Читать книгу: «Prinz der Wölfe»

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Autoren: Dave Gross

Deutsch von: Jan Enseling

Lektorat: Janina Wiesler

Korrektorat: Kathrin Dodenhoeft

Satz: Oliver Graute


In Zusammenarbeit mit:


© Dave Gross 2010

© der deutschen Übersetzung Feder & Schwert 2017

Originaltitel: Prince of Wolves

E-Book-Ausgabe 2017

ISBN 978-386762-278-3

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-86762-277-6

Prinz der Wölfe ist ein Produkt der Feder & Schwert GmbH unter Lizenz von Ulisses Medien & Spiel Distribution GmbH. Alle Copyrights mit Ausnahme dessen an der deutschen Übersetzung liegen bei Dave Gross. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck außer zu Rezensionszwecken nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Die in diesem Buch beschriebenen Charaktere und Ereignisse sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit zwischen den Charakteren und lebenden oder toten Personen ist rein zufällig. Die Erwähnung von oder Bezugnahme auf Firmen oder Produkte auf den folgenden Seiten stellt keine Verletzung des Copyrights dar.

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Für meinen Freund Pierce Watters

Prolog

Radovan erwacht im Dunkeln. Das hier ist kein Traum.

Er liegt auf dem Bauch, und eine nach Knoblauch schmeckende Masse füllt seinen Mund. Er würgt und schiebt den ekelhaften Klumpen mit der Zunge heraus. Er fühlt, dass seine Arme hinter seinen Rücken gedreht und die Daumen eng mit etwas zusammengeschnürt sind, das sich wie eine raue Schlinge anfühlt. Er riecht Kiefernharz, und seine rechte Wange klebt am Boden. Ist er an Deck?

Quälender Schmerz explodiert plötzlich in seinem ganzen Körper, knallt gegen seinen Hinterkopf, donnert sein Rückgrat hinauf, hämmert tief in seinen Schulterblättern und dringt schließlich bis in seine Knie und Schienbeine. Er krümmt und windet sich, da der Schmerz fast unerträglich scheint, doch eine Welle der Übelkeit rollt über ihn hinweg, und er kann nicht sagen, ob ihm allein durch die Bewegung so übel wird. Seine Gedanken rasen – wie konnte er so schnell wieder auf das Schiff gelangt sein? Das hier ist kein Traum.

Er beißt die Zähne zusammen und rutscht nach rechts, wobei seine schmerzende Schulter gegen die Wand gedrückt wird. Er drückt den Rücken durch, und sein Kopf stößt gegen ein weiteres Hindernis, das nur wenige Zoll über ihm ist. Er versucht, seine Knie zu heben, doch sein Hintern stößt ebenfalls gegen die niedrige Decke. Befindet er sich auf einem Zwischendeck? Er kippt nach rechts, und der Boden bewegt sich mit ihm. Eine gedämpfte Stimme auf der anderen Seite der ihn umgebenden Wände schreit so etwas wie: „Der Teufel am Leben!“ Radovan ist sich über die genauen Worte nicht im Klaren. Sein Varisisch ist noch immer ziemlich holprig, aber er begreift, dass er in einer Kiste liegt.

In einem Sarg.

„Am Leben!“, brüllt er, aber seine Zunge fühlt sich taub an von dem Knoblauch, der sich in seinem Mund für wer weiß wie lange aufgelöst hat, bevor er ihn ausgespuckt hat.

Er glaubt zu rufen: „Lasst mich raus!“

Der Sarg kippt hart von einer Seite zur anderen und schwankt, bevor die Männer ihn mit dem Deckel nach unten abstellen. Die Stimmen beginnen zu streiten, und Radovan kann nur wenige Worte verstehen: Sie klingen wie „tot lebendig“, „tot nicht tot“, „Teufel“ und „Fluch“. Er nimmt sich einen Moment Zeit, um darüber nachzugrübeln, warum er mit dem Gesicht nach unten liegt, und auch, warum seine Daumen zusammengeschnürt sind. Dann konzentriert er sich darauf, was er dagegen unternehmen kann.

Wieder hebt er die Knie an, versucht, den Übelkeit erregenden Schmerz zu ignorieren, und drückt gegen den Sargdeckel. Ein Sargnagel quietscht, gibt aber kaum nach. Er hat keinen Platz, kann sich nur mühsam winden und kaum bewegen. Trotzdem schafft er es, mit seinem Gewicht die Ränder des Sarges anzuheben – bumm, bumm, bumm.

„Am Leben!“, schreit er. „Nicht tot! Nicht tot!“

Schritte ziehen sich von dem Sarg zurück, und die Männer draußen senken ihre Stimmen und beraten sich. Radovan hofft, dass sie ein Brecheisen holen, ein paar Hämmer, eine Axt – irgendetwas, um ihn aus diesem Sarg herauszuholen. Er ist früher schon durch recht enge Öffnungen gekrochen, manchmal durch Abwasserrohre und einmal sogar durch einen außergewöhnlich widerwärtigen Abort, um in das Gewölbe unter dem Haus eines chelischen Adligen zu gelangen – immer begleitet von dieser beklemmenden Angst, die sich in solch engen Räumen an ihn klammert. Jetzt ergreift sie wieder von ihm Besitz, klettert seinen Rücken hinauf wie eine nasse Katze, die aus einem kalten Fluss gekrochen ist.

Er hört, wie sich draußen etwas bewegt, aber nicht beim Sarg. Jemand stapelt etwas in der Nähe auf. Werkzeuge? Waffen? Radovan beschleicht ein unangenehmer Gedanke. Sie schichten Holz auf.

Fieberhaft sucht er in seinem Geist nach einer hilfreichen varisischen Redewendung, doch bevor ihm irgendetwas Vernünftiges einfällt, ist es auch schon wieder weg, und Radovan hält sich an die Brocken Varisisch, die er am besten beherrscht. Nun kann ihn niemand missverstehen. Eine Dirne aus Caliphas hat ihm einmal gesagt, er würde fluchen wie ein wahrer Sohn Ustalavs.

Wieder wird der Sarg angehoben, unsicher getragen von furchtsamen Händen. Er stellt sich vor, wie die Männer da draußen sich so weit wie möglich von der Kiste weg lehnen, weil sie fürchten, der Teufel darin könne ihren Herzen zu nahe kommen. Sie laufen auf die Stelle zu, an der Radovan gehört hat, wie sie das Holz aufgeschichtet haben, und der Sarg fliegt. Radovan spürt für einen kurzen Moment schwerelosen Schwindel, bevor der Sarg krachend auf etwas landet, das ein Scheiterhaufen zu sein scheint, der eines Lindwurmkönigs würdig ist. Die Zweige geben unter dem Sarg nach und brechen, während er bereits das Knistern der brennenden Fackeln hört, als die Männer das Holz entzünden.

Radovan dreht sich, wirft sich hin und her. Die Schnüre schneiden in seine Daumen, und heißes Blut sickert aus seiner Haut. Er tritt gegen die Holzwände, aber das Geräusch der aufsteigenden Flammen ist lauter als der dumpfe Aufschlag seiner nackten Füße.

Die Bastarde haben meine Stiefel geklaut, denkt er. Einen wahnsinnigen Augenblick lang erinnert er sich, wie viel er dem Sattler aus Egorian für diese hübschen, roten Treter bezahlt hat, was seinem Zorn neuen Auftrieb gibt. „Gebt mir meine verdammten Stiefel zurück!“, schreit er. Er bemerkt nicht, dass er in die Gemeinsprache, Taldani, zurückgefallen ist.

Unter sich spürt er die Hitze des Feuers. Ein bisschen Hitze macht ihm nichts aus – er kann eine Metallpfanne ohne Topflappen vom Herd nehmen –, aber schon bald merkt er, dass seine Wimpern versengt werden. Die Flammen sind mittlerweile so hell, dass er sie durch die engen Fugen des Sargbodens erkennen kann. Er weiß, was als Nächstes geschehen wird, und einen Augenblick lang erwägt er, ob es nicht besser gewesen wäre, sich lebendig begraben zu lassen.

Das hier ist kein Traum.

Kapitel eins

Fürstliches Gehabe

Vergib mir, dass ich unsere Korrespondenz statt wie üblich in Briefform in dieses Tagebuch eintrage. Jedoch werde ich auf Grund des Nichtvorhandenseins der wechselseitigen Kommunikation diese Aufzeichnungen aufbewahren in der Hoffnung, dass ich sie persönlich abliefern und in Deine Hände legen kann. Dieses Medium mag etwas informeller anmuten, als Du vermutlich erwartest, und ich hoffe, Du nimmst es im Geiste der Kameradschaft an. Deine Berichte gehören zu den willkommensten, die ich für die Gesellschaft zusammenstelle.

Selbstverständlich bereitete mir die Rücksendung meines nicht zugestellten Sendschreibens Sorgen – umso mehr in Anbetracht des bei mir eingegangenen Berichtes von Doktor Trice, dessen Mangel an Quellen ihn daran hinderte, etwas über Deinen derzeitigen Aufenthaltsort herauszufinden. Natürlich schickte ich eine Anfrage an meine persönlichen Kontaktleute in Caliphas, doch als ich entdeckte, dass die Wisperlilien in meinem Gewächshaus – die verwandt mit den Blumenzwiebeln sind, die Du bei Dir trägst – alle verwelkt waren, verwandelte sich meine Sorge in Furcht. Ich bete, dass es sich nur um ein Missgeschick handelt, welches unseren letzten Kommunikationsweg unterbrochen hat. Ich werde in dem Glauben und in der Hoffnung fortfahren, dass Du auf meine Unterstützung wartest.

Ich muss zugeben, dass meine Besorgnis durch Deine beunruhigenden Andeutungen hinsichtlich des Ziels Deiner Expedition bestärkt wird. Meine Recherchen sowohl bei der Loge in Egorian als auch in meiner eigenen Bibliothek haben nur einige wenige Bezüge auf diesen Lacuna-Kodex zu Tage gefördert. Es scheint, als hätte dieses Werk eine Rolle in dem frühesten Konflikt zwischen den letzten Königen von Ustalav und den Agenten dieses grauenerregenden Leichnams gespielt, der als Wispernder Tyrann bekannt ist. Wenn dem so ist, so würde man allerdings erwarten, den Kodex in der Beuteliste von ­Finismur wenigstens erwähnt zu finden, doch meine Korrespondenten haben nichts dergleichen berichtet.

Die einzige Information, die ich sammeln konnte, bevor ich nach Grünkirchen aufbrach, war ein Hinweis auf einen Folianten eines ähnlichen, grob aus dem Alt-Thassilonischen übersetzten Titels. Wenn dies beides Hinweise auf dasselbe Buch sind, dann ist das darin enthaltene Wissen weit älter, als Du vielleicht annimmst. Schlimmer noch – die mir vorliegenden Informationen weisen darauf hin, dass das Buch seinen Ursprung in den frühesten bekannten Schriften des Kultes von Urgathoa, der Fahlen Fürstin, hat. Meine größte Furcht ist, dass Du in einen Konflikt mit den Anhängern einer neuzeitlichen Zelle dieses schrecklichen Kultes geraten bist, denn die Gräueltaten dieser Nekromanten werden nur noch von der Verderbtheit ihrer Schüler übertroffen. Man kann natürlich nur schwerlich wissen, womit Du rechnest, da seit dem Eingang Deines letzten Berichts mehr als acht Monate vergangen sind.

Selbstverständlich hat solch langes Schweigen nach dem Erhalt so beunruhigender Hinweise meine Sorge nur verstärkt. Du kannst Dir jedoch meine Überraschung vorstellen, als der Zehnerrat selbst Kontakt zu mir aufnahm, um mich über Deinen letzten Bericht zu befragen – eine Anfrage, die ich unglücklicherweise aufgrund des Informationsmangels nicht befriedigen konnte. Zugegeben, zunächst war ich verärgert darüber, dass Du Deine Berichte doppelt gesendet hattest, sodass, wenn auch unabsichtlich, bei meinen Vorgesetzten in der Gesellschaft der Eindruck entstand, dass ich Dich nicht sonderlich bei Deinen Unternehmungen unterstützen würde. Gepaart mit Gerüchten über die jüngsten unglücklichen Ereignisse in meiner Heimatstadt Egorian, unterminierten solche Schreiben das Vertrauen, das der Zehnerrat seit mehr als sechzig Jahren in mich setzt.

Es ist nicht meine Absicht, meiner Sorge außerhalb unseres persönlichen Rapports, der nun schon seit der Zeit besteht als mir Deine Berichte zum ersten Mal überantwortet wurden, Luft zu machen, und ich versichere Dir, dass ich in erster Linie an Deiner Sicherheit und Deinem Erfolg interessiert bin.

Daher bin ich, nur in Begleitung eines Dieners und eines Leibwächters, nach Caliphas gekommen. Ich werde weiteres Dienstpersonal vor Ort in meine Dienste nehmen und Deiner Spur folgen, da ich sicher bin, dass Du sie gründlich und geschickt platziert hast. Wenn ich Dich finde, werde ich Dir dieses Tagebuch übergeben, und Du wirst es als Beweis des großen Wertes sehen, den Deine Arbeit sowohl für die Gesellschaft der Kundschafter als auch für mich, Deinen Freund und Kollegen, Kundschafterhauptmann Varian Jeggare, hat.

Obwohl es ihm an Erfahrung jenseits der Grenzen von Cheliax mangelt, hat mein neuer Diener eine vorbildliche Begabung im Umgang mit Bürokratie an den Tag gelegt, sodass ich die ermüdenden Angelegenheiten, die Reisen durch fremde Lande so mit sich bringen, größtenteils in seine Hände gelegt habe. Unglücklicherweise gingen für das Reisen wichtige Annehmlichkeiten während eines Vorfalls verloren, über den ich immer noch gewisse Verdächtigungen hege, und der Rest der Fahrt nach Caliphas verlief alles andere als angenehm. Für den Moment werde ich es dabei belassen.

Meine Hoffnung ist, dass uns in der Zeit, die wir uns außerhalb unserer Heimatstadt aufhalten, eine Atempause nach den jüngsten Unannehmlichkeiten vergönnt sein wird. Du erinnerst Dich vielleicht, dass mein langjähriger Leibwächter Radovan, eine Waise, eigentlich aus Ustalav stammt. Man kann nur hoffen, dass er, auch wenn er in Cheliax geboren und aufgezogen wurde, etwas Trost bei seinem Volk findet. Ich wünschte mir, er könnte seine Einbeziehung in dieses Unterfangen als Belohnung ansehen, so wie es gedacht war. Hoffen wir, dass er mir keinen Grund liefert, es zu bereuen, ihn in meinen Diensten behalten zu haben.

Es wird mir nun bewusst, dass wir drei – Du, ich und Radovan – den zweifelhaften Segen einer gemischten Abstammung teilen. Sieht man von der geerbten roten Kutsche ab, ist mein elfischer Vater mir unbekannt. Da er bereits in jungen Jahren zur Waise wurde, erinnert Radovan sich kaum an seine Eltern – zumindest hat er mir das gesagt –,

und natürlich weiß er nichts über den infernalischen Vorfahren, der seiner Blutlinie auf ewig den Fluch der Höllenbrut auferlegt hat. Ich verwende bewusst den Begriff „Fluch“, denn obwohl viele sich mit dieser Bezeichnung gedankenlos auf Dich oder mich beziehen würden, hegt das Volk von Cheliax, so verdammt es dafür ist, dass es dem Fürst der Lügen dient, einen akuten Abscheu gegenüber jenen, in deren Adern das Blut der Hölle fließt. Ich für meinen Teil habe mich nie gänzlich in die menschliche Gesellschaft aufgenommen gefühlt, nicht einmal als Kind. Nicht seit dem Tod meiner Mutter und ganz sicher nicht seit dem Aufstieg der Teufelsanbeter des Hauses Thrune. Vielleicht sollten Du und ich die Angelegenheit einmal weiter diskutieren. Ich bezweifle, dass das Thema bei Radovan auf Interesse stößt; er bemüht sich meist, als Mensch durchzugehen.

Unser Schiff erreichte Caliphas vor zwei Tagen, und meine erste geschäftliche Pflicht war eine Unterredung mit Doktor Trice in diesem Irrenhaus, das er als Loge für Kundschafter führt. Sein Gebaren ließ darauf schließen, dass er drauf und dran war, eines Tages selbst zu den Bewohnern seines Hauses zu zählen, und mir ist nicht entgangen, dass die Ortsansässigen ein zynisches Vergnügen daran finden, dass die meisten seiner Patienten ehemalige Kundschafter sind. Unnötig zu sagen, dass ich aufs Äußerste erleichtert war, Dich nicht in seiner Obhut vorzufinden.

Trice bestätigte lediglich, dass Du ihn kurz nach Deiner Ankunft aufgesucht hattest. Er konnte mir jedoch nicht sagen, wohin Dich Deine weitere Suche führen würde. Ich will Dich nicht dafür tadeln, dass Du es unterlassen hast, weitere Informationen mit ihm zu teilen, denn trotz des Kodexes unserer Gesellschaft wird Dich nicht jedes Mitglied so unterstützen, wie ich es bisher getan habe. Ich weiß nicht genug über Trice, um sagen zu können, ob er verlässlich ist, und somit muss ich mich in dieser Sache auf Dein Urteil verlassen.

Nachdem ich von Trice fortgegangen war, dachte ich daran, Radovan loszuschicken, um möglichst viele Informationen auf den Märkten und in den Wirtshäusern zu sammeln, während ich mich wieder mit den Adligen Ustalavs bekanntmachte. Leider hat Radovan nie auch nur das geringste Interesse an der Gesellschaft der Kundschafter gezeigt; im Gegenteil, seine Scherze über unseren „kleinen Verein“, wie er es nennt, grenzen an Unverschämtheiten. Möglicherweise bin ich noch immer verärgert über die Freiheiten, die er sich bei der Erfüllung seiner Pflichten herausnimmt. Von einem Leibwächter erwartet man nicht, dass er einen vor sich selbst schützt.

Bevor ich Grünkirchen in der Obhut meines Vetters Leonzio zurückließ, hatte ich bereits einige Briefe per Eilpost verschickt, und ich hatte das Glück, just vor einer großen gesellschaftlichen Zusammenkunft einzutreffen, bei der Vertreter der meisten Adelshäuser Ustalavs zugegen waren. Viele von ihnen waren mir vorher unbekannt, da die meisten der menschlichen Frauen und Männer, die nun an der Macht sind, während meines früheren Besuches noch Kinder waren. Ich hatte gehofft, jemand unter ihnen hätte Neuigkeiten über Deinen Besuch vernommen. Unglücklicherweise war die derzeitige Generation der ­Adligen Ustalavs weniger gastfreundlich als ihre ­Vorgänger.

Vielleicht bin ich über die Maßen empfindlich, was dieses Thema angeht, doch konnte ich nicht anders als zu argwöhnen, dass ihre Fragen über die reichen Besitztümer in Cheliax verdeckte Anschuldigungen betreffend meines völlig unangebrachten Geschenkes für Fürst Aduard waren. Hätte Radovan nicht solchen Unfug getrieben, hätte ich Seiner Hoheit statt dieses scheußlichen Samowars, den Nicola im Goldviertel gekauft hatte, sechs Kisten des besten Weines verehrt, den die Weingärten meiner Familie bis dahin hervorgebracht hatten. Mit Sicherheit aber nicht weniger als fünf.

Der Abend begann endlich interessant zu werden, als ich mich, wenn auch nur für einen Moment, den unnachgiebigen Nachstellungen der Botschafterin von Westkrone entzogen hatte. Bei meiner Ankunft in Caliphas hatte sie mich in die Botschaft bestellt, um mich einer überflüssigen Belehrung darüber zu unterziehen, dass ich dem Thron während meines Aufenthalts keine Schande machen solle. Sie war ein reizendes, unhöfliches und ungebildetes Ding. Nicht einmal etwas zu trinken bot sie mir an, bevor sie mich abkanzelte, mich, der ich bereits vor der Geburt ihres Großvaters im Auftrag der Krone ins Ausland gereist war.

Ich war dankbar, dass sich ihr Antlitz nicht in der Porträtgalerie an der Südseite des Königspalastes zeigte, in die ich mich zurückgezogen hatte, um ein Glas eines annehmbaren Jahrgangsweines zu genießen. Hinter mir wurden die schrillen Anstrengungen der Musiker des Prinzen gedämpft, als die Diener die Türen zum Festsaal schlossen. In dem Arrangement, das für den Anlass des fünfundsechzigsten Jahrestages des Prinzen eingeübt worden war, konnte ich noch immer die Melodie eines gemeinen varisischen Volksliedes erkennen. Der Titel des Stückes variiert, aber ich habe es immer als „Augen in der Dämmerung“ in Erinnerung, ein Lied, das in meiner Heimat Cheliax sowohl auf dem langen Markt wie auch auf der Bühne der Großen Oper von Egorian gespielt wird, wo ich es zuletzt eingeflochten in die Overtüre von Die Wassernymphe gehört hatte.

Ich genoss die Musik und den Wein, während ich hinaus auf den Königs­platz blickte, dessen zentraler Springbrunnen dem Gründer der Nation, Soividia Ustav, gewidmet war. Die sinkende Sonne verlieh den Zwiebeltürmen des imposantesten Gebäudes von ganz Caliphas, der Großen Kathedrale von Pharasma, einen Glorienschein. Ihre granitenen Wände sogen das Licht eher auf, als dass sie es reflektierten, und ihre eng verflochtenen Verstrebungen erweckten den Eindruck eines aschfarbenen Waldes. Am Fuße des Prachtbaus zündete eine Schar schwarz berobter Adoranten Kerzen an und begann mit der Prozession der Unvergessenen Seelen. Im Zwielicht leuchteten ihre Kerzen heller als Sterne, als sie in einer Reihe die Rampen hinunter und in die Wasser des sich windenden Kanals stiegen, der sich seinen Weg unter die Giebel und das Fundament bahnte. Eine Zeitlang schienen sie einfach zu verschwinden. Eine Kerze nach der anderen erlosch, als ihre Träger in tieferes Wasser wateten. Es war unmöglich, dieser feierlichen Prozession zuzusehen und nicht an die unzähligen Toten zu denken, deren Gräber ausgehoben worden waren, während mein Leben weiterging.

Bevor ich mich der Melancholie ergeben konnte, die schon immer meine größte Charakterschwäche war, tauchte der erste Adorant aus der wässrigen Passage auf der gegenüberliegenden Seite des Kathe­draleneingangs wieder auf. Die Roben der Prozessierenden waren vom Wasser durchtränkt und erlaubten einen Blick auf die bunte Festkleidung unter dem dunklen Stoff, während die Flammen der Kerzen wie durch ein Wunder nach und nach wieder zu brennen begannen. In den Wochen vor dem Erntefest erneuern die Gläubigen der Pharasma auf diese Weise ihre Gebete an die Herrin der Gräber: Lass unsere Seelen in einem anderen Jahr geerntet werden, nicht in diesem. Nicht dieses Jahr. Noch nicht.

Wie als Antwort auf ihre Gebete, hob ein Schwarm Nacht­schwalben von der Brüstung der Kathedrale ab und flog nach Süden, dann nach Norden und schließlich wieder nach Süden, um ihre ­Herbstwanderung weiterzuführen. Ihr Gesang, selbst auf diese Entfernung und durch das Bleiglas vernehmbar, fiel wie sanfter Regen auf den Platz hinab. Wie wunderschön, dachte ich.

„In der Tat“, sagte eine klangvolle Stimme hinter mir.

Ich drehte mich um und wurde des Grafen Yarsmardin Senir gewahr, in dessen Begleitung sich weitere bedeutende Grafen Ustalavs befanden. Ein Quartett aus Dienern – die alle, wie ich feststellte, exakt gleich groß waren – folgte ihnen mit Tabletts, von denen Dessertwein gereicht wurde. Es kommt nicht oft vor, dass ich überrascht werde, erst recht nicht durch solch eine veritable Prozession, doch muss ich zu meiner Verteidigung anmerken, dass die Teppiche in Fürst Aduards Palast dick genug sind um die Schritte einer heranrückenden taldanischen Armee zu dämpfen.

Ich verbeugte mich, und die Edelmänner erwiderten die Geste in ihrer landestypischen Art, indem sie die Hände über ihren Herzen falteten. Die Damen in Ustalav knicksen nicht, genauso wenig wie die Mätressen der adligen Herren, doch bei der Zurschaustellung meiner im Süden üblichen Manieren bedeckte eine von ihnen ihr Lächeln mit den Spitzen ihrer gepuderten Finger.

„Ich bitte um Verzeihung, Euer Exzellenz“, sagte ich zu Senir. „Ich habe nicht bemerkt, dass ich laut sprach.“

Senir tat meine Entschuldigung mit einer Geste ab. Sein kurzes, graues Haar verlieh ihm ein militärisches Auftreten, doch da er der dritte Sohn war, war er den Mönchen der Pharasma überantwortet worden, bis der Tod seiner kinderlosen älteren Brüder ihn nötigte, die Verantwortung für die Familienangelegenheiten zu übernehmen. „­Bitte“, sagte er. „Wir sind von gleichem Rang, Graf Jeggare.“

„Ich wollte Eurem Amt als Kleriker Respekt zollen, Bischof“, erwiderte ich.

„Ach“, sagte Senir. „Diese Rolle lasse ich in den Mauern des Klosters vom Schleier zurück, wenn ich es verlasse.“ Senir zupfte an dem Kragen seines purpurnen Samtmantels. Er sah unbequem aus. „Kennt Ihr schon Graf Neska aus Barstoi?“

Aericnein Neska und ich tauschten weitere Verbeugungen aus, und er schlug die Hacken zusammen, um die Höflichkeit seiner Geste noch zu unterstreichen. Neska war, wie üblich bei Menschen, ziemlich gealtert, seit ich ihm vor drei Jahrzehnten erstmalig begegnet war. Durch die herabhängenden Kehllappen an seinem Hals wirkte er nun eher wie ein Geier als wie ein Adler. Die Veränderung war passend, hatten doch die brutalen, aber sinnlosen Kriege, die er seitdem mit seinen Nachbarn geführt hatte, allein die Aasfresser fett gemacht. Das einzig Gute an seiner Anwesenheit war, dass mir weiterer persönlicher Kontakt mit den verabscheuungswürdigen Töchtern der Gräfin Solismina Venacdahlia erspart blieb, deren Land maßgeblich zu den Gräberfeldern geworden war, die durch Neskas Ambitionen entstanden waren.

Senir wies auf einen korpulenten Mann von ungefähr vierzig Jahren und sagte: „Graf Haserton Lowls.“

Lowls vollführte eine rasche Verbeugung und reichte mir die Hand. Ich erkannte ihn nicht, da er ein Kind gewesen sein musste, als ich seinen Eltern vorgestellt worden war. Er schüttelte mir eifrig die Hand, bevor Neska sich räusperte, und Lowls sich zurückzog. „Ich bitte um Verzeihung, Graf Jeggare“, sagte er. Speicheltropfen hingen an seinem buschigen Schnauzbart. „Ich weiß nichts von fremden Sitten, doch will ich Euch gegenüber nicht verschweigen, dass ich über die Anwesenheit eines weiteren Kunstliebhabers in unseren Reihen Aufregung verspüre. Ich bin selbst so etwas wie ...“

„Haserton“, unterbrach Senir. Den Anderen entging die herablassende Verwendung von Lowls Vornamen nicht, und sie wandten sich entweder feixend um oder versteckten ihr Lächeln hinter eleganten Fingern. Mit einem bestürzten Ausdruck, ganz so als sei er ein Kind, das dafür gerügt worden war, die falsche Gabel beim Abendessen benutzt zu haben, wandte sich Lowls von Senir ab und blickte zerknirscht zu mir. Senir ignorierte ihn und fragte: „Darf ich Euch Graf Conwrest Muralt vorstellen, den neuen Herrn von Ordranto?“

Muralt war dadurch abgelenkt, dass er einen Blick über die Schulter und durch die Türen des Festsaals warf, als diese von den Dienern geöffnet wurden, um Radania und Opaline Venacdahlia durchzulassen, von denen Letztere mir ein krummzahniges Lächeln schenkte, als sie von ihrem Spaziergang entlang der äußeren Galerie zurückkehrten. Die bedauernswerte Frau hatte längst keine Aussicht mehr auf eine Heirat mit einem der hiesigen Adligen. Dass sie so offen mit einem ausländischen Fürsten gemischten Blutes liebäugeln würde, war ein Beleg ihrer Verzweiflung.

„Graf“, sagte ich. Muralt sagte ein paar Worte, die weder Charme noch Interesse zeigten.

„Vergebt uns, Euren Gedankengang gestört zu haben, Graf Jeggare“, sagte Neska. „Was war es denn, was Ihr so wunderschön fandet?“

„Ich habe die Zeremonie vor der Kathedrale bewundert.“

„Immer lernbegierig, wie, Kundschafterhauptmann?“, fragte Lowls. Sein Ton war erwartungsvoll, doch die anderen Herren fixierten mich mit ihren Blicken und warteten auf eine Antwort meinerseits. Ich vermutete, dass einer von ihnen Lowls dazu gebracht hatte, solcherlei Fragen zu stellen. Bei meinem letzten Besuch in Caliphas hatte ich die Erfahrung gemacht, dass die Herren von Ustalav in mir weniger einen Gelehrten und mehr einen Dieb von Geheimnissen sahen, bei denen sie es vorgezogen hätten, sie wären mitsamt ihrer Vorfahren begraben geblieben. „Grabräuber“ und „Plünderer“ waren die von ihnen verwendeten Synonyme für „Kundschafter“.

„Reine Neugier, Graf Lowls. Die Rituale der Pharasma sind die poetischsten, die ich je gesehen habe.“

„Und ich nehme an, dass Ihr einiges darüber wisst“, warf Graf ­Muralt ein. „Ich meine, Ihr als chelischer Fürst müsst einige sehr außergewöhnliche Rituale gesehen haben.“

Mir gefiel es nicht, wie er bei dem Wort „außergewöhnlich“ inne­hielt, auch wenn seine Äußerung noch nicht als Beleidigung aufgefasst werden konnte. Jeder in der Runde, selbst der beschränkteste Fürst, wusste, dass die Menschen in meiner Heimat Asmodeus verpflichtet waren, den wir den Fürsten des Rechts nennen. Die Verehrung des Fürsten der Lügen, unter welchem Namen er im Rest der Welt bekannt war, löste bei so gut wie jeder Person außerhalb von Cheliax Abscheu aus.

Wenn man allerdings zugab, dass man ihn nicht verehrte, war es so gut wie sicher dass es in der Heimat zu gefährlichen Gerüchten kam, die zu verbreiten ohne Zweifel die Hauptaufgabe der jungen, neuen chelischen Botschafterin war.

Lässt man einmal die Politik außer Acht, so habe ich es schon immer als heuchlerisch empfunden, Leute für die Verehrung des Herrn der Verdammnis zu verurteilen, während die eigene Nation die Herrin des Todes anbetete.

„Ja, ich habe viele außergewöhnliche Rituale miterlebt“, sagte ich.

Neska lächelte ob meiner mehrdeutigen Antwort. „Es ist doch so, dass Ihr im Auftrag der Kundschafter in Ustalav seid?“

Ich hatte den Großteil des Abends darauf verwandt, dieser Frage aus dem Weg zu gehen, und langsam wurde ich der Jagd überdrüssig. „Ja“, antwortete ich.

Die vier Männer erwarteten eine ausführlichere Darlegung, aber ich bot ihnen keine. Stattdessen zeigte ich zum Fenster. „Da ziehen sie hin“, sagte ich und nickte in Richtung der Nachtschwalben, „und nehmen das Geheimnis mit sich.“

„Dann werdet Ihr ihnen sicher bald folgen“, sagte Senir. „Vielleicht wäre es das Beste. Schon von Alters her heißt es, die Geheimnisse von Ustalav würden lange schlafen und wütend erwachen. Ich würde Euch nicht wünschen, dass ihr Zorn über Euch kommt.“

„Das einzige Geheimnis, das ich zu entschlüsseln gedenke“, sagte ich, „ist das einer vermissten Kundschafterin.“

„Tatsächlich?“, fragte Senir. „Und dies ist eine Aufgabe für den erlauchten Grafen Jeggare? Ich dachte immer, Kundschafter würden ständig vermisst.“

„Wohl wahr“, antwortete ich. „Aber diese wird gefunden werden. Sie gehörte zu mir.“

„Gehörte?“ Er hatte meine unglückliche Verwendung der Vergangenheitsform bemerkt, die, wie ich Dir versichern kann, nicht meine Hoffnungen und Überzeugungen widerspiegelte. „Was kümmert es Euch dann, Jeggare?“

„Nur ein Versprecher“, gab ich zurück.

Senir musterte einen Moment lang mein Gesicht, als suchte er nach einem Anzeichen dafür, dass ich mehr wusste als ich zugegeben hatte. „Vielleicht habt Ihr andere Gründe, in unser Land zu kommen“, sagte er. „Wenn dem so ist, denkt an das Schicksal derjenigen, die sich an den Gräbern unserer glorreichen Vorfahren zu schaffen gemacht haben, jene, die gegen den Wispernden Tyrannen kämpften und jene, die seiner Verderbnis zum Opfer fielen. Nicht alle, die unter der Erde Ustalavs liegen, schlafen wohl. Ich gebe Euch mein Wort, mein Herr, als Ehrenmann, wie Ihr einer seid: Ihr tätet gut daran, sie nicht zu stören.“

Bevor ich eine diplomatische Antwort formulieren konnte, legte sich eine Hand um meinen Arm. Ohne mich umzudrehen, erkannte ich unter einem leichten Hauch eines seltenen Parfums aus Kyonin den unnachahmlichen Duft der Gräfin Carmilla Caliphvaso. Ebenso wie an den Duft ihrer nackten Haut erinnerte ich mich an die Leidenschaft der Gräfin für alles, was elfisch war, darunter auch mein jüngeres Ich. Ich musste das Lächeln, das ich ihr schenkte, nicht einmal vortäuschen.

Es war keine dichterische Übertreibung zu sagen, sie sei in über dreißig Jahren keinen Tag gealtert. Nur ganz wenig Puder bleichte ihr Gesicht und ihr Dekolleté, das selbst für die jungen Frauen, die dem Ball beiwohnten, gewagt war. Der Leberfleck auf ihrer Wange war ebenso falsch wie die weiße Perücke, die Kämme hielt, mit denen man einen Fürsten hätte freikaufen können, doch alles andere an ihr war genauso, wie ich mich aus den einhundert sinnlichen Nächten in Caliphas erinnerte, die ich damit zugebracht hatte, mir die Topografie ihres Körpers genau einzuprägen. Carmilla war die Frau, die mich in die weite Welt der feinsinnigen Liebe eingeführt hatte. Solltest Du dem Begriff „feinsinnig“ mehrere Bedeutungen beimessen – nun, dann ist es ein Beispiel für Deinen scharfen Verstand, und ich vertraue auf Deine Diskretion.

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9783867622783
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