Читать книгу: «Mia und die Schattenwölfe»

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Inhaltsverzeichnis

Impressum 3

Endlich Ferien! 4

Ankunft im Magischen Wald 10

Besuch bei Lindara 26

Markttag 42

Ein Tag am Nymphsee 63

Die Nacht der Schattenwölfe 82

Eine geheimnisvolle Stimme 96

Der Weise Fels 103

Pläne werden geschmiedet 112

Oma Käthe 124

In Mosros Gängen 133

Die Suche geht weiter 147

Der verschüttete Gang 157

In der Höhle des Chindregons 173

Mia wird gefeiert 190

Auf Tauchgang 203

Eine nächtliche Überraschung 221

Ein Ritt durch die Lüfte 229

Die Schlottern 242

Wiedererlangte Freiheit 265

Die Hexe Kriffniss 275

Tief unter Wasser 299

Der Zwerg Gurzel 322

Schlechte Neuigkeiten 336

Auf zur Kranastebene 344

Ein unvorhergesehener Zwischenfall 356

Die Träne eines Einhorns 365

Wie aus einem Missgeschick eine glückliche Fügung wird 376

Ein Wettlauf gegen die Zeit 401

Ein Wechselbad der Gefühle 411

Das Ende aller Lügen 427

So leben die Helden 433

Noch mehr gute Nachrichten 455

Das Sommernachtsfest 462

Mia reist ab 477

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2021 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99107-692-6

ISBN e-book: 978-3-99107-693-3

Lektorat: Marie Schulz-Jungkenn

Umschlagfoto: Evgenii Naumov, Tamara Höbert, Nadiaforkosh, Gow927, Dannyphoto80 | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildungen: Tamara Höbert

www.novumverlag.com

Endlich Ferien!

Mia war in Hochstimmung. Vor zehn Minuten hatten die Schulglocken die Ferien eingeläutet und übermorgen würde sie mit ihren Eltern in den Urlaub fahren. Nach Spanien, direkt an den Strand! Das Beste daran aber war, dass ihre Cousine Sophie und Tante Anna sie begleiten würden. Mias Onkel dagegen musste auf eine lange Geschäftsreise nach Singapur fliegen und konnte daher leider nicht mitkommen.

Sophie war nicht nur Mias Cousine, sondern gleichzeitig auch ihre beste Freundin. Nicht zuletzt deshalb freute Mia sich unbändig auf den gemeinsamen Urlaub und konnte es kaum erwarten, dass es endlich losging.

Zu Hause angekommen, klingelte sie stürmisch. Dreimal kurz, einmal lang. Wenige Augenblicke später öffnete ihre Mutter die Tür. Etwas an ihrem Gesichtsausdruck kam Mia seltsam vor. Er war nicht so neugierig wie sonst, wenn es Zeugnisse gab, sondern zeigte eine Spur Angespanntheit. Aber vielleicht täuschte Mia sich ja auch.

Ausgelassen wedelte sie mit ihrem Zeugnis vor dem Gesicht ihrer Mutter herum und hüpfte energiegeladen in Richtung Wohnzimmer, wo sie ihren Vater vermutete. Ihre Mutter würde ihr wie üblich folgen, um schnellstmöglich einen Blick auf die Noten werfen zu können, dessen war sich Mia sicher.

Tatsächlich saß Mias Vater, wie erwartet, am Wohnzimmertisch. Er hatte die Stirn in tiefe Falten gelegt und knetete nervös die Hände. Sein Anblick machte Mia stutzig. Was war heute bloß mit ihren Eltern los?

Inzwischen war auch Mias Mutter im Wohnzimmer angekommen. „Setz dich, mein Schatz“, sagte sie. „Wir müssen etwas mit dir besprechen.“

Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch ließ Mia sich am Tisch nieder.

Die Eltern schauten sie mit ernsten Mienen an. Schließlich eröffnete Mias Vater das Gespräch: „Mia, mein Kind. Wir können nicht nach Spanien fahren“, sagte er. „Dein Opa Erwin ist heute Morgen gestürzt und hat sich ein Bein gebrochen. Es ist nicht schlimm, er wird wieder ganz gesund werden, aber deine Mutter und ich können ihn in dieser Situation nicht alleine lassen. Er braucht jemanden, der ihm im Haus zur Hand geht – für ihn einkauft, wäscht, bügelt und so weiter. Deshalb müssen wir schon morgen zu ihm fahren und können nicht nach Spanien. Bei Tante Anna haben sich ebenfalls Umstände ergeben, die es ihr nicht erlauben, von zu Hause abzureisen. Deshalb muss der Urlaub dieses Jahr leider ausfallen. Ich hoffe, du verstehst das.“

Mia war schockiert. Ihr Opa tat ihr leid und natürlich konnte sie verstehen, dass er nun Hilfe brauchte. Aber sie hatte sich doch so auf den Urlaub gefreut! Nicht ans Meer zu fahren, war schon schlimm genug. Dass allerdings die gemeinsame Zeit mit Sophie ins Wasser fallen sollte, brachte Mia schier zur Verzweiflung. Obwohl sie mit aller Macht versuchte, dagegen anzukämpfen, stiegen ihr Tränen in die Augen.

„Nicht weinen, mein Schatz!“, sagte ihre Mutter mitfühlend und tätschelte ihr den Rücken. „Wir holen das auf jeden Fall nach, ja? Und die Ferien werden bestimmt trotzdem toll! Du kannst dir aussuchen, ob du mit uns zu Opa Erwin kommen möchtest und wir uns dort eine schöne Zeit machen, oder ob du zu Sophie und Tante Anna fahren willst.“

Augenblicklich hob sich Mias Laune wieder. „Ich darf zu Sophie fahren??? Die ganzen Ferien???“, rief sie euphorisch.

„Wenn du möchtest und es dir nichts ausmacht, so lange ohne uns zu sein, ja“, antwortete ihre Mutter. Sie war sichtlich erleichtert, dass Mia diese Idee so begeisterte.

„Na, und ob ich will!“, jubelte Mia und fiel nacheinander ihrer Mutter und ihrem Vater um den Hals.

„Ich fahre zu Sophie! Ich fahre zu Sophie!“, trällerte sie aus voller Kehle und hüpfte dabei um den Tisch herum.

Der verpatzte Spanienurlaub war vergessen. Was waren schon zwei Wochen Spanien im Vergleich zu ganzen sechs Wochen bei ihrer geliebten Cousine?

Erst jetzt wurde Mia so richtig bewusst, dass sie Sophie noch nie in deren Zuhause besucht hatte. Sie waren zwar bereits etliche Male gemeinsam in Urlaub gefahren, und Tante Anna und Onkel Otto waren auch schon oft mit Sophie bei Mias Familie zu Hause gewesen. Aber Mia hatte Sophie und ihre Eltern noch nie besucht.

Wenn sie so darüber nachdachte, wusste sie seltsamerweise noch nicht einmal, wo genau Sophie mit ihren Eltern eigentlich wohnte. Aber das würde sich ja jetzt bald ändern!

Mia wollte schon nach oben rennen und ihren Koffer packen, aber ihre Mutter hielt sie zurück. „Bitte setz dich noch mal. Es gibt da etwas, das wir dir erklären müssen, bevor du zu deiner Cousine fährst.“

Schon wieder huschte so ein leicht besorgter Ausdruck über ihr Gesicht. Verunsichert setzte sich Mia zurück auf ihren Platz. Sie fragte sich, was jetzt wohl noch kommen würde.

Mit etwas stockender Stimme sagte ihre Mutter: „Weißt du, Tante Anna ist nicht ganz, hm, wie soll ich sagen? Nun ja – normal.“

Mia zog die Stirn in Falten. Was sollte das nun wieder heißen? Tante Anna war die beste Tante, die man sich vorstellen konnte! Mia verstand nicht, warum ihre Mutter so etwas über sie sagte.

„Ich meine das nicht böse!“, erklärte Mias Mutter schnell. „Ich möchte dich nur darauf vorbereiten, bevor du sie besuchst. Mit nicht normal meine ich, dass sie nicht so ist wie wir. Sie hat ein paar besondere Fähigkeiten und lebt an einem ganz außergewöhnlichen Ort.“

Was ihre Mutter ihr im Folgenden erzählte, ließ Mias Herz schneller schlagen. Angeblich sollte Tante Anna so eine Art Hexe sein und an einem Ort wohnen, den Mias Mutter den Magischen Wald nannte.

Zuerst dachte Mia, ihre Eltern wollten sich einen Scherz mit ihr erlauben. Hexen, Zauberer und solchen Kram gab es doch schließlich nur in Märchen. Oder?

Aber allmählich wurde ihr klar, dass ihre Mutter es ernst meinte.

Das sei auch der Grund gewesen, weshalb Mia bisher noch nie bei Sophie und ihrer Familie zu Besuch gewesen sei, erklärten ihr die Eltern. Sie hätten Mia nicht verwirren wollen. Aber nun sei sie mit ihren 13 Jahren alt genug, die Dinge zu begreifen, fanden sie.

Viel mehr wollte Mias Mutter nicht über den Magischen Wald und Tante Annas Fähigkeiten sagen.

„Es ist sehr kompliziert zu erklären“, meinte sie. „Morgen fährst du ja zu ihnen und dann kannst du alles selbst herausfinden. Aber eines kann ich dir sagen: Ich beneide dich um die Zeit im Magischen Wald! Er ist wunderschön! Was habe ich schon für fantastische Abenteuer dort erlebt!“

Es klang fast ein wenig wehmütig.

„Warum bist du denn keine Hexe und wohnst in diesem Wald? Ihr seid doch schließlich Schwestern, Tante Anna und du!“, wollte Mia wissen.

„Weißt du, diese speziellen Gaben werden meistens nur an ein Kind weitergegeben, auch wenn eine Frau mehrere Kinder hat. In unserem Fall hat eben Anna sie geerbt. So ist das nun einmal. Aber jetzt gehe hoch und packe deine Sachen. Morgen früh um zehn Uhr fährt dein Zug!“

Das ließ sich Mia nicht zweimal sagen. Sie stürmte in ihr Zimmer, zerrte ihren Koffer unter dem Bett hervor und begann, ihn mit Kleidung zu füllen.

Währenddessen grübelte sie darüber nach, was ihre Mutter ihr erzählt hatte. Hexen, Magischer Wald – das klang alles sehr mysteriös. Mia war überaus gespannt, was sie erwarten würde.

In der Nacht war Mia viel zu aufgeregt, um zur Ruhe zu kommen. Als sie irgendwann doch noch in einen unruhigen Schlaf fiel, träumte sie schrecklich wirres Zeug: Sophie kam mitten in der Nacht auf einem Besen angeflogen, klopfte an ihr Fenster und forderte Mia auf, hinter ihr aufzusteigen. Gemeinsam flogen sie anschließend durch die Dunkelheit zu einem großen Lagerfeuer. Dort tanzten Tante Anna, Onkel Otto und Mias Eltern wie wild im Kreis herum und sangen dabei schaurige Lieder. In der Mitte des Kreises, direkt neben dem Feuer, saßen drei schwarze Katzen und brauten einen giftgrünen Zaubertrank. Gerade als sie Mia etwas von dem widerlich stinkenden Zeug zu trinken geben wollten, wachte sie mit klopfendem Herzen auf.

Nun war Mia noch aufgeregter als zuvor, soweit das überhaupt möglich war. Ihr Bauch fühlte sich an, als schwirre ein ganzer Schwarm von Hummeln in ihm umher, und sie fragte sich erneut, was wohl im Magischen Wald auf sie zukommen würde.

An Schlafen war nun beim besten Willen nicht mehr zu denken. Zum Glück war es inzwischen Zeit aufzustehen und Mia sprang erleichtert aus dem Bett. In drei Stunden würde sie endlich mit dem Zug losfahren können.

Ankunft im Magischen Wald

Gleich nach dem Frühstück brachen sie zum Bahnhof auf.

Mias Mutter fiel es sichtlich schwer, ihre Tochter alleine abreisen zu lassen.

„Hast du denn auch deine dicken Socken für abends eingepackt?“, fragte sie besorgt.

„Und einen Sonnenhut? Und denk bloß daran, auf keinen Fall mit Fremden mitzugehen, hörst du?“

„Mama, jetzt mach aber mal halblang! Ich bin doch kein kleines Kind mehr!“, entgegnete Mia empört.

Auch wenn ihr der Abschied ebenfalls nicht leichtfiel, war sie letztendlich heilfroh, als der Zug ratternd und mit ordentlichem Fahrtwind in den Bahnhof einfuhr. Sie gab ihrer Mutter einen Abschiedskuss und versprach ihr ein letztes Mal, gut auf sich aufzupassen.

Mias Vater begleitete seine Tochter noch ins Zugabteil, um ihr den schweren Koffer bis an den Sitzplatz zu tragen. Dann verabschiedete auch er sich von Mia.

„Ich hab’ dich lieb, mein Schatz. Halt die Ohren steif!“

Kaum war Mias Vater ausgestiegen, erscholl auch schon das Signal zur Abfahrt. Die Türen gingen zu und der Zug setzte sich gemächlich in Bewegung. Erst allmählich beschleunigte er seine Geschwindigkeit, bis er schließlich laut ratternd über die Gleise sauste.

Weil Mia so aufgeregt war, kam ihr die Fahrt unglaublich lang vor, obwohl sie einen herrlichen Fensterplatz hatte.

Einmal wollte der freundliche Schaffner ihren Fahrschein sehen. Dann unterhielt sich eine ältere Frau eine Weile mit ihr, musste aber vier Stationen später wieder aussteigen. Ansonsten verlief die Zugfahrt ereignislos.

Mia knabberte hin und wieder etwas von dem Proviant, den ihre Mutter ihr eingepackt hatte, und beobachtete dabei die Landschaft, die am Fenster vorüberzog. Je mehr Zeit verstrich, umso idyllischer wurde die Umgebung. Immer öfter fuhr der Zug durch dichte, grüne Wälder, die Mias Fantasie anregten. Aufgeregt malte sie sich allerlei Abenteuer aus, die sie gemeinsam mit ihrer Cousine im Magischen Wald erleben könnte. Dabei fragte sie sich, ob ihre Vorstellungen überhaupt realistisch waren. Ihrer Mutter waren einfach keine Einzelheiten über den Magischen Wald zu entlocken gewesen. Mia konnte es kaum erwarten herauszufinden, was es mit diesem mysteriösen Ort auf sich hatte.

Endlich hielt der Zug in Diggelsheim, dem Ort, in dem Mia aussteigen musste.

Ein kräftiger Mann war so nett, ihr den Koffer zur Tür zu tragen. Mit klopfendem Herzen stieg Mia aus und schaute sich suchend um. Schon gleich erblickte sie ihre Cousine Sophie und Tante Anna, die am Bahnsteig auf sie warteten.

Sophie war ein hübsches Mädchen. Sie war ein kleines Stückchen größer als Mia, hatte glattes, braunes Haar und strahlend grüne Augen.

Tante Anna war ebenfalls attraktiv und sah überhaupt nicht wie eine Hexe aus. Jedenfalls nicht wie eine aus dem Märchen: Graue Haare, Hakennase, hässliches Gesicht mit ekligen Warzen darin und so weiter. Im Gegenteil – sie war eine schlanke Frau mit ebenfalls braunen Haaren, die an ihrem Hinterkopf zu einem Zopf zusammengebunden waren. Um die Augen herum hatte sie kleine Lachfältchen, die ihrem Gesicht eine besonders sympathische Note verliehen.

Mia rannte auf die beiden zu und fiel Sophie stürmisch um den Hals. „Ist das nicht herrlich?“, rief sie. „Ganze sechs Wochen nur für uns!“

Sophie strahlte ebenfalls über das ganze Gesicht. „Wir werden eine irre schöne Zeit haben!“, erwiderte sie.

Dann begrüßten auch Tante Anna und Mia sich mit einer freudigen Umarmung.

„Willkommen!“, sagte Anna herzlich. „Wir freuen uns, dass du uns besuchen kommst! Deine Mutter hat dir erzählt, wo wir wohnen, nicht wahr? Na, dann wollen wir mal!“

Mit diesen Worten ergriff sie Mias Koffer und steuerte auf ein gelbes Taxi zu, das am Bahnhofsausgang auf Fahrgäste wartete. Tante Anna forderte die beiden Mädchen auf, schon einmal einzusteigen. Sie selbst verstaute zunächst Mias Gepäck im Kofferraum. Anschließend nahm sie auf dem Beifahrersitz Platz und sagte zu dem Taxifahrer: „In den Waldweg, bitte.“

Der Mann hinter dem Lenkrad schaute zwar etwas verwundert drein, fuhr aber los, ohne weiter nachzufragen.

Von der Umgebung bekam Mia zunächst nicht sonderlich viel mit. Sie und Sophie waren viel zu sehr damit beschäftigt, allerlei Neuigkeiten auszutauschen.

Erst als das Taxi nach einer Weile seine Fahrt verlangsamte und schließlich zum Stehen kam, schaute Mia neugierig zum Fenster hinaus. Sie war verblüfft zu sehen, dass sie mitten auf einem Waldweg standen, der gerade breit genug für ein Auto war. Zuerst dachte Mia, sie würden nur einen kleinen Zwischenstopp einlegen. Daher war sie mindestens genauso erstaunt wie der Taxifahrer, als Tante Anna wie selbstverständlich verkündete: „Ja, genau hier steigen wir aus.“

Nachdem sie den Fahrer bezahlt hatte, wartete Tante Anna, bis das Auto außer Sichtweite war. Erst dann ging sie entschlossenen Schrittes auf zwei hochgewachsene Birken zu, die sich in einem Abstand von etwa zwei Metern gegenüberstanden. Genau zwischen diesen beiden Bäumen blieb sie stehen und neigte ihren Kopf nacheinander nach links und nach rechts. Die Geste erweckte den Eindruck, als wolle Tante Anna die Birken grüßen und ihnen gleichzeitig Ehrerbietung erweisen. Anschließend hob sie ihre Arme seitlich in die Luft, schloss voller Konzentration die Augen und murmelte leise einige Wörter. Für Mia klangen sie in etwa wie: „Aperta porta aureum“.

Kaum waren die Wörter ausgesprochen, fing die Luft zwischen den beiden Birken an zu flimmern. Es sah aus, als habe jemand einen Vorhang aus feinem, goldenem Nieselregen zwischen die Bäume gespannt.

Tante Anna öffnete die Augen nun wieder und machte eine einladende Geste in Mias Richtung. „Bitte schön – das Tor zum Magischen Wald. Tritt einfach hin­durch!“

Mia zögerte. Die Sache war ihr nicht ganz geheuer. Sophie bemerkte Mias Unbehagen und meinte einfühlsam: „Keine Angst, es ist überhaupt nicht schwer. Mach es mir einfach nach.“

Mit diesen Worten trat sie resolut in den goldenen Schimmer. Im nächsten Moment war keine Spur mehr von ihr zu sehen.

Mia war zu verblüfft, um etwas zu sagen, und schaute hilfesuchend zu ihrer Tante. Diese nickte ihr aufmunternd zu und ermutigte sie: „Dir kann nichts passieren und es tut auch kein bisschen weh. Sophie erwartet dich auf der anderen Seite.“

Also atmete Mia einmal tief durch und ging vorsichtig auf die schimmernde Wand zu. Kurz davor blieb sie stehen und zögerte erneut. Dann gab sie sich einen Ruck, schloss sicherheitsshalber die Augen und machte einen großen Schritt vorwärts. Ein seltsames Gefühl ergriff Besitz von ihr. Es war wie ein leichtes elektrisches Kribbeln – nicht unangenehm, aber höchst sonderbar. Im nächsten Augenblick war es auch schon vorüber. Mia öffnete die Augen und sah sich um. Vor ihr stand Sophie und grinste sie an. Ansonsten hatte sich nicht allzu viel verändert. Der Wald sah ein wenig dichter aus und die Farben kamen Mia etwas intensiver vor. Aber wenn sie erwartet hatte, dass plötzlich ein Lebkuchenhäuschen samt Hexe davor auftauchen würde, hatte sie sich getäuscht.

Sie drehte sich zu dem Tor um, durch das sie gerade gekommen war. Eben in diesem Augenblick trat Tante Anna wie selbstverständlich durch den goldenen Schimmer. Direkt danach klatschte sie zweimal in die Hände, rief: „Diffuso“, und das Tor war ebenso schnell verschwunden, wie es zuvor aufgetaucht war.

„Da wären wir also!“, sagte Tante Anna fröhlich zu Mia. „Das hier ist der Magische Wald. Jetzt müssen wir nur noch zu unserem Haus fahren. Es ist aber nicht mehr sehr weit – du hast die Reise bald geschafft.“

Gerade fragte sich Mia, womit sie wohl zu dem Haus fahren sollten, als sie eine Kutsche entdeckte, die fast gänzlich hinter einem großen Busch verborgen war.

Seltsamerweise war kein Pferd vor die Kutsche gespannt und auch in der näheren Umgebung konnte Mia keines entdecken. Dafür zog ein kleines Männchen, das auf dem Kutschbock saß, ihre Aufmerksamkeit auf sich. Es war nur ungefähr halb so groß wie Mia, sah reichlich verhutzelt aus und hatte unglaublich dicke Pausbacken. Wie um sein ziemlich unansehnliches Äußeres wettzumachen, war das Männchen besonders elegant angezogen. Es trug einen schicken schwarzen Anzug an seinem kleinen Körper und einen ebenfalls schwarzen Zylinder auf dem nicht ganz so kleinen Kopf.

Sophie stellte die beiden einander vor: „Das ist Mia, meine Cousine. Und das ist Windipuss, unser Kutscher.“

„Erfreut“, nuschelte das Männchen mit dem Namen Windipuss und zog dabei galant seinen Hut.

Mia war fast zu erstaunt, um antworten zu können, brachte dann aber doch noch ein „Danke, ebenfalls“ hervor.

Nachdem sie in die Kutsche gestiegen waren, wollte Mia gerade fragen, wie sie ohne Pferd vorwärtskommen sollten. In diesem Augenblick zog Windipuss an einem Seil, woraufhin sich eine Art Fallschirm vor der Kutsche entfaltete. Im nächsten Moment holte das Männchen so tief Luft, dass sich seine Backen prall aufbliesen. In jede Seite passte etwa so viel hinein wie in fünf große Luftballons zusammen und Mia hatte schon Angst, die Wangen würden zerplatzen. Doch dann stieß das kleine Kerlchen die Luft mit einem festen Stoß in Richtung des Fallschirmes aus. Dieser blähte sich daraufhin auf und zog die Kutsche mit einem sanften Ruck nach vorne.

So ging es ohne Unterbrechung weiter. Kaum hatte Windipuss in den Fallschirm gepustet und somit die Kutsche angetrieben, holte er auch schon das nächste Mal Luft und blies sie erneut nach vorne aus. Auf diese Weise kam die Kutsche stetig und sogar recht flott voran.

Mia kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, entspannte sich aber schnell und begann, die Fahrt in vollen Zügen zu genießen. Neugierig betrachtete sie die Landschaft, die nun an ihr vorüberzog.

Die Kutsche fuhr einen schmalen Waldweg entlang. Links und rechts von ihm befanden sich Bäume, Wiesen und Büsche, so weit das Auge reichte. Ab und zu sah Mia allerdings auch kleine Holzhütten stehen.

Die Luft war herrlich frisch und roch angenehm nach Tannennadeln, Moos, würzigen Kräutern und duftenden Blüten.

Plötzlich drosselte Windipuss die Kutsche, denn ein dicker Ast hing quer über den Waldweg, sodass das Gefährt nicht passieren konnte.

Tante Anna fixierte den großen Baum, zu dem der Ast gehörte, und fragte laut: „Meister Rombert, wärt Ihr wohl so freundlich, uns vorbeizulassen?“

Daraufhin öffneten sich mitten in dem Baumstamm träge zwei Augen und blickten in ihre Richtung. Nun erkannte Mia auch eine Nase, die sie vorher für eine einfache Ausbuchtung der Rinde gehalten hatte, und einen Mund, der gemächlich zu sprechen ansetzte.

„Oh, Frau Anna“, sagte der Baum mit tiefer, behäbiger Stimme. „Was für ein Vergnügen, Euch zu sehen! Natürlich mache ich Euch gerne Platz!“

Langsam hob sich der Ast nach oben und gab den Waldweg frei.

„Vielen Dank, Meister Rombert. Und einen schönen Tag noch!“, rief Tante Anna, als die Kutsche sich wieder in Bewegung setzte.

Mia war fassungslos. Sie hatte sich ja viel ausgemalt, was ihr im Magischen Wald alles begegnen könnte. Doch trotz ihrer lebhaften Fantasie hätte sie es niemals für möglich gehalten, auf was für unglaubliche Wesen sie hier treffen würde. Immer noch staunend beschloss sie, sich von nun an über nichts mehr zu wundern.

Gerade als sie diesen Entschluss gefasst hatte, vernahm sie einen lieblichen, zarten Gesang. Neugierig hielt sie nach dessen Ursprung Ausschau und entdeckte links neben dem Waldweg ein außergewöhnliches Blumenbeet. Die verschiedensten Arten von Blumen standen ordentlich in Reih und Glied neben- und hintereinander. Genau wie der Baum von eben hatten auch die Blumen Gesichter. Aus ihren zierlichen Mündchen kamen die lieblichen Stimmen, die Mias Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten. Die Blumen sangen!

Eine einzelne Blume – eine große lila Tulpe – stand vor der Gruppe und schwenkte ihre Blätter, als würde sie dirigieren.

Auf einmal ertönte ein Ton, der überhaupt nicht zu der übrigen Melodie passte. Eine kleine rosa Lilie schlug sich eine Hand, oder besser gesagt ein Blatt, vor den Mund und auch alle anderen Blumen verstummten betreten.

Missbilligend tadelte die lila Tulpe die kleine Lilie: „Dorea, du machst immer an der gleichen Stelle einen Fehler! Heute Abend übst du so lange, bis du sie sogar im Schlaf richtig singen kannst. In Ordnung?“

Die kleine Lilie nickte eifrig.

Sophie riss Mia aus ihrer faszinierenden Beobachtung, indem sie ihr erklärte: „Der Blumenchor übt für das Sommernachtsfest.“

„Sommernachtsfest?“, fragte Mia, die kaum ihren Blick von den Blumen wenden konnte.

„Ja, jedes Jahr im August feiern wir eine riesige Party, das Sommernachtsfest. Dort gibt es köstliche Speisen, erlesene Getränke und vor allem Musik. Man tanzt bis in die späte Nacht hinein und die Mädchen und Frauen übertrumpfen sich gegenseitig mit den prächtigsten Kleidern. Glücklicherweise findet es dieses Jahr genau am Ende unserer Ferien statt und du wirst es bestimmt genießen!“

„Klingt toll“, antwortete Mia. Im Moment konnte sie allerdings nicht an ein Fest denken, das noch in so weiter Ferne lag. Dafür war sie viel zu gefesselt von der Landschaft, die im Augenblick an ihr vorbeizog. Sie sog die Eindrücke begeistert in sich auf und hätte noch stundenlang so weiterfahren können. Aber da verkündete Tante Anna auch schon: „Jetzt sind wir gleich da.“

Und tatsächlich erreichten sie bereits wenige Minuten später eine kleine Lichtung, auf der ein Holzhäuschen stand. Es war ein wenig windschief, hatte ein mit Moos bewachsenes Dach und sah sehr urig und gemütlich aus.

Die Kutsche kam zum Stillstand und Tante Anna machte eine einladende Bewegung. „Hier wohnen wir. Nochmals herzlich Willkommen bei uns zu Hause, Mia!“

Mit diesen Worten stieg sie aus und nahm Mias Koffer mit. Mia und Sophie folgten ihr.

Als die drei vor der Tür des Häuschens standen, drang plötzlich ein schnüffelndes Geräusch an Mias Ohr. Und bei näherem Hingucken erkannte sie, dass die Haustür eine große Nase hatte, deren Flügel sich sanft bewegten. Die Tür schnupperte!

„Ah! Die Hausherrin ist zurückgekehrt“, ertönte wenig später eine knarzige Stimme, die aus dem Inneren der Tür zu kommen schien. Nachdem sie ein weiteres Mal die Nasenflügel gebläht hatte, sprach sie weiter: „Und auch Fräulein Sophie ist dabei.“

Sie schnüffelte erneut. „Aber da ist noch jemand, den ich nicht kenne!“

„Ganz recht“, antwortete Tante Anna. „Wir haben einen Gast, der für sechs Wochen bei uns wohnen wird. Sie heißt Mia und ist meine Nichte. Sie ist befugt, das Haus zu betreten, wann immer sie das wünscht. Also nimm bitte eine Geruchsprobe von ihr und lass sie auch dann ein, wenn sie alleine nach Hause kommt!“

„Wie die Hausherrin wünscht!“, sprach die Tür. „Würde das neue Fräulein wohl etwas näher herantreten?“

„Geh nur“, ermutigte Tante Anna Mia. „Die Tür muss deinen Geruch intensiv aufnehmen. Nur dann kann sie ihn sich merken und lässt dich ins Haus, wenn du vor ihr stehst.“

Mia trat beherzt näher an die Tür heran.

Sofort war ein deutliches Schnüffeln zu vernehmen und die Nasenflügel blähten sich erneut. „Bitte einmal die Arme heben!“, verlangte die Tür.

Mia tat, wie ihr geheißen, und hörte, wie die Nase mit der Schnüffelei fortfuhr. Die vorbeistreichende Luft kitzelte Mia an den Achseln und brachte sie zum Kichern. Dann hörte das Schnüffeln abrupt auf und die Tür sagte mit ihrer knarzigen Stimme: „Nun denn, hereinspaziert!“ Mit diesen Worten schwang sie nach innen auf und gab den Weg ins Haus frei.

Mia folgte ihrer Tante und Cousine hinein. Sophie führte sie zuerst im Haus herum und zeigte ihr alle Räumlichkeiten. Das Haus war innen wesentlich weitläufiger, als es von außen den Anschein hatte.

Im Erdgeschoss befanden sich eine Küche und ein sehr gemütliches Wohnzimmer, von dem aus man in den großen, gepflegten Garten gelangen konnte.

Vom geräumigen Flur aus führte eine Holztreppe ins Obergeschoss hinauf. Mia stellte auf dem Weg nach oben fest, dass mehrere der Stufen laut und gemütlich knarrten, wenn man darauf trat.

Am Ende der Treppe befand sich eine kleine Diele, von der mehrere Zimmer abzweigten. Eines dieser Zimmer war Sophies Schlafzimmer. Es war herrlich groß und wunderbar fantasievoll eingerichtet. Besonders angetan war Mia von dem bequem aussehenden Himmelbett, welches breit genug für beide Mädchen war.

Mit ausgestreckten Armen drehte Sophie sich um ihre eigene Achse und sagte: „Das hier ist mein eigenes Reich und ich freue mich so sehr, es in nächster Zeit mit dir zu teilen. Komm, wir räumen mal deinen Koffer aus. Ich habe schon gestern Platz im Schrank gemacht, damit deine Kleidung auch noch hineinpasst.“

Nach getaner Arbeit gingen die beiden Mädchen wieder nach unten, da es inzwischen schon Zeit für das Abendessen war.

Tante Anna hatte den Tisch bereits gedeckt.

„Setzt euch, ihr zwei Hübschen“, sagte sie. „Mia, du musst nach deiner langen Reise einen Bärenhunger haben!“

Mia war in der Tat hungrig und trat daher eilig näher an den Tisch. Sie zog einen der Stühle zu sich heran, um darauf Platz zu nehmen. Statt auf der Sitzfläche landete sie aber im nächsten Moment mit einem lauten Plumps mit ihrem Po auf dem Boden.

„Au!“, rief sie verwirrt. Sie war sich sicher, dass der Stuhl eben noch direkt hinter ihr gestanden hatte und schaute sich irritiert nach ihm um. Verwundert sah sie, dass er sich nicht an der erwarteten Stelle befand, sondern etwa einen Meter hinter Mia.

„Oh, du unartiger Stuhl!“, rief Tante Anna, die das Geschehen beobachtet hatte. „Geh sofort auf den Dachboden und denk dort über dein Verhalten nach! Ich möchte dich erst morgen Früh wieder hier sehen!“

Zu Mias maßlosem Erstaunen setzte der Stuhl sich widerwillig in Bewegung, wobei er mithilfe seiner vier Beine wie ein Hund vorwärtslief. Bei der Tür blieb er zögernd stehen. Erst, nachdem Tante Anna „Sofort, oder ich mache dir Beine!“ gerufen hatte, bewegte er sich endgültig aus dem Raum.

„Es tut mir leid, Schätzchen!“, sagte ihre Tante nun an Mia gerichtet. „Ich hätte dich warnen sollen. Das war Charlie, ein sehr ungezogener Stuhl. Er erlaubt sich immer wieder Scherze auf Kosten anderer. Wir haben ihn noch nicht allzu lange und er muss erst richtig erzogen werden. Setz dich einfach auf einen der anderen Stühle – die sind alle ganz folgsam.“

Mia rieb sich ihren schmerzenden Po. Gleich darauf bemerkte sie, dass sich bereits einer der anderen Stühle hinter sie geschoben hatte und darauf zu warten schien, dass Mia sich auf ihm niederließ. Er erweckte den Eindruck, als wolle er das ungezogene Verhalten Charlies wiedergutmachen.

Vorsichtig nahm Mia auf der Sitzfläche Platz. Erfreulicherweise erwartete sie keine neuerliche böse Überraschung. Der Stuhl blieb brav an Ort und Stelle stehen. Trotzdem war Mia weiterhin skeptisch – auf einem lebendigen Stuhl zu sitzen, war ihr nicht ganz geheuer. Sie wusste nicht, ob ihr die Fantasie einen Streich spielte oder nicht, jedenfalls kam es ihr vor, als spüre sie, wie das Möbelstück unter ihr langsam ein- und ausatme.

Erleichtert stellte sie fest, dass wenigstens das Abendessen ganz normal zu sein schien. Es gab Brot, Wurst und Käse, wie auch bei ihren Eltern zu Hause, und Mia langte ordentlich zu.

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9783991076933
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