Читать книгу: «Neurohistorie»
Dieter Langewiesche / Niels Birbaumer
Neurohistorie. Ein neuer Wissenschaftszweig?
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ISBN: 978-3-86408-217-7 (Print) / 978-3-86408-218-4 (E-Book)
© Copyright: Vergangenheitsverlag, Berlin / 2017
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Inhaltsverzeichnis
Impressum
Vorwort
Streit um Hegemonie auf dem Wissenschaftsmarkt und in der Gesellschaft – eine endlose Geschichte
Wovon diese Studie nicht handelt
Zwei gegensätzliche Ansätze zu einer Neurohistorie
Zur Kritik von Johannes Frieds Theorie einer neurokulturellen Geschichtswissenschaft
Vergangenheit wird immer subjektiv wahrgenommen — ein Problem?
Zum Verhältnis zwischen Neuro- und Vergangenheitswissenschaften
Gemeinsamkeiten in theoretischen Positionen
Gemeinsame Forschungsfelder
Bilanz
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Vorwort
Auch wer nicht an eine Trennung in zwei Wissenschaftskulturen glaubt, eine naturwissenschaftliche und eine geisteswissenschaftliche, wird sich dennoch eingestehen – gemeinsam forschen ist schwer. Warum das so ist und was gleichwohl möglich sein könnte, wollen wir für unsere Fächer erkunden, die Geschichts- und die Neurowissenschaft.
Unsere Neugier auf die Arbeit des anderen entstand in dem Sonderforschungsbereich Kriegserfahrungen, den die Deutsche Forschungsgemeinschaft 1999 bis 2008 in Tübingen finanziert hatte. Der eine forschte über historische Formen von Kriegen und die Rolle von Nationen und Imperien in ihnen, der andere über Opfer und Täter in der Gegenwart. Dies bot die Chance, miteinander ins Gespräch zu kommen und – kein leichter Schritt – gemeinsam zu publizieren. In dieser Schrift wollen wir unsere Erkundungen im Terrain des anderen fortsetzen und bilanzieren. Selbstverständlich eine vorläufige Bilanz.
Wie können Historiker und Neurowissenschaftler in ihren methodischen und theoretischen Annahmen voneinander lernen, in welchen Bereichen können sie gemeinsam forschen, obwohl sie höchst unterschiedlich arbeiten? Die einen im Labor, die anderen im Archiv, in der Bibliothek, gelegentlich auch als teilnehmende Beobachter. Den technischen Geräten im Labor, die ständig verfeinerte Blicke ins Gehirn zulassen, steht auf dem Schreibtisch von geistes- und sozialwissenschaftlichen Vergangenheitsforschern meist nur ein simpler PC gegenüber. Das ist nicht trivial. Die unterschiedliche Technik steht für unterschiedliche Forschungsszenarien. Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten. Auch und gerade nach ihnen wird hier gefragt.
Vorträge vor der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (2008) und der Leopoldina. Nationale Akademie der Wissenschaften in Halle (2014) gaben die Möglichkeit, unsere Ergebnisse über Fachgrenzen hinweg zu diskutieren. Etliche Kolleginnen und Kollegen waren zudem so freundlich, den Text zu kommentieren. Ihnen allen herzlichen Dank!
Streit um Hegemonie auf dem Wissenschaftsmarkt und in der Gesellschaft – eine endlose Geschichte
Wenn Geisteswissenschaftler auf die Neurowissenschaften blicken und umgekehrt, geht es meist um den freien Willen des Menschen. Wird er auf neurowissenschaftlicher Grundlage verneint, schließen daran ernste Fragen an über die individuelle Zurechenbarkeit von Handlungen. Etwa im Strafrecht. Die Geschichtswissenschaft ist in solche Debatten in aller Regel nicht eingebunden. Das war auch in der Vergangenheit so. Denn die derzeitige Debatte zwischen Neurowissenschaftlern und Philosophen über Willensfreiheit, und wer fundierter über sie urteilen könne, ist nicht die erste dieser Art. Erinnert sei nur an den Ignorabimus-Streit, den Emil du Bois-Reymond 1872 mit einem Vortrag international ausgelöst hatte.1 Als Experte der experimentellen „Wissenschaft von den näheren Bedingungen des Bewusstseins auf Erden“, so definierte er damals ressortimperialistisch Physiologie2, fühlte er sich kompetent, nach den Grenzen menschlicher Erkenntnismöglichkeit zu fragen. Wie viele Naturwissenschaftler seiner Zeit (und manche heutige Neurowissenschaftler) sah er sich dafür fachlich besser gerüstet als die Philosophen oder gar die Theologen.3
Diese Debatte soll als Ausgangspunkt für eine auf die Gegenwart bezogene Analyse dienen. Rückblickend lässt sie sich zwei Diskussionsforen zuordnen, einem gesellschaftspolitischen und einem wissenschaftlichen. Gesellschaftspolitisch wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert darum gerungen, welcher Disziplin die Rolle der Leitwissenschaft gebühre, seit man der Theologie und dann auch der Philosophie diesen Anspruch nicht mehr zugestand. Hier ging es um Relevanzhierarchien auf dem Wissenschaftsmarkt und um kulturelle Hegemonie in der Gesellschaft. Und selbstverständlich ging es um Geld im Wettbewerb um staatliche und andere Mittel. Als Rudolf Virchow 1893 in seiner Berliner Rektoratsrede den Übergang aus dem philosophischen in das naturwissenschaftliche Zeitalter verkündete, bezog er in diesem interessenpolitischen Wettstreit entschieden Stellung. Erst im „naturwissenschaftlichen Zeitalter“, also in seiner Gegenwart, sei das „alte Wort Baco’s von Verulam eine Wahrheit geworden: Scientia est potentia“4. Mit dem überlegenen Fortschrittsdienst der Naturwissenschaften an der Gesellschaft begründete er deren Dominanzanspruch. Das war gängige Argumentation damals. Die Naturwissenschaft als die neue Leitwissenschaft, und nicht mehr die Philosophie, mit Auswirkungen bis ins Gymnasium. “Kegelschnitte! Kein griechisches Skriptum mehr!“ lautete der Kampfruf zur Gymnasialreform, den du Bois-Reymond ausgab, um eine starke öffentliche Resonanz zu provozieren.5 Das gelang ihm. Er wurde einer der medial bekanntesten deutschen Professoren seiner Zeit, ein public intellectual mit internationaler Ausstrahlung, weil er immer wieder in Fragen eingriff, die in der Öffentlichkeit debattiert wurden, aber jenseits seines Fachgebietes lagen. Da er dies meist auf wissenschaftlichen Bühnen tat, wie der preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, beanspruchte er für seine fachfernen gesellschaftspolitischen Interventionen wissenschaftliche Kompetenz und die Autorität des Experten.6
Die Forderung nach einer neuen Relevanzhierarchie unter den Wissenschaften, die sich auch in der Konkurrenz um finanzielle Mittel niederschlug, ist die Brücke zum zweiten Forum, auf dem die Debatte ausgetragen wurde, dem wissenschaftlichen. Denn Naturwissenschaftler wie Rudolf Virchow, Emil du Bois-Reymond oder Justus Liebig, um nur drei zu nennen, die mit ihrer Botschaft immer wieder in die Öffentlichkeit gingen – sie alle definierten die moderne Naturwissenschaft auch methodisch als die Leitwissenschaft der Gegenwart. In den Worten du Bois-Reymonds aus einer Berliner Akademie-Rede im Jahr 1872: die Philosophie könne „Vorteil aus der naturwissenschaftlichen Methode ziehen […], nicht aber umgekehrt die Naturforschung aus der Methode der Philosophie.“7
Dieser Streit mündete in die höchst fruchtbare wissenschaftstheoretische Debatte über Kultur- bzw. Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft (Heinrich Rickert und Wilhelm Dilthey) oder nomothetische und idiographische Wissenschaften (Wilhelm Windelband). Auch Max Webers grundlegende Schriften zur Logik der Kulturwissenschaften gehören hierher. Naturwissenschaftler haben diese wissenschaftstheoretische Debatte mit ihrem Ressortimperialismus provoziert oder zumindest angestoßen und befeuert, Philosophen und Sozialwissenschaftler haben sie geführt. Mit Ergebnissen, die noch heute gültig sind.
Weiterhin gültig sind auch Einwände pragmatischer Art, die in diesen Theorie-Debatten meist nicht vorgebracht wurden. Warum sollte der Wert der „Weltbesiegerin unserer Tage“, wie du Bois-Reymond die Naturwissenschaft nannte8, in ihren konkreten Untersuchungsgebieten für die Gesellschaft bedeutsamer sein als die Forschungsergebnisse von Geistes- und Sozialwissenschaftlern? Wenn zum Beispiel Parteiensysteme international verglichen werden oder das städtische Wahlverhalten erhoben und daraus die spezifische Anfälligkeit von Sozialgruppen für den Nationalsozialismus abgeleitet wird, so ist das für die Gesellschaft nicht minder bedeutsam als die experimentelle Lokalisation einer Hirnregion für die politische Ausrichtung mit Hilfe der Kernspintomographie.
Historiker waren an diesen Hierarchiedebatten in den Wissenschaften kaum beteiligt, wenngleich damals auch in der Geschichtswissenschaft über eine neue oder erweiterte kulturgeschichtliche Grundlegung des Faches gestritten wurde9 und der Fehdehandschuh der Naturwissenschaftler auch auf dem fachlichen Territorium der Historiker lag. Du Bois-Reymond hatte nämlich die grundsätzliche methodische Überlegenheit der Naturwissenschaft, von der er überzeugt war, auch auf die Geschichtsforschung übertragen. Aus der bisherigen akademischen Geschichtswissenschaft könne man nur „lerne[n], dass man aus ihr nichts lernt“10. Er forderte stattdessen eine universale „Kulturgeschichte“ auf naturwissenschaftlicher Grundlage. Nur sie sei in der Lage, den Fortschrittsweg der Menschheit nachzuvollziehen und in die Zukunft zu öffnen.
Die Auflösung des Topos Historia Magistra Vitae, wie sie Reinhart Koselleck für das moderne Geschichtsdenken seit der Zeit um 1800 analysiert hat – gemeint ist nicht, dass man aus der Geschichte nichts lernt, weil sich kein Ereignis wiederhole, sondern dass sie „Möglichkeitsspielräume von Ereignissen“ erkennen hilft11 –, wird von diesen geschichtsschreibenden Naturwissenschaftlern nicht nachvollzogen, sondern auf die herkömmliche politische Geschichte begrenzt. Ausgerechnet du Bois-Reymond, Inbegriff des deutschen Bildungsbürgers, nannte sie abfällig die bürgerliche Geschichtsschreibung. Eine Geschichtsbetrachtung auf den Spuren der Siegesgeschichte der Naturwissenschaft hingegen sei lehrhaft, weil sie die Grundlage der Moderne enthülle – die „naturwissenschaftliche Denkweise“. In ihr verortete er den „Kausalitätstrieb“ des modernen Menschen, der naturwissenschaftlich konditioniert die Geschichte unaufhaltsam auf Fortschritt ausgerichtet habe. „Wir sagen, Naturwissenschaft ist das absolute Organ der Kultur, und die Geschichte der Naturwissenschaft die eigentliche Geschichte der Menschheit.“12
Du Bois-Reymond versuchte sich auch darin, eine solche neue Form von Geschichtsschreibung zu erproben, und dies nicht nur, wie es Justus Liebig in einigen Münchner Akademiereden tat13, entlang der Wissenschaftsgeschichte, sondern auf einem viel beackerten Gebiet der Kultur- und Politikgeschichte: Über das Nationalgefühl, so der Titel seiner Studie. Sie ist darwinistisch-evolutionär angelegt wie generell sein Geschichtsdenken.14 Eine Geschichtsschreibung auf der theoretischen Höhe der Zeit müsse auf Darwin gründen. Dessen Deszendenztheorie habe das gesamte „Gebiet des Lebens“ zu „einem Bilde zusammengefaßt“, so dass nun eine Entwicklungsgeschichte zur Verfügung stehe, die Astronomie, Paläontologie und Geologie mit Anthropologie und Ethnographie verbinde, die ihrerseits „den Übergang vermitteln zur Linguistik, der Erkenntnistheorie und den historischen Wissenschaften“15.
Zwischen dem, was hier für das ausgehende 19. Jahrhundert in wenigen Strichen skizziert wurde, und der heutigen Debatte um die Rolle der Neurowissenschaft in der Gesellschaft und in der Wissenschaft sind zwei Parallelen zu erkennen:
1. Es geht stets – mit allen Weiterungen, die daran hängen – um gesellschaftspolitische Relevanzhierarchien auf dem Wissenschaftsmarkt und um kulturelle Hegemonie. Wenn Neurowissenschaftler erklären, warum das Gehirn, wie sie es erforschen, keinen Raum für die Annahme eines freien Willens böte und daraus Folgerungen für das Strafrecht oder für die angemessene Art von Stadtentwicklung ableiten16, so drückt sich darin ein gesellschaftlicher Prioritätsanspruch aus, wie er im ausgehenden 19. Jahrhundert mit der Ausrufung des naturwissenschaftlichen Zeitalters verbunden gewesen war. Max Weber hatte diese Art von Wissenschaftsimperialismus an der Energetik-Lehre des Chemiker-Philosophen Wilhelm Ostwald – 1909 erhielt der Vielgeehrte den Nobelpreis für Chemie – sarkastisch kritisiert. Es würden „Wechselbälge gezeugt“, wenn nicht beachtet werde, dass unterschiedliche Disziplinen aus guten Gründen unterschiedliche Methoden anwenden und in unterschiedlichen Perspektiven ihr Untersuchungsobjekt betrachten.17
2. Damals wie heute bleibt in der innerwissenschaftlichen Debatte die Geschichte in doppelter Weise peripher: Historiker mischen sich in die Methodendebatte der anderen nur selten ein, und die anderen beachten nur selten historische Themen. Warum?
Im ausgehenden 19. Jahrhundert blieb der Übergriff von Naturwissenschaftlern wie du Bois-Reymond oder Liebig in die etablierte akademische Geschichtswissenschaft folgenlos, weil sie entweder die Geschichte auf Wissenschaftsgeschichte reduzierten – vornehmlich naturwissenschaftliche – oder Evolutionsgeschichte betrieben. Beides sind inzwischen etablierte Disziplinen. Sie stehen nicht in Konkurrenz zur Geschichtswissenschaft in ihren lang-etablierten Hauptgebieten.
Während Naturwissenschaftler wie du Bois-Reymond und Liebig keine Scheu hatten, als Laien-Historiographen den professionellen Historikern zu zeigen, wie man Geschichte als lehrhaft in den Dienst der Gesellschaft stellen könne, ist das heute nicht mehr der Fall. Oder doch nur sehr selten. Wolf Singer hat es getan, als er eingeladen war, auf dem deutschen Historikertag des Jahres 2000 den Eröffnungsvortrag zu halten: Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft.18 Johannes Fried war damals Vorsitzender des Historikerverbands. Er hat durch zwei sehr pointierte Schriften versucht, seinen Fachkollegen nahezubringen, warum sie ihr Fach methodisch auf neurowissenschaftlicher Grundlage neu erfinden müssten.19
In der medialen Öffentlichkeit hat Fried mit seinem Appell zur neurokulturellen Bekehrung viel Resonanz gefunden, in der Geschichtswissenschaft wenig. Ein Historiker hat auf drei Seiten repliziert, warum er vom „neuronal turn“ in der Historiographie nichts hält, ein anderer hat die positivistische Absicht Frieds (dazu gleich noch) für unerheblich erklärt20, und gemeinsam haben wir (Birbaumer/Langewiesche 2006) in einem Aufsatz über Posttraumatische Belastungsstörung und Soziopathie in Österreich uns gegen Frieds Vision gewandt.21 Diese Argumentation wird nun aufgenommen und weitergeführt, vor allem mit Blick auf die Frage, was bietet die Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft an neuen Einsichten zu Fragen von Gedächtnis, Erinnern und Wahrnehmen. Gibt es Möglichkeiten zur Kooperation? Hier fließen eigene Erfahrungen aus dem Tübinger Sonderforschungsbereich Kriegserfahrungen ein.22
Als erstes gilt es festhalten, worüber wir nicht schreiben werden. Dann wird Johannes Frieds Vision einer gänzlich erneuerten Geschichtswissenschaft auf neurowissenschaftlicher Grundlage vorgestellt und mit einer bescheideneren Form von Neurohistorie verglichen. In einem dritten Schritt wird erläutert, wie die Aussagen und Hypothesen von Neurowissenschaftlern über das menschliche Gedächtnis und sein Wahrnehmen und Erinnern mit Blick auf die bisherigen Annahmen und Theorien innerhalb der Geschichtswissenschaft unseres Ermessens zu bewerten sind. Bringen sie neue Einsichten? Und schließlich soll gefragt werden, welche Möglichkeiten zur konkreten Forschungskooperation zwischen Historikern und Neurowissenschaftlern bestehen – jenseits der Methodendiskussion, die nun zunächst in den Mittelpunkt gerückt wird, sondern bezogen auf empirische Forschungen im historischen Feld.
Wovon diese Studie nicht handelt
Es geht nicht um das, was in der Debatte zwischen Geistes- und Neurowissenschaftlern im Zentrum steht: das Problem der Willensfreiheit. Der Grund dafür ist einfach. Historiker begegnen in ihren Quellen stets gesellschaftlich konditionierten Menschen. Konditioniert sind sie jederzeit in unterschiedlichsten Zusammenhängen: religiösen bzw. weltanschaulichen, politischen und sozialstrukturellen; nach Geschlecht; konditioniert wird auch durch die Art des Berufes und die Berufsposition, durch den Bildungsgrad und den kulturellen Raum, in dem jemand lebt, durch die Werteordnung, die in der Gesellschaft oder in gesellschaftlichen Gruppen vorherrscht, durch die Art der Staatsorganisation, und vieles mehr. All dies war und ist unterschiedlich bedeutsam in den verschiedenen Handlungsfeldern, und alle diese Konditionierungsagenturen wandeln sich im Laufe der Geschichte – in sich und in ihrem Verhältnis zur Gesellschaft. Ihre Bedeutung für die Menschen, ihre Prägekraft ändert sich manchmal still, manchmal eruptiv bis hin zu gewaltsamen Revolutionen. Stets geht es in solchen Veränderungen um die Institutionalisierung von Wertvorstellungen. Darauf zielen alle, die in der Gesellschaft etwas bewirken und diese Wirkung auf Dauer stellen wollen. Institutionalisierung meint Verstetigung von Handlungsmaximen.23
Wer das menschliche Handeln in konkreten gesellschaftlichen Situationen untersucht, betrachtet den Menschen immer unter Bedingungen, die dieser zwar gestalten kann und will, aber doch begrenzt von einer Fülle struktureller Konditionierungen, die der Einzelne zu beachten hat, wenn er als soziales Wesen handeln will. Diese Bedingungen in ihrem historischen Wandel zu analysieren und aus ihnen die Handlungen und die Handlungsmöglichkeiten der Menschen in ihrer jeweiligen Zeit zu erkennen, ist das Geschäft der historischen Fächer. Es geht stets um das Verhalten von Menschen in einem gesellschaftlichen Raum, der in vielfältiger Weise den Menschen konditioniert. Anders formuliert: es geht um die Zurechenbarkeit von menschlichem Handeln und den Entwicklungen, die aus ihm folgen, auf jene Strukturen, die als handlungsbestimmend angesehen werden.
Neurowissenschaftliche Konditionierungen von menschlichem Verhalten in geistes- und sozialwissenschaftlichen Analysen einzubeziehen, ist eine Herausforderung, der sich diese Fächer nicht entziehen sollten. Dabei dürfte es angebracht sein, von der Hypothese auszugehen, dass in Forschungen, die nach menschlichem Verhalten in komplexen gesellschaftlichen Situationen fragen, neurowissenschaftliche Prägungen in das weite Feld der Konditionierungen menschlichen Verhaltens einzuordnen sind, ihre Erklärungskraft also situativ bestimmt werden muss, nicht aber, dass neurowissenschaftliche Prägungen allen gesellschaftlichen übergeordnet sind. Zu bedenken ist auch, dass die Neurowissenschaft und generell die biologischen Fächer sich außerordentlich dynamisch entwickeln. Es ist deshalb für Außenstehende nicht einfach zu erkennen, wo sie andocken könnten und wo sich die Naturwissenschaftler selber nicht sicher sind. Die Probleme, die damit verbunden sind, wurden kürzlich in einem interdisziplinären Gespräch erörtert, das die Zeitschrift American Historical Review initiiert und dokumentiert hat.24
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