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Zukunftsträume

Impressum

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

Corinna Lindemayr

Zukunftsträume

Roman

XOXO Verlag

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://www.d-nb.de abrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-154-2

E-Book-ISBN: 978-3-96752-654-7

Copyright (2020) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung: Grit Richter, XOXO Verlag

unter Verwendung der Bilder:

Stockvektor-Nummer: 708177067 und 535429474

von www.shutterstock.com

Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

Manchmal, so dachte er, gab es Situationen im Leben, die einem nicht nur das Gefühl gaben machtlos zu sein, nein, sie zerrissen einem die Seele. Ganz langsam. Ein Riss nach dem anderen. Stück für Stück bis nichts davon mehr vollständig übrig war.

Er wollte nicht schwermütig sein, aber letztlich war es genau das, was er jetzt empfand. Schmerz, Trauer und allen voran definitiv Wut. Empfindungen, die alle zweifelsohne vollkommen angebracht, aber keineswegs zielführend waren. Schließlich war niemand anderes als er selbst der Übeltäter, der all diese Gefühlsregungen in ihm hervorrief.

Wer also war er schon, dass er sich in Trübsal verbarrikadieren konnte?

Ein Blick aus dem Fenster der im 4. Stock gelegenen Wohnung verriet ihm, dass sich auch nach fast drei Jahren nichts, aber auch rein gar nichts, an seinem jetzigen Zustand verändert hatte. Noch immer war er ein Gefangener seiner Vergangenheit. Auf der Flucht davor, sich seinen Dämonen zu stellen. Was war da schon ein Hauch von Melancholie?

Ja, er hatte Entscheidungen getroffen. Vielleicht nicht immer die besten, aber was auch immer der Grund für sein jetziges Leben war, er musste endlich die ganze Wahrheit herausfinden. Das zumindest war er seiner Frau und seiner Familie schuldig.

Einer Familie, die nicht zuletzt durch ihn, als solche eigentlich gar nicht mehr existierte.

So viele unendlich lange Monate waren vergangen, seit dem Tag, an dem er zusammen mit seiner Frau ihre Kinder verlassen hatte.

Und auch wenn es letztlich aus der Absicht heraus, sie zu schützen, geschehen war, so gab es dennoch nichts, was diese Tatsache entschuldigte.

Man ließ die eigenen Kinder nicht zurück. Ganz egal mit welchen Motiven man es zu rechtfertigen versuchte, es war ein Umstand, der nicht zu verzeihen war.

Denise, seine Frau, hatte ihm Kraft und Halt gegeben. Ihr hatte er es zu verdanken, dass er noch nicht komplett den Verstand verloren hatte. Denn auch wenn sie genauso sehr litt wie er, so war sie stets diejenige, die wie ein Fels in der Brandung hinter ihm stand.

Manchmal, wenn er glaubte, zusammenbrechen zu müssen, war sie einfach nur da. Stand neben ihm, legte ihre Hand auf seine Schulter und versprach, dass alles gut werden würde. Dann war er wieder der Mann, der er einst gewesen war. Stark und ungebrochen.

Das Leben hatte ihn verändert. Hatte ihn durch die Hölle geschickt, im Feuer auf ihm herum getrampelt und dann dafür gesorgt, dass er daraus wieder entkommen konnte. Allerdings nicht ohne eine Vielzahl von Narben zu behalten. Wieder einmal wurde ihm bewusst, wie tief seine Wunden doch saßen und ja, er war verdammt noch mal alles andere als stolz darauf. Damals hatte er geglaubt, dass nichts und niemand ihn je verletzen konnte. Körperlich klar, so etwas war öfters geschehen, aber mental? Nein, das war etwas was er für absolut unmöglich gehalten hatte. Tja, diesen Irrtum musste er jetzt am eigenen Leib spüren. Die heftige Brutalität der Vergangenheit war so viel stärker als er. Und er hasste es. Jeden Tag auf´s Neue. Ein Michael Christensen mochte vieles sein, allen voran sicherlich ein Mann schlechter Entscheidungen, aber ein Feigling? Auf gar keinen Fall! Dagegen musste er sich endlich und unwiderruflich zur Wehr setzen.

Er wandte leicht den Kopf zur Seite und beobachtete seine Frau, die auf einem alten Schaukelstuhl saß und ein Fotoalbum durchblätterte. Er vermutete, dass es das einzige war, dass sie mitgenommen hatte, den viel Zeit war ihnen damals nicht geblieben. Wie sehr er sich wünschte, die Zeit zurückzudrehen. Aber wer konnte das schon? Er musste endlich sein Leben wieder in die Gegenwart holen und einen Schritt weiter in Richtung Zukunft gehen.

Er hörte ein kurzes Rascheln, dann ein leises Klacken und drehte sich hastig zurück zur Tür. Bevor er jedoch reagieren konnte, wurde diese aufgerissen und drei Männer stürmten herein. Er versuchte noch sich zu wehren, doch es ging alles viel zu schnell. In dem Moment als er nach seiner Frau gerufen hatte, traf ihn der erste Schlag und er ging zu Boden.

Er hörte seinen eigenen Aufprall, dann kam der nächste Schlag und mit einem Mal war alles dunkel.

1. Kapitel

Es war schon lange her, dass er ein Polizeigebäude von innen gesehen hatte. Wenn er so darüber nachdachte, wusste er gar nicht, ob er ein solches nach seiner Ausbildung überhaupt je wieder betreten hatte. Bei dem was er tat, war so etwas normalerweise nicht nötig. Wenn doch einmal eine Besprechung oder ein Treffen notwendig wurde, trafen sie sich meist auf neutralem Boden. Das war weniger auffällig und in seinem Beruf konnte so etwas überlebenswichtig sein. Außerdem fehlte ihm ganz einfach die Zeit dafür. Ein Einsatz folgte dem nächsten. Oft war er monatelang unterwegs. Immer und immer wieder. Stets bereit sein Leben dafür zu riskieren, um andere zu retten. Das war sein Job. Dafür wurde er bezahlt. Er beschützte Menschen.

Seine Aufträge erhielt er meist nur telefonisch. Das lag zum einen daran, dass er oft am anderen Ende des Landes war oder sich überhaupt nicht auf dem gleichen Kontinent aufhielt, zum anderen, weil er nicht unbedingt zu den Menschen zählte, die sehr gesprächig oder kontaktfreudig waren. Er war eher der Typ Einzelgänger, auch was die Erledigung seiner Jobs anging. Zumindest in den letzten fünf Jahren.

Dass er nun stattdessen im Hamburger Polizeipräsidium stand hatte einzig und allein mit seiner nächsten Aufgabe zu tun. Dieses Mal konnte er sich nicht einfach so kommentarlos auf den Weg machen. Dieser Einsatz verlangte ein persönliches Gespräch mit dem Polizeipräsidenten und Leiter des Zeugenschutzprogrammes.

Vor wenigen Tagen hatte er einen Anruf erhalten. Zu diesem Zeitpunkt war er gerade noch in Texas auf einer der größten Militärstützpunkte Amerikas gewesen um dort einen Millionärssohn zu beschützen, der leichtsinnigerweise geglaubt hatte, sich mit ein paar verfeindeten Drogenkartellen anlegen zu können. Gestern hatte er seine Aussage vor dem Hamburger Strafgericht gemacht und war daraufhin in die Obhut seiner Familie entlassen worden. Er glaubte zwar nicht, dass er dort lange überleben würde, aber gegen den Wunsch eines ziemlich einflussreichen Multimillionärs wollte sich auch die Staatsanwaltschaft nicht anlegen und im Grunde konnte es ihnen auch egal sein.

Thomas Johnson spürte den Druck seiner Waffe am rechten Oberschenkel als er die Treppe hinauflief.

Er war niemand, der vor etwas Angst hatte. Er war ein ausgebildeter Polizeikommissar und Personenschützer, besaß eine mehrjährige Erfahrung als Undercoveragent, hatte beinahe drei Jahre lang bei der deutschen Luftwaffe gedient und mehr als nur einmal dem Tod ins Gesicht gesehen. Er wusste was es bedeutete, Menschen sterben zu sehen. Ihre letzten Schreie die in der Ferne verklangen bevor sie zu Boden gingen. Genauso wie er wusste, wie es sich anfühlte, dafür verantwortlich zu sein. Das Leben hatte ihn zu dem gemacht der er jetzt war. Einem Mann, der tötete wenn es sein musste und beschützte, sofern es geboten war. Aber gegen diese erdrückende Last seiner Vergangenheit kam er einfach nicht an.

Seit Jahren hatte er versucht, so wenig wie möglich an sich heranzulassen. Er war 32 Jahre alt und einer der besten Agenten in seinem Beruf. Aber ein Privatleben gab es nicht. Nicht mehr.

Nicht seit jener verhängnisvollen Nacht, die sein ehemaliges Leben ein weiteres Mal zerstört hatte.

Er musste endlich damit abschließen. Das alles war vorbei. Doch mit jedem Schritt den er weiter in dem Polizeirevier ging, rückte dieses Leben wieder näher. Er würde diesen Auftrag durchziehen. Er war ein Profi. Er hatte nicht den leisesten Schimmer ob er dafür bereit war, aber er wusste, dass er vor der Vergangenheit nicht ewig davonlaufen konnte. Egal wie weit er gereist war oder wie tief er in einem Auftrag gesteckt hatte, sie war immer da gewesen. Hatte ihn auf Schritt und Tritt verfolgt.

Irgendwann in den letzten Jahren hatte er die Kontrolle verloren. Und wenn er diese nicht bald wieder fand, würde er einen Fehler machen. Einen, der vermutlich tödlich endete.

Er verspürte den Drang nach einer Zigarette.

Reflexartig griff er in seine linke Hosentasche, doch dort befand sich nichts außer einem zerknüllten Taschentuch und einer Zwei-Euro-Münze. Schließlich hatte er vor ein paar Wochen auch beschlossen mit dem Rauchen aufzuhören. Kein Wunder also, dass er keine Schachtel dieses ohnehin viel zu ungesunden Tabaks bei sich trug.

Er brauchte frische Luft. Entschlossen öffnete er daher die nächste Tür und trat ins Freie. Ein heißer Windstoß streichelte seinen Körper, der Asphalt war staubtrocken und es roch verführerisch nach der spätsommerlichen Luft Anfang September.

Er lehnte sich über ein altes, schon ziemlich verrostetes Treppengeländer und blickte zwischen einer Reihe Häuserblocks hindurch.

Keine Wolke verdrängte die Sonne und trübte die schwüle Atmosphäre dieser Stadt. Dutzende von Wolkenkratzern ragten in den Himmel hervor, Fabriken und Wohnhäuser reihten sich an den Straßen entlang bis man sie nur noch als kleine graue oder weiße Punkte wahrnehmen konnte.

Dort war er geboren und aufgewachsen. Jene Gebäude waren ein Teil seines ganzen Lebens gewesen, genauso wie diese Stadt.

Hamburg, die zweitgrößte Stadt Deutschlands, die siebte in der Europäischen Union, 1,8 Millionen Bürger die nur ein winziger Bruchteil von all dem war, was zu ihr gehörte. Er hatte schon so viele Länder bereist, dass er sich kaum noch an alle erinnern konnte. Alle waren auf ihre eigene Art und Weise faszinierend und aufregend gewesen, dennoch fühlte er sich hier in seiner Heimatstadt am wohlsten. Auch wenn er sich manchmal wünschte, so weit weg wie möglich zu sein. Dieser Drang jedoch beruhte mehr auf gewisse Erinnerungen, als an der Stadt selbst. Unwillkürlich musste er wieder an seinen Vater denken. Seit Jahren versuchte er ihm aus dem Weg zu gehen, doch seine Gegenwart war stets so präsent gewesen, dass es einfach nie ganz möglich gewesen war.

Mit der linken Hand fuhr er sich durch das wirre dunkle Haar. Sein Leben war kompliziert. Aber das würde es immer bleiben, wenn er daran nichts veränderte. Das Problem war nur, dass er das eigentlich gar nicht wollte.

Bislang hatte es nämlich ganz gut funktioniert. Das hatte er zumindest geglaubt. Er war ein Mann. Was brauchte er schon groß? Er hatte seine Arbeit, welche ihn mehr als genug beanspruchte, hin und wieder ein paar belanglose Affären und wenn er doch einmal länger als zwei Tage am Stück zu Hause war besaß er eine durchaus passable Mansardenwohnung in der Innenstadt. Ein rundum zufriedenstellendes Dasein. Wäre da eben nur nicht seine Vergangenheit, die er so konsequent verdrängte. Tja, damit würde er entweder weiterhin umgehen oder sich endlich damit auseinandersetzen müssen. Allerdings war er auf diesem Gebiet dann doch wohl eher ein Feigling.

Eine Veränderung würde gleichzeitig seine Vergangenheit aufrollen und das war etwas, dass er bislang tunlichst vermieden hatte. Manchmal war es eben besser, gewisse Dinge in den tiefen Untergründen zu lassen, in denen sie sich verborgen hatten.

Er schloss für einen kurzen Moment die Augen, versuchte sich daran zu erinnern, dass das alles hinter ihm lag und das sein früheres Leben keine Rolle mehr spielte. Aber manchmal, da war ihm dieses so nah, dass er nicht mehr wusste, ob es der Wahrheit entsprach. Er sollte das tun, wofür er ausgebildet wurde. Nicht jeder war dafür gemacht, das Leben zu führen, für welches er sich entschieden hatte. Überall auf dem Land gab es Menschen, die seine Hilfe benötigten. Er war ständig unterwegs, verbrachte die meiste Zeit in billigen Motelzimmern oder bei fremden Leuten, immer mit der dunklen Gewissheit, dass hinter jeder Ecke jemand lauern könnte, der es auf sein oder das Leben dessen abgesehen hatte, den er beschützen sollte.

Bald würde der Tag kommen, der eine Entscheidung von ihm abverlangte. Der Tag, der sein jetziges Leben erneut über den Haufen warf und in wenigen Tagen einem Neuen eindrang bieten würde, von dem er nur hoffen konnte, dass er dafür bereit war.

Er stand noch ein paar Minuten einfach so da, sah in die Ferne und versuchte, den kurzen Moment der Stille zu genießen. In seinem Beruf gab es nicht viele solcher Augenblicke. Und auch jetzt würde es nicht mehr lange dauern, da musste er schon wieder bei seinem nächsten Auftrag sein.

Langsam stützte er seine Hände auf das Geländer, dann drehte er sich um. Sein Körper schmerzte noch ein wenig von seinem letzten Einsatz. Vor allem sein linkes Bein bereitete ihm Probleme. Vor ein paar Tagen hatte sein Knie einen erheblichen Schlag abgekommen. Ein paar seiner Rippenknochen waren geprellt und an seinen Armen prangerten ein paar ziemlich übliche blaue Flecke. Alles Dinge, die wieder verheilten. Er hatte schon Schlimmeres wegstecken müssen.

Tom trat zwei große Schritte nach vorn, zog die Tür des Präsidiums wieder auf und lief direkt in Richtung des Büros des leitenden Beamten des Zeugenschutzprogramms.

Hier war er nun, in der Hoffnung, bereit dafür zu sein, sich seiner nächsten Aufgabe zu stellen, die vermutlich die Schwierigste seines Lebens sein würde.

Mit einem lauten Knall flog das Tablett mit fein säuberlich darauf gestellten Tassen und Tellern zu Boden. Hannah Christensen stolperte hinterher und wäre beinahe in dieses Scherbenmeer geflogen. »Verfluchter Mist!« Sie fing sich gerade noch rechtzeitig am Rand des Tresens und starrte dann stöhnend auf den Haufen kaputten Geschirrs vor ihr.

Normalerweise war sie niemand der sich selbst bemitleidete oder auf die Nerven fiel, aber heute war so ein Tag bei dem auch überhaupt nichts funktionierte. Erst hatte sie verschlafen, dann hatte ihr Fön den Geist aufgegeben, sodass sie mit noch fast komplett nassen Haaren und einem Schwall aus unzähmbaren Locken vor dem Spiegel gestanden hatte und zu guter Letzt war auch noch ihr Handy ins Wasser gefallen. Dabei war es gerade einmal 11:00 Uhr morgens, was das Ganze nicht gerade besser machte.

In vier Stunden musste sie ihren kleinen Bruder vom Eishockeytraining abholen, aber jetzt galt es zunächst einmal ihre Schicht im »Sanders« relativ glimpflich zu überstehen, dem Lokal, in dem sie seit knapp zwei Jahren arbeitete. Was angesichts des Trümmerhaufens vor ihr heute ebenfalls nicht reibungslos zu gelingen schien. Frustriert holte sie Schaufel und Besen hinter dem Schanktresen hervor und fing an, die einzelnen Scherben aufzukehren. Manchmal wünschte sie sich, dass ihr Leben anders wäre. Einfacher. Nicht so zerbrochen, wie die Teller vor ihr. Am liebsten würde sie es manchmal genauso in den Müll werfen wie gleich dieses kaputte Porzellan. Aber das ging eben nicht.

Ihr Leben war so wie es nun einmal war. Daran konnte sie nichts ändern, ganz gleich wie sehr sie es auch wollte.

Seit sie geboren wurde lebte sie in einem Zeugenschutzprogramm unter falschem Namen und immer wieder verschiedenen Orten. Sie hatte schon so viele Länder bereist, dass es fast an ein Wunder grenzte, dass sie sich noch an alle von ihnen erinnern konnte. Immer umgeben von Menschen die sie und ihre Familie schützen sollten.

Das Leben in einem Zeugenschutzprogramm war hart und auch äußerst einsam. Es gab nicht viele Leute mit denen man Kontakt haben durfte, ganz zu schweigen davon, dass es fast unmöglich war, Freunde zu finden. Jedes Mal wenn sie glaubte, sich irgendwo eingelebt zu haben mussten sie wieder verschwinden. Monat für Monat, Jahr für Jahr. Immer und immer wieder.

Warum das so war wusste sie nicht. Niemand hatte je darüber gesprochen und irgendwann hatte sie es aufgegeben danach zu fragen. Was hätte es geändert?

Ein solches Versteckspiel verfolgte einen meist das ganze Leben.

Aber sie war damit aufgewachsen und konnte damit umgehen. Bis zu jenem Tag, der erneut alles verändert hatte. Jener Tag, heute vor ziemlich genau drei Jahren.

Nicht, dass es nicht schon schwierig genug gewesen wäre, aber ab diesem Zeitpunkt war nichts mehr wie vorher.

Sie waren wieder umgezogen. Diesmal war es ein kleiner Ortsteil von Hamburg. Ein kleines Häuschen mit Vorgarten und grünen Fensterläden.

Wieder musste sie ihre alte Uni verlassen, ihre Studienkollegen und ihr altes zu Hause.

Sofern man bei ständigem Umziehen überhaupt von einem zu Hause reden konnte.

Damals war sie gerade vierundzwanzig und mitten in ihrem Studium für Erziehungswissenschaften gewesen.

Ihr kleiner Bruder ging gerade einmal in die zweite Klasse der Grundschule.

Nun hieß es wieder neue Menschen und neue Heimat.

Aber dass es dieses Mal auch hieß ihre Eltern zu verlassen, das war neu.

Nach gerade einmal zwei Wochen in Hamburg waren sie verschwunden gewesen. Einfach so. Ohne Abschied, ohne jegliche Vorwarnung. Am Morgen waren sie noch gemeinsam am Frühstückstisch gesessen, am Abend waren sie fort. Und von diesem Tag an hatte sie ihre Eltern nie wieder gesehen. Seit diesem Tag vor drei Jahren war sie für sich und ihren mittlerweile zehnjährigen Bruder allein verantwortlich.

Sie war darauf vorbereitet gewesen, dass so etwas passieren konnte. Bei ihrem Leben wurde man mit allen möglichen Konsequenzen vertraut gemacht. Es war von Anfang an so bestimmt gewesen. Sie hatte es geahnt, so viele Stunden damit verbracht darüber nachzudenken was geschehen würde, wenn all das eintreffen würde was so krampfhaft versucht wurde zu verdrängen. Die Wahrheit. Und die war nun einmal, dass ihre Eltern auf der Flucht waren, vor sich selbst und ihrer Vergangenheit. Aber das alles war bedeutungslos geworden in diesem Meer der Wirklichkeit.

Heute hatte sie gelernt damit umzugehen. Es war nicht leicht gewesen, aber sie hatte es geschafft. Sie hatte sich und ihrem kleinen Bruder wieder ein einigermaßen normales Leben aufgebaut.

Ein Leben, auf das sie in Anbetracht ihrer Situation durchaus stolz sein konnte. Seit drei Jahren lebten sie jetzt nun schon in ein und derselben Stadt. Ein fast unglaubliches Phänomen betrachtete man die Tatsache, dass sie früher fast jedes halbe Jahr umgezogen waren. Aber komischerweise hatte sie seit dem Zeitpunkt, als ihre Eltern nicht mehr bei ihnen waren, niemand mehr fortgebracht. Jetzt hatte sie endlich das, was sie immer wollte. Aber zu welchem Preis?

Gedankenversunken warf Hannah die aufgekehrten Scherben in den Müll. Sie musste aufhören, ständig daran zu denken.

Sie hatte nette Leute kennengelernt, einen tollen Chef und endlich Freundinnen mit denen sie über lauter unnütze Dinge reden konnte. Natürlich war Kellnerin nicht ihr Traumberuf, aber es machte Spaß und sie beklagte sich nie. Irgendwann würde sie ihr Studium fortsetzen oder neu anfangen können und Erzieherin werden. Aber das war nicht wichtig. Im Augenblick zählte nur ihr Bruder und seine Chance auf eine zumindest halbwegs normale Zukunft. Und wenn das bedeutete, dass sie ihr Leben lang als Kellnerin arbeiten musste, nun, dann war das eben so. Sie hatte schon vor Jahren aufgegeben, sich zu fragen, was gewesen wäre, wenn ihre Eltern nicht in diesem Zeugenschutzprogramm gelebt hätten. Denn diese Möglichkeit gab es nicht. Sich Gedanken über Dinge zu machen, die ohnehin nie eintreffen konnten, wäre sinnlos und würden nicht das Geringste ändern.

Das Leben hatte ihr übel mitgespielt, aber sie hatte es geschafft daraus zu entkommen. Und auch, wenn die Vergangenheit immer ihr Schatten bleiben würde, so konnte sie zumindest sagen, dass die Sonne jetzt nicht mehr dauernd so schien, dass man ihn sehen konnte.

Der Zeiger der uralten Micky-Maus-Uhr oberhalb der Eingangstüre des »Sanders« wanderte auf Punkt drei Uhr und es erklangen drei leise Gongschläge. »Verdammt, ich komme zu spät!« stellte Hannah mehr zu sich selbst als zu jemand Bestimmten fest und trug eilig noch eine Portion Hähnchennuggets an einen der Tische. Die Stunden waren viel zu schnell vergangen. Aufgrund der immer wechselnden und günstigen Mittagsangebote war es meist ziemlich voll und da sie jeweils nur eine Bedienung hatten, blieb alles auch an dieser hängen. In diesem Fall also an ihr. Sie bemerkte zwei ihrer Freundinnen, Tanja und Coco, die ebenfalls an einer der Ecknischen saßen und sie zu sich winkten. Sie freute sich wirklich sie zu sehen aber ehrlich gesagt, hatte sie jetzt überhaupt keine Zeit. Eigentlich sollte sie nämlich bereits auf dem Weg zur Straßenbahn sein.

»Manchmal wünsche ich mir echt, dass mal etwas Aufregendes passiert. Mein Leben ist komplett langweilig.« klagte Coco, nahm den Strohhalm ihres Latte Macchiato in die Hand, drehte ihn ein paar Mal im Kreis, dann lies sie ihn wieder los und stützte den Kopf in ihre Hände. »Echt, ich meine es ernst. Jeden Tag sitze ich im Büro und studiere Zahlen und Bilanzen, soll das etwa alles gewesen sein?« beschwerte sie sich gerade als Hannah zu ihnen an den Tisch trat.

»Als ob es bei mir spannender wäre.« Tanja sah Coco an und wandte sich dann an Hannah. »Mal ehrlich, Mädels. Wir brauchen dringend mal etwas Abwechslung.«

Hannah warf einen erneuten Blick auf die Uhr. »Also mein Leben ist völlig in Ordnung.« Verkündete sie dann, öffnete ihren Pferdeschwanz und schüttelte sich das lange dunkelbraune Haar, so dass es sich in feinen Locken über ihren Rücken ergoss. »Blödsinn. Hast du es nicht auch langsam satt, jeden Tag hier zu schuften? Wenn ich mich wenigstens mal wieder verlieben oder zumindest einen tollen Kerl kennenlernen würde. Bei mir ist seit Jason tote Hose und das ist jetzt schon über acht Monate her.« jammerte Coco.

»Stimmt. Der Sex fehlt mir auch.« seufzte Tanja und sah wehmütig in die Runde. »Aber ich habe so das Gefühl, dass daraus wieder einmal nichts wird.«

Hannah sagte nichts. Was sollte sie auch sagen? Ihr Leben hatte weiß Gott genug Action für sie alle drei gehabt.

Wieder wanderte ihr Blick zu dem strahlenden Micky an der Wand. Wo zum Teufel blieb Julia? Ihre Schicht hatte um drei Uhr begonnen, jetzt war es bereits fünf nach drei.

Normalerweise war ihre Freundin ein sehr pünktlicher Mensch, aber ausgerechnet heute, schien das wohl nicht zuzutreffen. Aber was lief heute auch schon normal?

Gerade als sie Paul, ihrem Chef, erklären wollte, dass er ab jetzt dann eben ohne Bedienung auskommen musste, stolperte Julia herein.

»Es tut mir so Leid,« keuchte sie. »Die Straßenbahn hatte Verspätung!«

Noch bevor sie überhaupt richtig die Tür hinter sich schließen konnte, drückte Hannah ihr bereits den Geldbeutel und den Notizblock in die Hand. »Hier. Ich muss dringend los und Max abholen. Sein Eishockeytraining ist zu Ende. Die beiden hinteren Tische sind noch nicht abkassiert. Der Herr da vorne wartet noch auf zwei Schinken-Käse-Sandwiches und die Dame am Tresen bekommt einen Makkaroni-Auflauf zum mitnehmen.«

»Meinst du nicht er ist langsam alt genug alleine nach Hause zu fahren?« stöhnte Julia und band sich den Geldbeutel, den Hannah ihr gereicht hatte um die Hüfte. Diese übertriebene Fürsorge verstand sie nicht. Max war ein kluger Junge. Er war durchaus in der Lage etwas eigenständiger zu sein. Hannah jedoch wollte das aber partout nicht einsehen. Was das anging, war sie irgendwie ziemlich paranoid.

»Ich möchte nicht das ihm etwas passiert.« erwiderte Hannah, wohl wissend, dass sie für ihre Freundinnen wie eine Übermutter wirkte. Aber wie sollte sie das auch jemand anderes erklären? Sie konnte ja nicht einfach sagen, dass sie sich Sorgen darüber machte, dass Max von irgendwelchen Leuten entführt wurde, weil sie eigentlich in einem Zeugenschutzprogramm lebten oder gelebt hatten. Vielleicht war ihre Angst auch übertrieben, aber sie konnte und wollte kein Risiko eingehen. Nicht seit ihre Eltern verschwunden waren. Schließlich konnte mit Max das Gleiche passieren und dann wäre sie ganz allein. Etwas, woran sie lieber nicht denken sollte. »Wir sehen uns morgen.« Flüchtig winkte Hannah noch einmal in Julias Richtung, welche ihr nur kopfschüttelnd hinterher sah, warf ihren anderen beiden Freundinnen noch ein schnelles »Tschüss« zu, dann lief sie endlich los.

Sie kam zu spät, aber Max würde warten. Von klein an hatte man ihm beigebracht, nirgends alleine hin zu gehen und immer dort zu bleiben wo er war, egal was geschah. Max war ein braves Kind. Er wusste das und würde sich daran halten.

Es war ein wunderschöner Spätsommertag im September, doch so trügerisch strahlend dieser Tag auch wirkte, er blieb nicht so. Es war wieder einer jener Tage, die alles veränderten …

382,18 ₽
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Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
Объем:
311 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783967526547
Издатель:
Правообладатель:
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Формат скачивания:
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