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Gudrun Fröba

eISBN 978-3-88747-401-0

Dietmar Sous

BODENSEE

Roman


Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

1

Wie jedes Jahr seit ungefähr dem Urknall fing auch 1962 mit dem 1. Januar an. Neujahr hätte als 1. Mai durchgehen können. Nur Wölkchen am Himmel, falls überhaupt, und Temperaturen, die Eis und Schnee zu Fremdwörtern machten.

Die Atombombenversuche der Amis und Russen seien schuld, sagte Vater, gelegentlicher Zeitungsleser und Nachrichtenhörer, und dass sich, wissenschaftlich absolut erwiesen, bei uns demnächst Wüsten, Kamele und an vierzig Grad im Schatten gewöhnte Mohammedaner breitmachen würden, außerdem Gestalten mit zwei Köpfen und drei kurzen Beinen. Mutationen im Atomzeitalter nennt man das, sagte Vater und schob das Kinn vor.

Ich wollte mithalten, beweisen, dass ich intellektuell auf dem grünen Zweig, nicht auf dem von Vater erhofften absteigenden Ast war. Mutation kommt aus dem Lateinischen, sagte ich. Mutare heißt wechseln, verändern.

Maulheld, Wichtigtuer, antwortete Vater so unvermittelt und aufgebracht, dass ich zusammenzuckte.

Er legte an Lautstärke noch einen Zahn zu.

Wer verdient denn hier das Geld? Der blöde Arbeiter oder der Herr Gymnasiast mit seinem ausgestorbenen Latein, das kein Mensch braucht?

Auch fünf Jahre, nachdem Leni mich gegen seinen Willen zur Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium angemeldet hatte, war er immer noch wütend. Er hätte mich nach der Volksschule gern auf einem Krawattenposten bei der Spar- und Darlehens- oder Krankenkasse gesehen, vielleicht sogar, wenn ich mich auf die Hinterbeine stellte, in einem warmen Vorzimmer der Stadtverwaltung.

Leni war das zu wenig. Das Abitur musste her, damit ich Architekt, Rechtsanwalt, Zahnarzt mit eigener Praxis und einem halben Dutzend adretter Helferinnen in strahlend weißer Uniform werden konnte. Nummer 1, nicht Nummer Nullkommanichts!

Enttäuscht, ja verbittert, nahm Vater meine Versetzungszeugnisse und die fehlenden Eiskunstlaufnoten bei Klassenarbeiten zur Kenntnis.

Ich persönlich wäre am liebsten Lebensretter geworden. Unfallopfer wiederbelebt, Nichtschwimmer unter Einsatz des eigenen Lebens eisigen Fluten entrissen, eine fünfköpfige Familie aus ihrem lichterloh brennenden Haus befreit. Hochdekoriert und dabei sympathisch bescheiden geblieben, so die Zeitungen unisono über mich. Leni würde die Artikel ausschneiden, rahmen lassen und im Wohnzimmer aufhängen, und Vater wäre stolz auf mich, auch wenn man es ihm kein bisschen anmerkte.

Leni war von den Mutationen des Atomzeitalters nicht im geringsten betroffen. Ihr Gesicht hätte auf die Titelseite der Revue oder Quick gepasst. Ihre Beine hörten gar nicht auf, so lang waren sie. Vater fehlten zwei, drei Zentimeter an Lenis Größe, dafür war er sieben Jahre älter und seine Muskulatur deutlich ausgeprägter. Die führte er in warmen Monaten im ärmellosen Unterhemd vor. Wenn ihm der Krieg nicht dazwischengekommen wäre, hätte aus ihm mit Sicherheit eine Sportskanone werden können, Ruderer, Gewichtheber, am liebsten Boxer, behauptete er gern. Jetzt nicht direkt ein Max Schmeling, fügte er um Bescheidenheit bemüht hinzu, aber für die Rheinland-Meisterschaft im Halbschwergewicht hätte es immer gereicht. Und mit den Westfalen wär ich auch fertig geworden! Vater ballte die Hände zur Faust, deutete einen Schwinger an, einen Lucky Punch, lächelte wie ein K.o.-Sieger in der ersten Runde.

Mit ihrer Sonnenbrille sah Leni aus wie die Filmschauspielerin Sophia Loren auf dem Plakat, das vor dem Kino in der Oberstadt hing. Aber nicht, um schick auszusehen, trug Leni dunkle Gläser. Sie wollte ihr rechtes Auge nicht zeigen. Das hatte einen dunkelblauen, teilweise ins Rötliche schillernden, geschwollenen Rand. Vater war am Silvesterabend die Hand ausgerutscht.

Versehentlich, wie er seitdem beteuerte.

Seine Nerven waren schon vor dem Ausrutscher durch Lenis Bitte strapaziert worden, eigenes Geld verdienen zu dürfen. Kellnern, Putzstellen oder am Fließband in der Fabrik, irgendwas. Als Leni dann ungefähr eine Stunde, bevor die Feuerwerksraketen in die Luft flogen, in der Quick blätterte und nebenbei sagte, der Schauspieler Curd Jürgens sähe wirklich unverschämt gut aus, hatte Vater endgültig genug. Da war es vorbei gewesen mit Gemütlichkeit, Keller Geister-Perlwein und unbeschwerter Radiomusik, mit Fleischwurst-Schnittkäse-Gewürzgurken-Häppchen, obendrauf der krönende Klecks Mayonnaise. Ehe es überhaupt angefangen hatte, war das neue Jahr eigentlich schon im Mülleimer, über Wupper, Jordan und Styx.

Außer dem immer noch falschen Wetter passierte am Morgen des dritten Januar Folgendes: nichts. Ich hatte Geburtstag, wurde fünfzehn, aber alle taten so, als sei es bloß ein hundsgemeiner Mittwoch.

Mein Tag der Tage war wegen des ungeschickten Datums nie das Fest der Feste gewesen. Nach dem Trubel im Dezember war abgesehen von mir niemand auf Hurra, Apfelkuchen mit Streusel und vor allem Bescherung erpicht. Aber bisher war man, wenn auch lethargisch, seinen elterlichen Pflichten nachgekommen und hatte irgendwas rausgerückt. Preisreduzierte, abgegriffene Nach-Weihnachts-Ware, und seit ich im zweistelligen Alter war, einen Fünfmarkschein. Geld, das mich für eine Stunde zum König machte.

Nun ließen sie mich nicht mal eine Zehntelsekunde regieren. Es gab keinen Schein und schon gar keine Jeans. Weihnachten war ich wenigstens noch vertröstet worden, angeblich hatte es Lieferschwierigkeiten gegeben. Erst hieß es, der wochenlange Streik der schwarzen Baumwollpflücker und Näherinnen in den Südstaaten der USA habe mir die Tour vermasselt, dann wollte man vom Hosenverkäufer gehört haben, das Schiff mit meinem Exemplar an Bord sei in einen Sturm geraten und südlich von Portugal gesunken. Stoff für einen Abenteuerroman. Wenn meine Rabeneltern so weitermachten, wurden sie noch zu heißen Anwärtern auf den Literatur-Nobelpreis.

Aber an diesem dritten Januar bemühten sie sich nicht mal um eine Ausrede.

Beim Frisör hatte ich in einer Illustrierten ein Foto von Marlon Brando gesehen, auf dem er ein weißes T-Shirt und Blue Jeans trug. Sich so in der Öffentlichkeit zu präsentieren, sei ein Unding höchsten Ausmaßes, stand empört und fettgedruckt darunter. Ich riss die Seite heimlich raus. Seitdem hing der skandalös gekleidete Schauspieler neben meinem Bett. Vater regte sich auf, stellte mir eine Frist, die er dann vergaß.

Leni küsste mich auf die Stirn, strich mir übers Haar. Sie versprach, einen Kuchen zu backen. Das Versprechen war eher eine Drohung. Leni hatte kein Händchen für die Konditorei, sie stand mit Hefe, Mehl und der richtigen Menge Zucker auf Kriegsfuß.

Abends zuvor hatte sich Vater bereits alle Mühe gegeben, mir sämtliche Geburtstagsflausen auszutreiben. Er erinnerte sich laut daran, wie er mit fünfzehn in der Fabrik schuften musste, 48-Stunden-Woche, Minimum.

Von wegen Gymnasium mit Gaius Julius, Sinus und Kosinus! Schläge und Tritte vom Vorarbeiter hatte es zum Geburtstag gegeben. Und nun war in der Firma die Krise ausgebrochen, obwohl sich alle krummgelegt und auf Lohnerhöhung verzichtet hatten. Entlassungen drohten, mickriges Stempelgeld. Die Zeit der großen Sprünge: vorbei.

Ich hätte schwören können, dass er mich reinlegen wollte. Hatte gehofft, er wollte meine Vorfreude klein reden, um dann umso größer auftrumpfen zu können. Mit Blue Jeans und einem Plattenspieler mit Radio kombiniert. UKW, Mittelwelle, alles. Die verdiente Entschädigung für den flauen Gabentisch am Weihnachtsabend: ein Etui mit Rasierutensilien und ein kratziger Pullover.

Havenstein, mein Nebenmann in der Klasse, hatte am 25. Dezember Geburtstag, auch er war Kummer gewöhnt, aber das tröstete mich nicht im geringsten. Ich ging in mein Zimmer, schloss mich ein, sah mich nach etwas um, das ich zerstören konnte. Das dämliche Kindersparschwein aus Ton musste dran glauben. Gute Wahl, meine Laune besserte sich sofort, als ich zwischen Scherben die Münzen und einen kleinen Schein sah. Wenn keiner was für mich übrig hatte, würde ich mich eben selbst beschenken. Ich steckte eine Handvoll Silbergeld ein und Streichhölzer.

Leni saß mit hochgerafftem Rock in der Küche und strich ihre Fingernägel rot an. Mit den Zehen war sie schon fertig. Um besser sehen zu können, hatte sie die Sonnenbrille abgenommen. Ihr dunkelblaues Auge mutierte allmählich zu dunkelgelb. Der Backofen: kalt wie die Antarktis. Kein Grund zur Traurigkeit.

Die Straßenbahn überfuhr eine tote Taube. Kinder spielten mit Silvestermüll. Jehovas Zeugen malten den Teufel an die Wand. Die Luft roch nach Chemie und Brauerei. Vor der Eisdiele am Kaiserplatz mit mulmiger Aussicht auf meine Schule hing ein Zigarettenautomat. Ich zog wie immer Senoussi, weil mir das Bild auf der Packung gefiel. Eine Horde Araber, einige mit Gewehr. An einer Fahnenstange war ein Halbmond befestigt. Wie bei Karl May, Durch die Wüste.

Am liebsten hätte ich mir sofort eine angesteckt. Aber wenn mir zufällig ein Lehrer begegnete, wäre Feuer an Bord. Benachrichtigung der Eltern, Strafarbeit, auf dem nächsten Zeugnis eine Sechs in Führung. Dem Pechvogel Havenstein war genau das passiert.

Ich schwitzte in meinen Wintersachen. Der italienische Eissalon war bis April geschlossen. Die anderen Gastarbeiter waren geblieben. Sie standen in Gruppen herum, quatschten durcheinander, schauten Frauen hinterher, hielten die Blicke der Einheimischen aus.

Fünfzehn Treppenstufen unter dem Kaiserplatz konnte man kostenlos pinkeln und Schlimmeres. Frische Frühlingsluft adieu, übertriebene Heizungswärme brachte üble Gerüche zur Entfaltung. Am besten schloss man Augen, Nase und die Ohren auch.

Als ich mit der Senoussi fertig war, überließ ich die Kippe den Untiefen der Kanalisation und überlegte, mir noch eine anzustecken. Da hämmerte es gegen die Tür.

Wird das heute noch was? Hast du die Scheißerei?

Freundlichkeit und Diskretion waren nicht die hervorstechendsten Eigenschaften der Klofrau. Ich hatte es immer schon geahnt, dass sie, neugierig und berufserfahren, wie sie war, genau wusste, wer wie lange in welcher Kabine hockte. Sie hieß Frau Tillmanns. Graue Drahtwolle auf dem Kopf, ihre Zahnprothese schwamm in einem Einmachglas, das auf einem Tisch neben ihr stand. Sie hatte Probleme mit ihrem Gebiss, es drückte, triezte, piesackte, und sie wurde nicht müde, jedem Kunden in ihrem Alter davon zu erzählen.

Zusätzlich dekorierten zerlesene Zeitschriften, ein Aschenbecher und eine Blumenvase ohne Blumen den Tisch mit dem Prothesen-Aquarium. Ich opferte zehn Pfennig, um es mir nicht ganz mit der Tillmanns zu verderben. Die Alte wischte das Geldstück in eine Tasche ihrer lindgrünen Kittelschürze und lächelte wie eine Schnecke, der man gerade die Behausung gekündigt hatte.

Abends wartete ich an der Bushaltestelle auf Christel. Sie war zwei Jahre älter als ich und machte eine Ausbildung zur Backwarenfachverkäuferin. Christel wohnte mit ihren Eltern bei uns im Haus, Parterre, und war schon eine richtige Frau. Als sie ausstieg, hatte sie eine prall gefüllte Brötchentüte in der einen und ein Tablett mit Kuchen in der anderen Hand. Nicht verkaufte Backwaren durfte sie nach Geschäftsschluss mitnehmen. Auch wir profitierten davon.

Ich öffnete meine rechte Hand und zeigte Christel drei Markstücke und ein Zweimarkstück. Heute nicht, sagte sie und scheuchte mich weg wie einen aufdringlichen Straßenköter.

Zuhause kläffte Vater. Sein Essen wurde darüber kalt. Lenis rote Fuß- und Fingernägel regten ihn auf. Vater brüllte, Leni wolle wohl ihr eigenes Geld im Puff verdienen. Sie sehe aus wie eine, die für nen Zehner zu haben sei. Mit jämmerlicher Stimme bat ich ihn aufzuhören. Quasi als mein Geburtstagsgeschenk. Aber selbst das war ihm zu viel. Er nahm seinen Teller und warf das Essen (Kartoffelpüree, Rotkohl, rheinische Bratwurst, Apfelkompott) auf den Boden.

Christel reichte mir ein Fläschchen Nagellackentferner, um das ich sie im Auftrag Lenis gebeten hatte. Der Kohlenofen glühte, die Wachskerzen am nadelnden Weihnachtsbaum flackerten. Unsere bunte Tanne war bei dem von Curd Jürgens verursachten Silvesterversehen auf die Straße geflogen.

Ich hätte dann fünf Minuten Zeit, sagte Christel in ihrer gelangweilten Art. Hast du das Geld dabei?

Grete und Jupp, ihre Eltern, waren nicht da. Jupp war einen Tag nach Neujahr mit Tränen in den Augen zur Kur nach Bad Salzuflen gefahren. Er hatte es mit der Lunge, dem Kreislauf, der Leber, eigentlich mit allem. Und Grete sei bei Bekannten, die einen Fernsehapparat hatten, sagte Christel.

Eiskunstlaufen kucken. Marika Kilius und Hans-Jürgen Bäumler. Europameisterschaft gegen die Russen, glaub ich.

Sie hatte ihre langen schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Wenn sie Krach mit ihrem Vater hatte, nannte der sie eine Zigeunerin. Jupp machte nach Genuss von Alkohol keinen Hehl daraus, dass er Christel für einen Seitensprung hielt, einen Fehltritt. Gretes Kuckucksei. Er war früher, bevor der Zahn der Zeit zugebissen hatte, blond gewesen, Grete seit dem ersten Tag ihres Lebens fuchsig rot.

Ich bin zwar kein Kunstmaler, sagte Jupp, Anstreicher auch nicht, aber wenn man Blond und Rot mischt, kommt ganz bestimmt kein tiefes Schwarz dabei raus.

Christel zog ihren selbst gestrickten Pullover aus, den weißen Büstenhalter mit Rosenstickerei. Dabei schaute sie zur Zimmerdecke hoch.

Hast du warme Pfoten?, fragte sie. Wehe, wenn nicht!

Ich schob Hose und Unterhose bis zu den Knien herunter. Mein Herz schlug, als wollte es mir die Rippen brechen. Wir setzten uns nebeneinander aufs Sofa, das nicht mehr das neueste war. Man sank tief ein, die Federung war hinüber. Christel stellte griffbereit einen Suppenteller neben sich. Sie fasste mich an, und ich war sofort startklar. Christel roch gut, nach Frühling, Kuchen und ein wenig nach Mokka.

Langsamer und nicht so fest, bettelte ich.

Hier im Wohnzimmer war es viel gemütlicher als in der Waschküche oder hinter dem Kaninchenstall, wo wir uns sonst trafen.

Du nuckelst wie ein Säugling, sagte Christel. Es fiel mir nicht leicht, die Spielregeln einzuhalten. Keine Küsse auf den Mund, keine Griffe in den Schritt. Kein Knutschfleck, schon gar nicht am Hals.

In der Wohnung über uns war alles ruhig. Leni weinte nicht mehr, und Vater war zum Skatabend gegangen. Ich bring ihn um, hatte ich gesagt. Wenn du das noch mal sagst, antwortete Leni, bin ich nicht mehr deine Mutter. Ist das klar?

Ich war nicht die größte Leuchte in Biologie, aber was Leni da sagte, war natürlich Quatsch mit Soße. Wie sollte das gehen, nicht mehr meine Mutter zu sein?

Bist du soweit, kommt es?

Christel brachte den Suppenteller zum Einsatz, damit das olle Sofa und der abgewetzte Teppich nichts abkriegten. Gegen die Abmachung versuchte ich, Christel auf den Mund zu küssen.

2

Der Frühlingseinbruch und die Weihnachtsferien waren vorbei. Die Schule fing mit einer Doppelstunde Deutsch an. In dem Fach war ich immer Durchschnitt gewesen, nicht gehobener, eher durchschnittlicher Durchschnitt mit leichter Tendenz zum Minus. Seit Aschermittwoch vergangenen Jahres häuften sich aber bei Klassenarbeiten die Zweien, meine mündliche Beteiligung, die so gut wie nicht stattfand, wurde überschätzt, und ich war seit diesem katholischen 15. Februar nie mehr von Oberstudienrat Jenniges vorgeführt, niedergemacht, gedemütigt, abgekanzelt, durch den Dreck gezogen worden. Gute Noten und Schonzeit verdankte ich weder Geistesblitzen noch einem hart erarbeiteten Leistungsschub, sondern einfach nur der Fenstergeschichte.

Kaum hatte Jenniges den Klassenraum betreten, fühlte man sich ertappt und schuldig. Er schloss die Tür ab, steckte den Schlüssel ein. Es gab kein Entkommen mehr.

Jenniges hatte allen außer mir die Ferien versaut. Damit uns die Langeweile nicht folterte, so der Lehrer mit scheinbar gutmütigem Lächeln am letzten Schultag vor Weihnachten, sollten wir Die Bürgschaft von Friedrich Schiller auswendig lernen. Zwanzig Strophen mit je sieben Zeilen. Unbesorgt hatte ich mich statt in die Ballade in den reich bebilderten Neckermann-Katalog vertieft, vor allem in das Kapitel Damenunterwäsche.

Wir waren aufgesprungen, standen militärisch gerade. Bauch rein, Brust raus, Hände an die Hosennaht. Der Oberstudienrat fackelte nicht lange.

»Wer wagt es, Rittersmann oder Knapp? Freiwillige vor!«

Die Streber meldeten sich, wurden aber übersehen. Jenniges wiederholte seinen Aufruf, lauter, drohender diesmal. Es roch nach dem nassen Leder der Schultaschen. Das Klassenzimmer war schlecht gelüftet, überheizt. Auf dem Fußboden Schneepfützen. Fünf nach acht, draußen war es noch dunkel. Der Lehrer strich über seinen grauen Kinnbart, lächelte sein Raubtierlächeln. Neben mir stöhnte Havenstein leise, wankte. Ich sah, wie er sich einen Pickel blutig kratzte, wie er dann seine zitternden Hände wieder an die Hosennaht presste. Seitdem er in einem Aufsatz es schnitt statt es schneite geschrieben hatte, konnte er sich Jenniges’ besonderer Beobachtung sicher sein. Regelmäßig haute der Lehrer Havenstein das Winterfiasko um die Ohren.

Trauriger Haufen, mein lieber Kokoschinski!

Jenniges’ aufgerissene, blitzende Augen. Unsere Blicke trafen sich nur ganz kurz, aber das reichte. Die alte Angst war wieder da. Vielleicht hatte er über die Feiertage noch einmal über das Ereignis am Aschermittwoch nachgedacht und sich alles verziehen. Vorbei der schöne Lenz, die ruhige Kugel.

Ich hatte die Schulmesse geschwänzt. Freistunde, hatte ich am Abend vorher zu Leni gesagt und mich ausgeschlafen. Mir lag daran, möglichst wenig mit Religion in Kontakt zu kommen, weil ich nicht ständig daran erinnert werden wollte, dass Gott alles sah. Das fand ich noch viel gemeiner als meine Sterblichkeit, von der auch immer die Rede war.

Der Vater, der Sohn und der Heilige Geist waren vierundzwanzig Stunden am Tag mit nichts anderem beschäftigt, als mich und den Rest der Menschheit zu observieren, auf Schritt und Fehltritt; auf dem Klo und bei Schlimmerem schauten sie einem penibel auf die Finger. Pastor und Oberstudienrat Pip behauptete sogar, auch unsere lieben Verstorbenen, sofern sie im Himmel Aufnahme gefunden hatten, würden schlaflos über uns wachen. Es war verflucht deprimierend, gruselig, peinlich hoch zwanzig, sich vorzustellen, dass die Opas Heinrich und Ludwig, Oma Käthe und Tante Karla, die mich sowieso zeitlebens nicht ausstehen konnte, alle meine Geheimnisse kannten.

Ich schlich an der Hausmeisterloge vorbei die Treppen zur zweiten Etage hoch. Es fühlte sich unheimlich an, allein in der Klasse zu sein. Ich öffnete ein Fenster, beugte mich vor, schaute auf den noch leeren Schulhof herunter. Ich überlegte, eine Zigarette auf dem Klo zu rauchen, entschied mich dann aber für die frische Luft. Kein Gesang wehte vom Musiksaal herüber, keine laut deklinierenden Sextaner, weder Trillerpfeife noch Getrampel aus der Turnhalle. In ein paar Minuten würde die Herde der Gottesdienstbesucher auftauchen, angeführt von Religionslehrer Pip.

Nach einem letzten Zug blies ich den Rauch aus, wollte die Kippe auf der Fensterbank ausdrücken, da verlor ich den Boden unter den Füßen.

Ich pendelte neun oder zehn Meter über dem ausbesserungsbedürftigen Teerbelag des Schulhofs. Jemand hatte mich gepackt und mit großer Kraft aus dem Fenster geschoben. Noch wurde ich an den Fesseln gehalten, aber man drohte, mich gleich fallen zu lassen, um mir ein für allemal das Rauchen und Schwänzen der Schulmesse abzugewöhnen.

Unbeholfene Schwimmbewegungen ins Leere. Abwechselnd das Gefühl, auf einer stark schwankenden Drehscheibe und in einem abstürzenden Aufzug zu sein. Ich versuchte zu schreien, brachte aber nur missratene Lalltöne zustande. Es gab einen Ruck. Der Angreifer teilte mir mit, er halte mich jetzt nur noch mit einer Hand fest.

Dass ich mir in die Hose gepisst hatte, war das erste, was mir auffiel, nachdem es vorbei war. Jenniges sagte, ich würde von der Schule fliegen und in einer Erziehungsanstalt landen, wenn meine Raucherei und Gottlosigkeit herauskämen. Dass man mir in der Anstalt die Flötentöne beibringen, mit mir Schlitten fahren würde. Dass sie dort einen Menschen aus mir machen würden.

Ich hockte auf dem Boden, keuchte und zitterte, dazu eine Inflation von Tränen und Rotz. Jenniges sagte, ich solle mich gefälligst zusammenreißen, mich nicht gehen lassen wie ein Mädchen. Er nannte mich Pissnelda. Anna. Sabine. Susanne. Gisela. Adelheid.

Matthias, sagte ich ohne Stimme.

Erika. Waltraud. Johanna.

Angewidert wies der Lehrer mich auf meine blutende Oberlippe hin. Im Weggehen forderte er mich auf, mich in Zukunft zu benehmen. Dann werde er möglicherweise Gnade vor Recht, Milde walten lassen, Direktor und Oberschulrat nicht informieren.

Hast du mich verstanden? Ob du mich ver-stan-den hast?

Als die anderen kamen, sahen sie mich an wie ein übrig gebliebenes Karnevalsgespenst. Ich zog meinen Pullover über die große nasse Stelle, schlug die Beine übereinander.

Wenn ich dachte, für diesen Tag sei es genug mit Angst und Schrecken, hatte ich mich geschnitten. Pastor Pip platzte in die Mathestunde herein, um jeden Schüler in Augenschein zu nehmen. Alle aufstehen! Wer im Gottesdienst gewesen war, konnte ein schwarzes Aschenkreuz auf der Stirn vorweisen, von Pip eigenhändig gezeichnet, zur Erinnerung an unsere Sterblichkeit.

Als ich an der Reihe war, nahm der Geistliche seine dicke Hornbrille ab und betrachtete mich wie eine Mutation im Atomzeitalter.

Hab es versehentlich abgewischt, hörte ich mich sagen.

Aha, ein Sauberkeitsfanatiker, antwortete Pip.

Die Ohrfeigen, die er mir verpasste, gerecht auf beide Gesichtshälften verteilt, hatten sich gewaschen, und zwar gründlich.

Jenniges ging mit einem kurzen Zeigestock durch die Reihen. Dass er ein künstliches Bein hatte, merkte man ihm so gut wie nicht an. Das richtige Bein war in Russland geblieben, hatten wir gehört.

Wir standen immer noch wie Rekruten. Draußen wurde es allmählich hell.

Es schneite. Die Heizung pochte auf Hochtouren, und die Zeit gab sich alle Mühe, nicht zu vergehen. Jenniges zitierte mit weicher Stimme die beiden ersten Zeilen der Bürgschaft:

Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich

Möros, den Dolch im Gewande.

Der Oberstudienrat fuchtelte mit dem Zeigestock herum wie mit einem Dolch. Das sah komisch aus, aber niemand lachte. Obwohl meine Kopfhaut juckte, wagte ich nicht, mich zu kratzen, denn wenn die Schonzeit vorbei war, würde Jenniges die falsche Bewegung zum Anlass nehmen, mich nach vorn zu rufen, damit ich mit dem Rücken zur Tafel das Gedicht aufsagte. Meine Faulheit würde auffliegen und auch mein Nikotinatem. Nach der Morgenzigarette hatte ich das Pfefferminzbonbon vergessen, und Jenniges rückte einem Prüfling gern auf die Pelle. Havenstein schwitzte vom bloßen Rumstehen. In meiner Nase kribbelte es. Wenn ich jetzt nieste, war ich erledigt.

Tauchstation!, flüsterte Jenniges laut.

Alle durften noch einmal tief einatmen und mussten dann die Luft anhalten. Wer – nach Ansicht des Lehrers – als erster aufgab, es nicht mehr aushalten konnte, zu ersticken glaubte, hatte und war verloren, wenn er Die Bürgschaft nicht vortrug wie Schiller höchstpersönlich.

Havenstein sagte die Ballade auf wie Max ohne Moritz, wie Dick mit einer Extraportion Doof.

Er habe sich in jämmerlichster Weise an großer Kunst vergriffen, sie mit Verachtung gestraft und geschändet, lautete Jenniges’ Fazit nach dem Vortrag. Dafür müsse er, Havenstein, büßen: entweder Die Bürgschaft bis zum nächsten Tag fünfmal abschreiben oder Tinte saufen; blaue, schwarze oder rote, freie Auswahl. Der Oberstudienrat öffnete seine Lehrertasche, kramte darin herum, bis nach und nach drei Tintenfässer ordentlich sortiert auf seinem Pult standen.

Nun?

Havenstein stand ergeben da und dachte nach. Jenniges entfernte ein Stäubchen von seiner Jacke, blies es kunstvoll davon, verschob geduldig die Position der Fässchen; mal stand das rote ganz links, dann das schwarze, dann das blaue. Ach, sagte der Lehrer und gestand, seine Lesebrille auf dem Beifahrersitz seines Wagens vergessen zu haben. Ob jemand mal so freundlich? Nicht nur die Hände der Streber flogen in die Höhe.

Jenniges spazierte, während Havenstein überlegte und überlegte, in der Klasse herum, scheinbar unschlüssig, welchen Freiwilligen er auswählen solle. Ich erschrak, als ich seine Hand auf meiner Schulter spürte.

Matthes, wie wär’s mit dir?

Ich hatte mich nicht gemeldet. Jenniges hatte mich noch nie mit Vornamen angesprochen. Das war das Privileg der Aufsatzhelden, Vortragskünstler und Grammatik-Asse. Und, unfassbar, er hatte nicht das eigentlich angebrachte Matthias verwendet, sondern mich rheinisch Matthes genannt, als stehe er mir nahe, als verbinde uns etwas Freundschaftliches, Herzliches. Während er den Fahrzeugschlüssel aus seinem Schlüsselbund löste, fragte er mich, ob ich seinen Wagen kenne.

Jeder kannte den. Ein Mercedes mit Goldbronze-Lackierung. So eine Karre gab es kein zweites Mal weit und breit. Ein Schlitten für Playboys und Filmschauspieler. Für den Schah von Persien, den Ölscheich von Saudi-Arabien. Alle anderen Autos auf dem Lehrerparkplatz wirkten dagegen armselig und farblos, auch wenn sie rot oder blau waren.

Mein Herz schlug schnell, als ich den Wagen aufschloss, den Leder- und Rasierwassergeruch einatmete. Obwohl ich nur den Willen des Besitzers ausführte, kam ich mir wie ein Einbrecher vor.

Havenstein hatte sich gewaltig geschnitten, wenn er dachte, dass es für diesen Tag genug sei. Zwar wurde ihm in der nächsten Stunde ausreichend Gelegenheit geboten, mal durchzuatmen, sich zurückzulehnen, die eklige Tinte in Ruhe zu verdauen, aber erholsam war diese Ruhephase sicher nicht für ihn.

Diplomsportlehrer Sandor Tóth, ausgesprochen Schandor Tott, die falsche Aussprache seines Nachnamens (Herr Tot) wurde mit speziellen Quälereien an Barren und Seitpferd geahndet, musste sich wegen seines starken Bartwuchses bestimmt dreimal am Tag rasieren. Auch seine Arme und Beine waren von dichtem schwarzen Pelz befallen. Darüber hinaus verstand er keinen Spaß, wenn man die Sportsachen, weiße Turnschuhe, rote Turnhose, vergessen hatte. Tóth war vor den Kommunisten in Ungarn geflüchtet, hatte aber deren erlesene Bosheiten in die freie Welt unseres Gymnasiums mitgenommen.

Der vergessliche Havenstein mit seinen tintenschwarzen Lippen musste auf einem Stuhl in der Mitte der Halle Platz nehmen. Tóth forderte ihn auf, es sich gemütlich zu machen, sich zu entspannen und das folgende Schauspiel zu genießen.

Statt Ballspielen standen dank Havenstein gymnastische Torturen auf dem Programm, von Tóth beschönigend Aufwärmtraining genannt. Hochgeschwindigkeits-Tiefgehen, Klimmzüge en masse, Rollen vor- und rückwärts auf dem harten Hallenboden. Dazu mussten wir Tóths Lieblingslied brüllen. Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord. Hochrot oder leichenblass verschwitzt, je nach Temperament, umkreisten wir Havenstein im schnellen Kriechgang, robbten, torkelten an ihm vorbei, angetrieben von Tóths unablässigem Getriller. In den Kesseln, da faulte das Wasser, und täglich ging einer über Bord. Havenstein versuchte abzuhauen. Wir fingen ihn auf Befehl ein, stießen ihn grob zurück auf seinen Thron. Liegestutz, kommandierte der Ungar in seinem eigenen Deutsch. Funfzisch Stuck! Nock eins un nock eins! Durch Zurufe, Blicke und Handzeichen gaben wir Havenstein zu verstehen, auf welche Arten der Hinrichtung er sich bei Beginn der großen Pause ganz besonders freuen konnte.

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