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David Goliath
Vampyr
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Haftungsausschluss
Prolog
Unfall
Obduktion
Blut
Sarg
Verhör
Hospital
Rausch
Razzia
Verlust
Schafott
Epilog
Impressum neobooks
Haftungsausschluss
Fiktiv.
Prolog
Es gab noch keine Schnurlostelefone. Lediglich Behörden, wohlhabende Haushalte und einige größere Unternehmen verfügten über einen leitungsgebundenen Telefonapparat, der über Nummernschaltern zu bedienen war. Die analogen Geräte kamen klobig daher, nicht selten diente der robuste Hörer als Mordwaffe. Rauschen und Leitungsunterbrechungen gehörten zur Tagesordnung. Für die sichere Übertragung von Botschaften nutzte man lieber den eigenen Bewegungsdrang oder getrocknete Tinte und die gelbbraunen Blechkästen mit Schlitz zum Einwerfen. Brieftauben sah man selten, ihre Exkremente dagegen häufiger.
Es gab auch noch keine Fernsehgeräte. Flächendeckende Rundfunkempfänger fluteten erst nach und nach die Haushalte, die sich an den kurzweiligen Unterhaltungssendungen oder den politischen und wirtschaftlichen Neuigkeiten auf der Kurzwelle erfreuen konnten. Beschaffungskosten und Hörlizenzen strapazierten allerdings die gebeutelte Mittelschicht, die zur prosperierenden Oberschicht aufschließen wollte. Den meisten Menschen blieb deshalb der Zugang zu diesem Medium verwehrt. Wieder sollte getrocknete Tinte die erste Anlaufstelle für tagesaktuelle Informationen sein. Zu erwerben an vielen Straßenecken, meistens von laut schreienden, aufdringlichen Kindern, die sich und ihrer Familie ein Zubrot verdienen mussten. Oftmals kaufte man die Ausgabe vom Vortag. In Kaffeestuben fand man dann die neueste Zeitung, durch eine Schnur am Inventar gesichert, mit abgegriffenen, teils verklebten Seiten.
Abhörsysteme beschränkten sich auf den menschlichen Gehörgang, der zwischen Tür und Angel Wortfetzen zu einem Ganzen formen wollte, wodurch Anschuldigungen und Geständnisse zum Vorschein kamen, die unbescholtene Leute in Bedrängnis brachten. Einzig um der Presse einen Sündenbock zu liefern.
Kameraüberwachung im öffentlichen Raum war undenkbar. Nicht weil ein moralisch-ethischer Grundsatz den Einsatz verweigerte oder Bürgerprotest das Glasauge dämonisierte. Sondern weil die Filmkamera einzig für stumme Darbietungen vor dem rasant wachsenden Publikum herhielt, niemand aber die Endlosaufzeichnung vom Stadtleben und, im Zuge dessen, die mögliche Aufklärung von Straftaten im Sinn hatte. Die Euphorie der bewegten, stummen Kunst in Schwarzweiß blieb den Besuchern der Filmtheater vorbehalten. Eine Installation von Kameras beschränkte sich auf die Stative der Filmschaffenden, die nur sehr selten außerhalb ihrer Produktionsstudios drehten, da die unhandlichen Konstruktionen einiges an Gewicht auf die Waage brachten. Ersatz kostete Unsummen, gefährdete sogar die Existenz einiger Visualisierungskünstler.
Erdumrundende Satelliten, anhand derer Daten man Standorte bestimmen und Bewegungsprofile erstellen konnte, kamen einzig in den abwegigen Fantasien belächelter Pioniere vor, die im Stillen selbst an ihren abstrusen Gedanken zweifelten und im selben Atemzug die nahende Apokalypse prophezeiten.
Professionelle Obduktionen im Leichenhaus klinischer Fakultäten suchte man vergeblich. Ein Bereitschaftsarzt verdiente sich etwas dazu, wenn er der Polizei eine Leiche sezierte. Den vollständigen Bericht konnte ohnehin kein Nichtmediziner entschlüsseln. Einige wenige ambitionierte Karrierekonstabler rühmten sich damit, aus den akademischen Hieroglyphen herauszulesen, was der Pathologe gemeint habe, aber letztlich schaute jeder nur auf die Bemerkung über die allgemeine Todesursache: natürlich oder unnatürlich. Kreislauf des Lebens oder mögliches Verbrechen. Auch kannte man Fingerabdrücke, Speichelproben oder zielgerichtete Bluttests noch nicht. DNA war für den Großteil der Bevölkerung das Akronym für Deutscher Normenausschuß und nicht das englische Kürzel für Desoxyribonukleinsäure: die Trägerin der Erbinformation und der genetische Fingerabdruck, der einige Dekaden später tausende Verbrechen aufklären sollte.
Statt digitalisierter Datenbanken, die dank hochkomplexer Algorithmen das nächste Delikt vorausberechnen konnten, mussten hartnäckige Ermittler mit, dem Verfall ausgesetzten, Karteikarten vorliebnehmen, die im besten Falle Name, Adresse, bekannte Vorstrafen und Foto des Verdächtigen beinhalteten. Die Qualität der Polizeifotos war zumeist schlechter als das gezeichnete Fahndungsbild, das oft als Ersatz herhalten musste. Wenn man Glück hatte, stimmten Adresse und Foto noch. Das Vorstrafenregister glänzte selten mit Vollständigkeit.
Zeugen meldeten sich nur spärlich bei den Behörden, weil man Angst vor Verleumdung seitens der Nachbarschaft hatte. Die Polypen genossen nicht den besten Ruf. Die wenigen Zeugenaussagen waren meist kaum verwertbar, da es zu Übertreibungen und Ausschmückungen kam, die geisterhafte Erscheinungen oder sonstige übernatürliche Phänomene in ein lückenhaftes Lügengebilde integrierten. Viele Verbrechen blieben auch unaufgeklärt, weil es weder Opfer, noch Tatort, noch Anzeige gab. Die daraus resultierende Dunkelziffer versetzte Statistiker in blankes Entsetzen.
Die Beweissicherung steckte in den Kinderschuhen. Der Ort der Straftat war oftmals schnell verwüstet. Schaulustige, die sich am Leid anderer ergötzten. Journalisten, die für jeden Zeitungsartikel Geld abstauben konnten - je kruder und detailreicher, desto erträglicher. Schutzpolizisten, die vorgenannte hinter die gedachte Absperrung drängten, um daraufhin selbst erst einmal die Umgebung zu erkunden.
Auf frischer Tat lautete die Devise. Schüsse und Schreie hallten ab und zu durch die Straßen. Wurde die Tat von exekutiven Trillerpfeifen angekündigt, bejubelt oder verurteilt, konnte man damit rechnen, dass präsente Polizeipatrouillen den oder die Täter festzusetzen gedachten. Ansonsten glich die Stadt einem löchrigen Pulverfass. Die einzelnen Schwarzpulververluste entzündeten sich energisch, verpufften jedoch genauso schnell wieder. Hier dämmte die Schutzpolizei ein, uniformiert unterwegs. Dort kämpfte die Kriminalpolizei gegen die Austrittslöcher, mit weniger Kollektiv, sondern eher kognitiv. Es musste verhindert werden, dass die einzelnen Schwarzpulverspuren in brennendem Zustand zurück zu ihrem explosiven Mutterschiff wanderten.
Tötungsdelikte mit geräuschlosen Utensilien erforderten die lauten Rufe von Umstehenden, um das flotte Eingreifen der Schutzmänner zu gewährleisten, was dem Ermittlungserfolg zuträglich war. Andernfalls fischten die Beamten des Öfteren im Trüben. Dann verfolgten sie die Methodik von Köder und Streuung. So viel Appetithäppchen wie möglich auf den größtmöglichen Radius verteilen und warten, bis der nervöseste Fisch anbeißt.
Angesichts der Untätigkeit der Kriminalisten bestanden nicht unerhebliche Unterschiede zur Schutztruppe, die präventiv und aktiv agierte, bei Wind und Wetter, gegen zuschlagende Diebe und räuberische Gewalttäter. Die Kriminalisten, dagegen, konnten nur herumsitzen und warten, bis der getretene Hund bellte oder der morgendliche Hahn krähte, ferner das Telefon klingelte. Ein regelrechter Graben entfaltete sich zwischen den beiden Polizeigattungen. Die uniformierten Männer der Schutzpolizei, der Schupo, hatten nicht selten Vorbehalte gegen die im feinen Zwirn auf ihren Ärschen hockenden Schaumschläger der Kriminalpolizei, der Kripo.
Unfall
Gideon Voss war so ein Schaumschläger. Nicht weil er übermäßig klug und dadurch prädestiniert für den Kriminalkommissar war oder weil er eine ausgezeichnete Vorgeschichte in seiner Vita stehen hatte, die seine steile Karriere begünstigte, sondern weil das Neunte Polizeirevier im öden Randgebiet der Stadt einen Kommissar brauchte, der die Nachtschicht übernahm, sprich am Telefon auf einen Anruf wartete. Da chronischer Personalmangel herrschte, vor allem im verpönten Beruf des Polizisten und in den Nachtstunden, hatte er sich gemeldet. Als versehrter Schutzpolizist, der der Stadt auf der Tasche lag, weil er nur noch für den Innendienst geeignet war, hatte man ihn sehr geschwind nach oben befördert. Nach oben, weil es einen Aufstieg im Dienstgrad bedeutete, aber auch nach oben, weil er in seinem Revier vom Erdgeschoss in den ersten Stock ziehen durfte, wo die Kriminalpolizei mit ihren Büros über den Mannschaftsräumen der Streife laufenden Schutzpolizei thronte.
Ein Vorfall hatte seine Laufbahn bei den Uniformierten rasch beendet und ihn ins Revier gesperrt: Pflege der Ausrüstung, Empfangsdame, Essensversorgung der Mannschaft. Seine unterdurchschnittlichen Leistungen hatten ihn schnell unbeliebt gemacht, denn beim persönlichen Wohlfühlbereich endete die Kollegialität. Er hatte einfach keine Lust gehabt, seinen Kameraden den Mund abzuwischen. Den Dienst nach Vorschrift, sofern es für das Geschirrspülen eine Vorschrift gab, erledigte er an der Grenze zur Arbeitsverweigerung. Dafür hatte er sich im städtischen Dienste nicht über den Haufen schießen lassen.
Voss mochte die Nachtschicht. Die Schutzpolizei reduzierte auf die Hälfte, was den Geräuschpegel erheblich verminderte, und im ersten Stock des Gebäudes verrichtete er allein seinen Dienst, denn die Kriminalpolizei hielt nachts nur einen Beamten in Bereitschaft, zumindest im Neunten Bezirk, im Randgebiet der Stadt. Durch den Zwiespalt zwischen Ordnungshütern der einen Seite, unter ihm, und Ordnungshütern der anderen Seite, seine Seite, musste er auch nicht befürchten, dass ihn jemand störte. Es sei denn, seine Befugnisse waren von Nöten, was äußerst selten vorkam. Verbrechen, die seiner bedurften, wurden zumeist erst am nächsten Morgen gemeldet, was dann der Tagdienst übernahm. Er vertrieb sich die Zeit mit zwei Dingen: Schuhe und Schokolade.
Voss trug seine pechschwarzen Haare glatt nach hinten gestrichen, gehalten von einer dicken Schicht Pomade. Sein Gesicht war glattrasiert, wie das der modische Herr von damals bevorzugte. Ein schlichter Anzug machte ihn auf der Straße unsichtbar, wenn er nicht sein Beinholster mit der Pistole umgeschnallt hatte. Das übliche Schulterholster, das in zivil verdeckt unter der Jacke getragen wurde, engte ihn ein und schabte über die Wunden auf seinem Rücken, die ihn seit dem Vorfall stigmatisierten.
In seinem Büro – ein kleiner Raum mit zugemülltem Schreibtisch, den er sich mit den Tagschichtlern teilte – schlüpfte er aus seinen Schuhen und genoss die Freiheit, lediglich das Gewebe der Socken zwischen Fußsohle und Teppichboden zu haben. Viel wichtiger war jedoch sein routinemäßiger Usus seine Schuhe akribisch zu putzen. Jede Nacht.
Immer wenn er seine einsamen Stunden absaß, wichste er, bis der Arm krampfte und seine schwarzen Schuhe glänzten. Dabei beeilte er sich keineswegs. Er hatte genügend Zeit. Wenn er mit einem Schuh fertig war, gönnte er sich eine Pause, wo er seinem anderen Laster nachging. In der Schublade lagerten golden eingewickelte Schokoladentaler. Jeden einzelnen entpackte er voller Vorfreude. Genüsslich schob er sich die Taler in den Mund, ließ sie für eine Weile auf der Zunge zergehen und zerkaute anschließend den Rest. Wäre er nicht allein gewesen, hätte man ihn gebeten, nicht bei jedem Kiefermalmen lustvoll zu stöhnen. Aber so konnte er sich dem Spektakel ohne Bedenken hingeben.
Die Nacht war sein Freund. Er hasste den Trubel des Tages, hasste die Helligkeit und die Wärme der Sonne, hasste die Offenheit, die jeden Makel offenbarte. Nachts ist der Mensch ein schwaches, verletzliches Tier; braucht künstliches Licht, um zu sehen; fürchtet sich vor allem und jedem. Voss konnte sich in der Finsternis frei bewegen. Er bestimmte, wer ihn sehen und hören durfte, was er preisgab und was nicht. Aber er musste diese dunkle Tageszeit erst schätzen lernen. Dafür hatte er diesen Vorfall benötigt, der ihn aus seinem bisherigen Leben herausgeschleudert hatte.
Nicht nur seine Patrouillentauglichkeit verlor er durch die Kugeln eines hinterhältigen Bankräubers, die ihn rücklings durchsiebten. Auch seine Frau entschied sich für den einfachen Weg und war verschwunden, als er eines Tages noch auf Krücken nach Hause kam. Einzig der Kater war ihm geblieben. Eine Erinnerung an sie, denn es war ihre Katze gewesen. Anubis hieß der kleine Racker.
Seitdem seine Frau Hals über Kopf das Weite gesucht hatte, schlief Voss nicht mehr richtig. Der Mond zog ihn an, trat an ihre Stelle. Voss war süchtig nach ihm. Das nächtliche Umherwandeln hatte seinen Schlafrhythmus zerstört, wie auch einige Tassen, die er im Delirium auf einen imaginären Tisch stellen wollte. Also hatte er beschlossen die Nacht zu seinem Tage zu machen. Die vakante Stelle des Nachtkommissars kam ihm da gelegen entgegen. Er hatte keine Sekunde gezögert.
In aller Seelenruhe widmete er sich dem zweiten Schuh. Er rubbelte daran, bis die trübe Wichse Glanz aus dem Leder herauskitzelte. Zufrieden stellte er die Treter neben den Schreibtisch. Sein Blick glitt zu den großen Zeigern der Wanduhr – die Geisterstunde war vorüber. Wie sonst auch, griff er blindlings in die Schublade, um sich weitere Schokoladentaler zu gönnen. Er tastete den Hohlraum ab, als er merkte, dass keine mehr da waren. Erschrocken schaute er hinein. Seine nervlich angeschlagene Hand hatte Recht. Selbst die eiserne Reserve im hintersten Eck der Schublade war aufgebraucht. Anscheinend hatte er nach dem ersten Schuh ordentlich zugeschlagen. Die Gedanken an den Vorfall und seine Frau trieben ihn zum Exzess.
Voss überlegte kurz. Robert Schumann hatte Innendienst im Erdgeschoss. Einer der Kollegen, die die Mauer zwischen Schupo und Kripo ignorierten. Und das Beste an Schumann: er mochte die Goldtaler genauso gern. Sicherlich hatte der sich einen kleinen Vorrat für die Nacht mitgebracht. Voss schlüpfte in die frisch gewienerten Schuhe. Auf die Jacke oder das Pistolenholster verzichtete er. Schließlich musste er lediglich ein paar Treppen hinunter, betteln und die Treppen mit vollen Händen wieder hinauf. Ein letzter Blick auf den Telefonapparat. Das schrille Klingeln riss ihn immer aus seinem Dämmerzustand, auch wenn dies sehr selten vorkam.
Im Erdgeschoss suchte Voss nach Schumann, dem bulligen Bullen. Der Empfangstresen war unbesetzt und im Aufenthaltsraum döste auch keiner. Die Streifentrupps mussten allesamt auf der Straße sein. Und Schumann? Voss krallte sich eine Taschenlampe vom Tresen. Nachts wurde die Gebäudebeleuchtung heruntergefahren. Zu dunkel fürs Berichtetippen, zu hell fürs Schlafen. Geradeso ausreichend, um zu überleben.
»Schubi!« Voss hielt die als Patsche geformte Hand vertikal an den Mund, um den Ruf zu verstärken. »Schubi!«
Schumann war der einzige Schutzpolizist, mit dem er zurechtkam. Möglicherweise lag das am geteilten Bedürfnis für Schokolade. Oder es lag an der gemeinsamen Vorliebe für die Nachtschicht. Oder am Händchen für einseitige, volatile Frauengeschichten.
»Ja?«, schallte es aus dem Nebengang, der zu den Toiletten führte.
Voss lachte. Schumann schien eine große Notdurft zu verrichten, so gepresst wie das Lebenszeichen durch den Flur drückte. »Hast du Taler dabei?«
Die nächste Antwort ließ auf sich warten. Voss wusste, dass Schumann abwog, ob er das Geheimversteck verraten sollte oder nicht.
»Aber lass mir was übrig!«, kam aus der hinteren Ecke des Ganges.
»Ja-ha«, erwiderte Voss. »Wo hast du sie?« Er erforschte bereits den Eingangstresen und dessen Schubladen. Dafür eignete sich die Taschenlampe hervorragend.
»Unter meinem Helm.« Die Anstrengung der Ausscheidung schwang mit. Geräusche echoten. Offenbar rächte sich der hohe Zuckerkonsum.
Voss hob die Pickelhaube am Augenschirm hoch. Der Polizeistern vorn reflektierte das ausgesendete Licht der Taschenlampe. Darunter eröffnete sich ein wahrer Goldschatz.
»Die Hälfte?«, brüllte Voss nach hinten. Er teilte den Berg an Schokoladentaler gleichmäßig in zwei Hügel.
»Meinetwegen«, meckerte Schumann genervt, wegen der Kombination aus eigener Darmtätigkeit und fremder Schnorrerei.
Als Voss mit seiner Beute wieder nach oben schlendern wollte, stürmte ein Junge von vielleicht zehn Lenze herein. Er schnaufte erschöpft. Seine Augen huschten wild umher.
»Sie müssen helfen!«, rief der Junge und zeigte nach draußen. »Da brennt jemand!«
Perplex schüttelte Voss den Kopf. Er dachte gehört zu haben, dass da jemand brannte. »Wie bitte?«
Das Straßenkind trug alte, zerrissene Klamotten über dem ungewaschenen Leib. Eingefallene Wangen und ausgehöhlte Augen zeugten von Mangelernährung.
»Schnell!« Der Junge schnappte des Kommissars Hand und zog ihn zur Tür.
Die Taler prasselten zu Boden. Im Gehen stibitzte Voss sich mit der Taschenlampenhand Schumanns Dienstjacke vom Haken, denn draußen war es kalt.
Der Junge rannte voraus. Die Laternen beleuchteten alle paar Meter Asphaltdecke und Gehweg. Fahrzeuge parkten am Bordstein. Feste Bedachung löste allmählich das Stoffverdeck der Karossen ab. In fast allen Häusern dominierte Dunkelheit – Schlafenszeit. Einige wenige Mietshäuser ragten mehrstöckig zum Himmel. Die in diesem marginalen Stadtteil überwiegenden Gewerbe- und Industriegebäude bevorzugten eher breitgefächerte Bodennähe statt die Nähe zu Gott. Der Himmel war klar. Man konnte die Sterne sehen, weil die Betriebe und deren Schlote stillstanden und innehielten.
Voss’ Atem formte Wölkchen, durch die er hindurchrannte. Trotz der vielen Schokolade war er gut in Form, weil er manchmal wie ein Fanatiker dem Bewegungsdrang frönte – am Boxsack im Keller des Reviers. Nach ein paar Biegungen dachte er an seine Pistole, die im Holster auf dem Schreibtisch lag. Der Junge könnte ihn direkt in einen Hinterhalt locken – Erinnerungen an den Bankraub, den er nicht vereiteln konnte, wurden wach. Mehr als eine schlagbereite Taschenlampe hatte er nicht dabei. Als der Feuerschein an der nächsten Ecke die Nacht erhellte, verwarf er alle Flucht- und Selbstverteidigungsgedanken.
Vor ihm lag eine Frau mitten auf der Straße und fackelte vom Oberkörper aufwärts. Geistesgegenwärtig entledigte er sich Schumanns Polizeijacke, warf diese auf die Frau und klopfte mit den Händen das Feuer aus. Flammen attackierten ihn, versuchten durch die Baumwollschicht der Jacke zu schlagen. Er wollte die Frau ungern treten, weshalb er die Hände benutzte, um den Brand auszuklopfen. Nach schier unendlichen Sekunden dampften Frau und Jacke nur noch. Voss bezeichnete sich zwar nicht als Doktor, aber den Tod der erstarrten Frau konnte er zweifelsohne feststellen. Ihr Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Jäckchen und obere Hälfte des Kleides waren mit ihrer Brust verschmolzen. Ihre Arme hatten sich unnatürlich gekrümmt. Die Finger hatten sich zusammengezogen und maßen nur noch ein Drittel ihrer ursprünglichen Größe. Es stank nach verbranntem Fleisch. Und Benzin.
Voss erhob sich. Der Junge war weg. Erst jetzt spürte er den Schmerz, der von seinen Handinnenflächen ausging. Er drehte die Hände, um den Grund zu erfahren – Brandblasen. Kalte Blitze bohrten sich unablässig in seine Haut. Sie wechselten sich ab mit stechenden Wellen, die ihm bis in den Schädel zogen. Die niedrige Außentemperatur gab ihm den Rest. Er begann zu zittern.
Der Knabe hatte ihn in eine ruhige Seitenstraße geführt, die von den hohen Mauern zweier Betriebsgelände eingepfercht wurde. Leuchtende Laternen gab es lediglich zu Beginn und am Ende der Straße. Mittendrin labte sich die Dunkelheit am Sparzwang der Stadt. Ein idealer Tatort.
Seine Augen mussten sich erst noch an die Lichtarmut gewöhnen. Das helle Feuer hatte ihn vorübergehend geblendet. Mit der Zeit erkannte er genauere Strukturen. Ein Fahrzeug war gegen eine Litfaßsäule gekracht. Frontal. Der Motorraum glich einem zusammengedrückten Akkordeon. Die Fahrertür stand offen, genau in der Flucht der Toten. Er suchte die Taschenlampe, die irgendwo auf der Straße liegen musste. Nach ein paar unbeholfenen Tastversuchen fand er sie und nutzte den mobilen Scheinwerfer für eine genauere Erkundung. Das Gestell in seiner Hand drückte zwar auf die Brandblasen, aber er biss die Zähne zusammen.
Die Frau war verbrannt. Neben ihr entdeckte er eine halbgerauchte Zigarette. Wenn er die Taschenlampe abwendete, konnte er ein leichtes Tabakglimmen in der Papierrolle sehen, das sich noch gegen die Dunkelheit behaupten konnte. Das Auto war Schrott. Sie schien zu Beginn Glück gehabt zu haben, dass sie der Aufprall nicht umbrachte. Der Fahrerraum war noch gut intakt. Er prüfte die Sitzflächen. Einzig auf dem Fahrersitz konnte er einen langsam zurückweichenden Abdruck sichten. Die Frau musste allein unterwegs gewesen sein. Als er tiefer in das Fahrzeug hineinschaute, bohrte sich Benzingeruch in seine Nase. Er nickte sich zu, als ob er eine Liste abarbeitete. Der Kofferraum war leer. Wie erwartet. Zwischen Fahrzeug und Frau erspähte er kleinere Flecken. Wahrscheinlich Benzin. Von der Straße zur Litfaßsäule konnte er Bremsspuren ausmachen.
Der Kriminalkommissar verknüpfte das Gesehene und stellte das Geschehene nach: die Frau verliert die Kontrolle, prallt gegen den Werbepfeiler, schleppt sich aus dem Wrack, zündet auf den Schreck eine Zigarette an, obwohl sie mit Benzin besprenkelt ist, und verbrennt.
Um sicher zu gehen, leuchtete er das Umfeld noch einmal ab. In Wurfweite zur Zigarette fand er ein benutztes Streichholz. Woran hat sie es entzündet? Er suchte weiter, bis er auch die dazugehörige Schachtel entdeckte. Zu leicht. Er klopfte sich gedanklich auf die Schulter.
Danach machte er sich daran, die Frau in der Hocke zu inspizieren. Vorsichtig entfernte er Schumanns verkohlte Jacke von ihr. Mit der Taschenlampe stocherte er in den ausdampfenden Überresten ihres Jäckchens herum. Die Innentaschen, soweit noch funktionstüchtig, beherbergten keinerlei Ausweisdokumente, auch nicht versengt. Unter dem halbverschmorten Kleid wollte er nicht stöbern. Das überließ er dem Arzt.
Voss erhob sich. Mit der Taschenlampe leuchtete er die Straße auf und ab. Absolut niemand verlor sich um diese Uhrzeit in diese Straße, die tagsüber hauptsächlich dem Lieferverkehr diente. Bis auf den Jungen gab es keine Zeugen. Der Junge! Er schnalzte mit der Zunge. Selbst bei einer Gegenüberstellung würde er den Knaben nicht eindeutig identifizieren können.
Eine vierköpfige Fußpatrouille der Schupo kam auf ihn zu. Deren Taschenlampen versperrten ihm zwar die Sicht, aber das Ausbleiben der Trillerpfeifentöne und das Kichern der Kollegen sagten ihm, dass sie ihn erkannt hatten.
»Voss, du Sesselfurzer, was hast du angestellt?«, fragte einer amüsiert. Als er das Opfer sah, blieb ihm das Lachen im Halse stecken. Ein Kanon aus Raunen folgte. Wurden zuvor noch die Schlagstöcke heiter geschwungen, packten die Kameraden den Meinungsverstärker aus Pietätsgründen weg.
»Sichern Sie die Unfallstelle«, sagte Voss sachlich. »Ich laufe zum Revier und schicke ihnen Unterstützung. Die Frau ist tot.«
Mit dem Versuch das Nummernschild des Fahrzeuges im Kopf zu behalten, trat er den Rückweg zum Revier an. Die Unfallaufnahme und die Beseitigung der Trümmer waren Aufgaben der Schupo. Kälte, Brandblasen und der Gestank von verbranntem Mensch machten ihm zu schaffen. Außerdem musste er Schumann erklären, warum dessen Jacke nicht mehr am Haken hing.
Zurück auf dem Revier erwartete Voss der bullige Bulle. Die Goldtaler auf dem Boden waren eingesammelt und wahrscheinlich wieder unter der Pickelhaube versteckt. Ehe Schumann zu einem Satz ansetzen konnte, hob Voss die Hand.
»Warte! Bevor du etwas sagst, gib mir Zettel und Stift!« Er schloss die Augen, damit er die Blechplatte vor Augen sehen konnte, nahm die geforderten Utensilien mit zugekniffenen Lidern und schrieb auf den Tresen gestützt nieder, was er dachte, gesehen zu haben. Oben zwei Buchstaben, darunter eine Reihe Ziffern.
»So, jetzt«, gab er anschließend Schumann Gelegenheit für eine Tirade.
»Voss, wo ist meine Jacke?«
Das war ihm sofort aufgefallen, schmollte Voss, während seine Hände schmerzten und er nach Ruß und Benzin stank.
Schumanns Hosenträger spannten um den Bauch. Jeden Moment konnten sie reißen und jemanden verletzen. Ohne die Jacke mit der vertikalen, silbernen Knopfreihe und den silbernen Schulterabzeichen, ähnelte er einem Fabrikarbeiter, mit dem Unterschied, dass Schumanns Hemd noch sauber war.
Voss schob den Zettel zu ihm. »Kannst du in der Kartei nachschauen?«
Der korpulente Kerl schüttelte den Kopf. Nicht weil er die Bitte ausschlug, sondern weil er wissen wollte, was Voss wieder angestellt hatte. »Was ist passiert?«
»Ein Unfall«, nickte er zur Tür hinaus. »Eine Frau ist gegen einen Werbepfosten geknallt und verbrannt.«
Schumann machte große Augen. »In ihrem Auto verbrannt?«
»Auf der Straße. Das Auto ist nur zusammengestaucht. Deine Kollegen sichern schon die Unfallstelle.« Voss schaute sich im Revier um. »Sind die anderen Trupps schon wieder zurück?«
Schumann verneinte.
»Dann ist es deine Aufgabe, alles in die Wege zu leiten«, er gestikulierte zum Telefon, »Du weißt schon, die ganze Benachrichtigungskette.« Dann zeigte er nach draußen. »Und das Absperrmaterial hinschaffen.«
Voss sah sich einem mürrischen Gesicht gegenüber.
»Vergiss das Nummernschild nicht«, tippte er auf den Zettel, der noch auf dem Tresen lag.
Schumann deutete mit dem Daumen der Faust in das hinter dem Tresen befindliche Karteiarchiv. »Das kannst du machen, wenn du schon hier bist.« Er nahm den Hörer von der Gabel und ließ die Ziffernwahlscheibe rotieren. »Ich habe zu tun!«
Nachdem Voss den letztgenannten Halter des Fahrzeuges ermittelt, Jacke und Filzhut von oben geholt und sich den gefüllten Pistolengurt um den Oberschenkel geschnallt hatte, fuhr er in die Innenstadt – raus aus seinem Zuständigkeitsbereich. Die Fahrzeuge der Kripo waren ausgemusterte Streifenwagen der Schupo, entsprechend abgegriffen präsentierten sich die Teile, die durch viele Hände gegangen waren: Lenkrad, Schaltknauf, Türgriff. Die verkalkte Scheibe erschwerte ihm die Sicht. Zum Glück regnete es nicht, sonst hätten ihm Straßenlaternen und der wenige Gegenverkehr die Sicht geraubt. Die spröden Dichtungen der Karosserie baten die kühle Außenluft herein, weshalb er mit den Zähnen klapperte.
Er behielt es für sich, weil er kein Fass aufreißen wollte, aber einen Mord konnte er nicht ausschließen. Hätte er aus dem Unfallort einen Tatort gemacht, hätte er einige Leute aus dem Bett schmeißen müssen, wäre stundenlang vor Ort geblieben und am nächsten Morgen nur kurz heimgefahren, um Anubis zu füttern. Mit dem Tagschichtler hätte er dann zusammenarbeiten müssen. Nur dass dieser ausgeruht gewesen wäre, während Voss die Nacht, Kälte und Verbrennungen hinter sich gehabt hätte. Zudem hätte er einen ellenlangen Bericht schreiben müssen, der durch unzählige Instanzen gewandert wäre, die alle Revisionen verlangt hätten. Schon der Gedanke an den Haufen Arbeit fröstelte ihn. Zusätzlich zur einstelligen Grad-Celsius-Zahl und den pulsierend pochenden Brandblasen an seinen Händen, die Lenkrad und Schaltknauf bedienen mussten.
Vorm Nachtklub Zum Mond stellte er den Wagen halb auf dem Bordstein ab. Trotz der Uhrzeit torkelte die umfangreiche Laufkundschaft fröhlich umher und störte sich nicht an der Einengung des Gehweges. Ein paar besonders lockere, frohlockende Gesellen klopften im Vorbeigehen auf die Motorhaube und grüßten den Zivilpolizisten. Als Voss ausstieg wollte der Nachtklubportier mit Frack und Zylinder schon die Stimme erheben, doch Voss zeigte auf die sieben weißen Letter an der Seitentür des Wagens: POLIZEI. Ohne weitere Worte betrat Voss den Klub. Er musste nicht einmal seinen Dienstausweis vorzeigen, so eingeschüchtert ließ der Portier ihn gewähren. Möglicherweise trug die Waffe am Bein ihren Teil dazu bei.
Das Etablissement wartete mit sanfter Musik, weiblicher Bedienung und viel Zigarettenqualm auf. Das zart gespielte Saxophon wurde von einer rhythmischen Trommel begleitet, deren Stöcke gefühlvoll über das Fell gezogen wurden. Ein Kontrabass lieferte die tiefen Frequenzen, die das Publikum in einen entspannten Modus versetzten. An den dutzenden, runden Tischen saßen Herren von der gehobenen Mittelschicht aufwärts. Von Schweiß und Erregung glänzende Glatzen versuchten sich zu übertrumpfen. Es wurde sich in Rage geschwatzt, ergänzt durch dröhnendes Gelächter. Aufreizende Damen mit federbesetzten Kleidchen drapierten sich an den generösen Gentlemen.
Voss betrachtete die gelassene Stimmung. Rauchschwaden hüllten die Gäste ein und sammelten sich unter der Decke. Er nahm den grauen Filzhut ab. Dann suchte er sich einen freien Tisch am äußersten Rand. Da er keinen fand, holte er seinen Dienstausweis hervor und vertrieb ein ausgelassen herumknutschendes Pärchen mit enormem Altersunterschied in einer düsteren Nische von den Stühlen. Mehr Angst hatte das Pärchen vor der offengetragenen Pistole.
Einen Augenblick nachdem sich Voss hingesetzt hatte, trat eine Bedienung an ihn heran, die ihn stark an seine geflohene Frau erinnerte. Sie hatte helle, lockige Haare, X-Beine und eine allgemein instabile Haltung, als würde sie jeden Moment zusammenklappen – wie eine Marionette, deren Puppenspieler die Zügel lockerte. Sie starrte ihn fragend an.
»Limonade und den Chef, bitte«, bestellte Voss. Auch ihr hielt er seinen Dienstausweis vor die Nase.
Ungerührt von der Autorität legte sie den Kopf schief und zog die eine Hälfte der Oberlippe nach oben, um zu signalisieren, dass sie nur eine Bestellung aufnehmen und nicht in eine polizeiliche Ermittlung geraten wollte. Etwas passte ihr nicht. Dieselbe Mimik wie bei seiner Frau, wenn sie genervt war. Die, zugegeben, hübsche Kellnerin konnte nichts dafür, aber Voss mochte sie jetzt schon nicht.