukünftig helfen, diese spezielle Bevölkerungsgruppe, die uns bereits eine Menge Probleme bereitet, im Zaum zu halten. Diese Kollegen kennen die Immigranten gut. Ich möchte, dass Sie die Anfrage aus Toulon nutzen, um mir ein genaues Bild der UFRA hier in Marseille zu zeichnen. Wen müssen wir fürchten, auf wen können wir uns möglicherweise stützen. Sie sehen, es ist ganz einfach.«
»Ich sehe es und finde es nicht ganz so einfach, aber wir nehmen das umgehend in Angriff.«
Daquin trifft sich mit seinem Team, den Inspecteurs Grimbert und Delmas, in dem kleinen Büro auf der Etage der Kriminalpolizei, das sie sich zu dritt teilen. Zwei Männer, mit denen er seit seiner Ankunft in Marseille zusammenarbeitet, die er schätzt, denen er vertraut. Zwei sehr unterschiedliche Männer. Grimbert ist fünfunddreißig und hat bereits fünfzehn Jahre Berufserfahrung bei der Marseiller Polizei. Er ist in Malta geboren, das Produkt des unwahrscheinlichen Aufeinandertreffens eines Deutschen auf der Flucht vor dem Nazi-Regime und einer Malteserin. Die Familie kam unmittelbar nach Kriegsende nach Marseille, dann zog der Vater weiter. Grimbert ist also waschechter Marseiller, und seine Kenntnis des Terrains ist für das Überleben des Parisers Daquin unverzichtbar. Delmas, knapp fünfundzwanzig, ist vor sechs Monaten aus dem Südosten gekommen, zeitgleich mit Daquin, und versucht sich ins Metier einzuarbeiten, in die Stadt, das Leben. Das Wiedersehen nach dem zweiwöchigen Urlaub der Inspecteurs findet bei einem Espresso statt – Daquin hat gleich bei Dienstantritt die Anschaffung eines Espressokochers durchgesetzt – und ist herzlich.
Dann liefert er eine knappe Zusammenfassung der Besprechung. Die UFRA, die laufende Ermittlung in Toulon, die von der Touloner Kriminalpolizei durchgeführten Verhaftungen, mögliche, wahrscheinliche Komplizenschaften hier in Marseille, und nicht zu vergessen die Warnung von Percheron, im Dunstkreis der UFRA gebe es Polizisten aus unseren Reihen, deshalb Vorsicht, bloß keine Wellen.
»Grimbert, Sie müssen mir zwei Dinge erklären. Erstens, warum finde ich unseren neuen Chef nicht sympathisch?«
»Weil Sie einen guten Riecher haben, Commissaire. Percheron, dem bin ich auf seinem vorigen Posten in Montpellier begegnet, das ist eine effiziente und aalglatte Bestie, zu jeder Gewalt und jedem Manöver fähig, um in der Hierarchie aufzusteigen.«
»Also Obacht. Daraus ergibt sich meine zweite Frage. Warum schickt er uns auf diese wacklige Mission zwischen Toulon und Marseille, Beitrag zu einem Ermittlungsverfahren, aber nicht wirklich, folglich ziemlich halsbrecherisch?«
»Weil Sie Pariser sind und weil ich als Schutzpolizist angefangen habe, als Uniformierter bei der Police Urbaine, wo ich immer noch gute Kontakte habe, das weiß er, also misstraut er uns beiden, und wenn wir baden gehen, wäre er darüber nicht weiter traurig. Man muss auch die polizeiinternen Machtkämpfe zwischen Korsen und Pieds-Noirs bedenken, die sind verheerend. Wussten Sie, dass Percheron ein Pied-Noir ist?«
»Nein, woher sollte ich das wissen?«
»Ich schließe die Hypothese nicht aus, dass er uns Informationen über die UFRA sammeln schickt mit dem einzigen Zweck, innerhalb der Vereinigung gezielt Alliierte auszuwählen, um seinen Einfluss im Évêché zu festigen.«
»Verstanden. Machen wir trotzdem unseren Job?«
»Ja, Commissaire. Unsere Kollegen in Toulon haben nicht unrecht, der Algerienkrieg ist hier in der Region nicht zu Ende, das Feuer kann jederzeit wieder ausbrechen, und in Marseille steht es nicht gut. Wir werden unseren Job also so gut wie möglich machen.«
»Delmas?«
»Ich ziehe mit.«
»Sehr gut. Aber wir wollen nichts überstürzen, wir machen die Dinge der Reihe nach und so, dass wir die Kontrolle behalten. Um Fallen zu umgehen. Womit fangen wir an?«
»Wir haben nichts über die Marseiller Zweigstelle der UFRA. Wir müssen uns ein paar Informationen beschaffen, ehe wir die Touloner besuchen, sonst laufen wir Gefahr, dass man uns überfährt oder wir uns lächerlich machen.«
Daquin beauftragt Delmas, alle Informationen über die UFRA-Zweigstelle in Marseille zusammenzutragen, die in diversen Behördenakten, Pressespiegeln und anderweitig verfügbar sind, und dabei auch einen Blick in die Verbrecherkartei zu werfen. Und Grimbert wird versuchen, die »Polizisten aus unseren Reihen im Dunstkreis der UFRA« zu identifizieren, falls es sie gibt. Da er die Marseiller Polizei gut kennt, ruft er, bevor er in Aktion tritt, den Dicken Marcel an, um eine Verabredung zu treffen. Der Dicke Marcel ist eine Figur, deren Erlaubnis unabdingbar ist, will man sich in den Abteilungen der Police Urbaine bewegen. Er bestellt Grimbert für den nächsten Tag zum Mittagessen bei Étienne, ihrer gemeinsamen Kantine.