Читать книгу: «Die Fallen des Multikulturalismus», страница 2
Laizität und Säkularisierung, nicht nur im Westen
Ein weiteres Missverständnis, das es auszuräumen gilt, erachtet die Laizität als einen rein westlichen Wert und betreibt den in ihrem Namen ausgefochtenen Kampf als eine Art Fortsetzung des Kolonialismus mit anderen Mitteln. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen politischer Macht und Religion, zwischen religiöser Gemeinschaft und politischer Gemeinschaft, also die Frage der Laizität ist, ganz im Gegenteil, keine Prärogative des Westens, sondern so etwas wie ein universaler Topos in der Menschheitsgeschichte. Es handelt sich um eine Fragestellung, mit der sich etwa auch die muslimische Gesellschaft seit dem Tode Mohammeds auseinandergesetzt hat.
In seinem Essay L’Islam est-il hostile à la laïcité?8 erklärt Abdou Filali-Ansary, dass der Ablösungsprozess zwischen politischer Macht und religiöser Sphäre nach der ersten Phase des Kalifats in Gang gekommen ist, als das ottomanische Reich sich ausdehnte und ein gewisser Grad an Bürokratisierung des gesellschaftlichen Lebens notwendig wurde. Dieser Prozess stellte sich als die wesentliche Trennscheide für die nachfolgenden Aufteilungserscheinungen innerhalb der muslimischen Welt heraus, wobei diese Ablösung von dem Bedürfnis ausging, die religiöse Sphäre vor den Vorstößen der politischen Macht zu schützen. Dieser von Filali-Ansary so benannte »mittelalterliche Kompromiss«9 ermöglichte es nämlich, der Schiedsgewalt der politischen Macht den in der Religion ruhenden Kern von moralischen Regeln zu entziehen. Es handelte sich bei diesem Kompromiss um eine Art Gleichgewicht, das der Zivilgesellschaft einen Grad an Autonomie gegenüber den politischen Autoritäten einräumte, die ihrerseits als legitim anerkannt wurden, solange sie sich nicht an besagtem Kern von Grundprinzipien vergriffen.10
Es handelt sich dabei freilich um eine Entwicklung mit Eigenheiten, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Unabhängig von den spezifischen Formen, die dieser Prozess in der muslimischen Welt angenommen hat (und je nach nationalem Kontext mit großen Unterschieden),11 muss für unseren Zusammenhang hervorgehoben werden, dass die komplexen Beziehungen zwischen Religion und politischer Macht sich stets im Zentrum der muslimischen Geschichte befanden. Keinesfalls war das bloß dem Abendland und genauso wenig dem Christentum vorbehalten.
Unabhängig davon fand auch in Europa die Säkularisierung zu unterschiedlichen Zeiten und auf unterschiedliche Weise statt. Besondere Differenzen bestanden zwischen den katholisch geprägten und den protestantischen Staaten. Selbst in dem Land, das heute gleichsam emblematisch für Laizität steht, in Frankreich, hat sich der Prozess, der zur Trennung von Staat und Kirche führte, weder schmerzfrei noch besonders schnell vollzogen. »Ein Jahrhundert hat es gedauert«, schreibt Gauchet, »bevor das Prinzip dieser Trennung und die Werte des demokratischen Individualismus bei den Gläubigen ankommen konnten.«12
Auf der Analyseebene muss man allerdings die Säkularisierung, also den historischen Prozess der Trennung von politischer Macht und religiöser Macht – einen Prozess, der wie gesagt mehr oder weniger überall mit unterschiedlichen Ausprägungen je nach soziopolitischem Kontext stattfindet –, von der Laizität als politischem Prinzip abgrenzen. Für Roy sind die Parameter, an denen beide Phänomene gemessen werden können, einerseits die Trennung von Kirche und Staat, woran sich der Grad der Säkularisierung ablesen lässt, und andererseits der Stellenwert, den die Religion in der Gesellschaft innehat, was das Maß an Laizität verdeutlicht.13
Akzeptiert man diese Unterscheidung, kann man sich ohne weiteres einen Staat vorstellen, der säkularisiert ist, aber nicht zur Gänze laizistisch. Als Beispiel sei auf die Vereinigten Staaten von Amerika verwiesen, ein vollkommen säkularisiertes, jedoch kaum laizistisches Land, in dem das öffentliche Leben reichlich von Religion durchsetzt ist, obwohl die Macht nicht bei religiösen Institutionen liegt. Allerdings gibt es Beispiele dieser Art in Hülle und Fülle und man kann mit Fug und Recht behaupten, dass so gut wie alle europäischen Länder säkularisiert sind, auch wenn nur wenige, wenn überhaupt welche, sich vollendet laizistisch nennen dürfen.
Vor diesem Hintergrund scheint auch Gauchets These vom »Austritt der Welt aus der Religion« nicht uneingeschränkt nachvollziehbar. Der Autor von Le désenchantement du monde14 liest die Geschichte des Verhältnisses von Staat und Kirche unter den Vorzeichen eines säkularen Aufeinandertreffens der »Partei der Autonomie« und der »Partei der Heteronomie«. Er vertritt dabei die Meinung, dass erstere, mit anderen Worten die Demokratie, metaphysisch betrachtet gewonnen habe, während ihre Gegenspielerin, verkörpert im Versuch der Religionen, das politische und gesellschaftliche Leben der gesamten Gemeinschaft zu strukturieren, im Grunde gescheitert sei. Die Folge dieses vermeintlichen Triumphs der Demokratie bestehe jedoch im Sinnverlust der Demokratie. Sei der »Feind« erst einmal beseitigt, verliere der laizistische Staat seine Autorität. Ihm fehle ein »metaphysischer« Entwurf, eine »umfassende Sinndoktrin«, die er der Partei der Heteronomie entgegensetzen könne. Gauchet beschreibt diese Phase als den »letzten theologisch-politischen Umschwung der Moderne«.15 Von diesem Standpunkt aus betrachtet, hätte die berüchtigte und immer wieder heraufbeschworene »Rückkehr der Religionen«16 laut Gauchet rein gar nichts mit ihrer Fähigkeit zu tun, die politische Struktur zu formen, sondern wäre vielmehr eine Folge des Austritts der Welt aus der Religion. Dieser Zustand bewirke nämlich, dass die Religionen sich »privatisierten« und als »Quellen eines Sinns und umfassender Doktrinen« eine neue Existenzberechtigung fänden.17
Anders gesagt, Gauchet vertritt die Meinung, »die politische Geschichte der Religionen« sei am Ende,18 was freilich weder bedeute, dass sie keinen Einfluss mehr auf die Gesellschaft hätten, noch dass das Religiöse verschwunden oder im Verschwinden begriffen sei, sondern nur, dass es keine strukturierende Funktion für Politik und Gesellschaft habe. Dass die Religion »privatisiert« worden sei, impliziert für Gauchet keinesfalls, dass sie zu einer ganz und gar persönlichen Angelegenheit werde, die sich nur noch zwischen den eigenen vier Wänden abspielen darf: »Die Aussage, dass die religiösen Überzeugungen unwiederbringlich auf die Seite des Privaten gewandert sind, erfasst bloß die grundlegende Tatsache, dass sie ihre Stellung als öffentliches Gesetz verloren haben. […] Mit dieser Privatisierung geht keine Isolierung des Glaubens in ein Intimes einher, in dem [die Religionen] verbleiben müssten. Die Privatsphäre ist nicht deckungsgleich mit dem Intimen.«19
Gauchets These erfasst zweifelsohne einen wesentlichen Punkt: Die Säkularisierung hat die Religionen »gezwungen«, sich aus dem politischen Leben zurückzuziehen und eine Rolle als »Sinnreservoir« im Privatleben der Gläubigen einzunehmen. Seine Interpretation ist jedoch auf die historische Beziehung zwischen dem Staat und den christilichen Kirchen, insbesondere der katholischen, zugeschnitten. Heutzutage sehen wir uns mit anderen Subjekten konfrontiert, die das verkörpern, was Gauchet die »Partei der Heteronomie« nennt – von den protestantischen Fundamentalisten über die katholischen bis hin zu den islamischen –, und die für den laizistischen Staat eine ganz neue Herausforderung darstellen.
Diese Herausforderung muss angenommen werden, sonst hat man bereits verloren. Sofern man sich nicht einer deterministischen und finalistischen Geschichtsvision verschrieben hat, muss man einerseits zuerkennen, dass dieser Prozess des »Austritts aus der Religion« von der Kirche akzeptiert oder, vielleicht besser, erlitten worden ist, und das auch nur mit Gewalt und dank eines unablässigen Streitens für Laizität und Säkularisierung. Andererseits muss aber auch gesehen werden, dass diese Schlacht nicht ein für alle Mal geschlagen ist und dass die Religionen – heute auch in ihren fragmentierten und fundamentalistischen Spielarten – sich kontinuierlich bemühen, das verlorene Terrain zurückzuerobern. Es scheint daher etwas vorschnell, mit Gauchet zu konstatieren, »dass die religiösen Überzeugungen unwiederbringlich auf die Seite des Privaten gewandert«20 seien.
Unabhängig davon räumt der Autor selbst ein, die Fundamentalisten zielten darauf ab, jene Ordnung wiederherzustellen, in der die Religion den öffentlichen Raum strukturiere, was jedoch nicht heiße, »dass ihr Handeln in der Realität den gewünschten Effekt erzielt«.21 Angenommen, das stimmte, was in jedem Fall erst einmal zu beweisen wäre, müsste man sich zunächst grundsätzlich fragen: Wieso nicht?, und als Nächstes: Wie lange noch?
Anders gefasst, der Austritt der Welt aus der Religion ist – um weiterhin mit Gauchet zu sprechen – kein notwendiges Produkt der Geschichte, sondern das Ergebnis einer Dialektik zwischen entgegengesetzten Kräften. Obwohl also das Bild vom Austritt aus der Religion eine große beschreibende und erklärende Kraft entfalten mag, ist es womöglich auf einer normativen und die Praxis betreffenden Ebene kaum sprechend. Es gibt keine Religion, die ihrem Wesen nach der Laizität mehr oder weniger zu- oder abgeneigt wäre. Alle Religionen sind Entwürfe der Heteronomie, die einen Sieg der Autonomie, falls überhaupt, nur widerwillig akzeptieren. Die Laizität ist folglich also ein Autonomieentwurf, der sich gegen den Willen aller Heteronomieentwürfe durchgesetzt hat, von denen Religionen wiederum nur die Spitze darstellen. Davon auszugehen, dass es sich dabei um eine mittlerweile selbstverständliche Errungenschaft handelt, wäre jedoch ein schwerwiegender Irrtum.
»Die Tatsache, dass der Staat ein laizistischer ist, das ist heutzutage in Frankreich ebenso wie in der Türkei längst eine ausgemachte Sache«, schrieb Roy 2005,22 und heute kann jeder mitansehen, wie die Türkei immer weiter abdriftet. Gauchet vertritt in Hinblick auf die Rolle der Religion in Polen die Meinung, dass »die massive Bestätigung einer katholischen Identität seitens eines Großteils der Bevölkerung (mehr als 90 Prozent) in keiner Weise mit einem tatsächlichen Wiedererstarken der Kirche einhergeht, wenn es etwa darum geht, die eigene Sexualmoral durchzusetzen«.23 Diese Haltung wurde auf traurige Weise von den heftigen Angriffen auf die Frauenrechte, insbesondere den Schwangerschaftsabbruch, widerlegt, die die katholische Kirche dort seit einigen Jahren betreibt (darauf wird noch zurückzukommen sein). Der Grund für solche eklatanten Fehleinschätzungen liegt darin, dass selbst extrem scharfsichtige und aufschlussreiche Untersuchungen früherer Ereignisse die Kategorie des menschlichen Handelns außer Acht lassen, mit unvorhersehbaren Konsequenzen. Es ist eine Sache, zu rekonstruieren, welche gesellschaftlichen Dynamiken eine bestimmte Situation herbeigeführt haben, eine ganze andere jedoch, davon auszugehen, dass die Dinge gar nicht anders hätten laufen können und der Weg nunmehr vorgezeichnet sei.
Was geschieht, ist nämlich nichts anderes als bloß einer von zahllosen möglichen Entwürfen dessen, was hätte geschehen können. Sicher, sobald etwas einmal geschehen ist, steht fest, dass es in gewisser Hinsicht nicht hätte nicht geschehen können, aber eine Analyse der Vergangenheit auf die Handlung der Gegenwart zu projizieren, ist eigentlich nicht hilfreich, da wir nicht wissen können, welches Element im Hier und Jetzt den Wandel in die eine oder andere Richtung auslösen wird. Eine geringfügige und unvorhersehbare Fluktuation war ausreichend, um in der Leere den Urknall auszulösen.24 Keiner von uns kann sich sicher sein, dass nicht ausgerechnet unser Handeln diese minimale Fluktuation darstellt, die den Lauf der Dinge verändern wird. Dabei macht gerade diese Unwägbarkeit der Geschichte es unabdingbar, Stellung zu beziehen und zu handeln.
Letztlich ist es auch gar nicht wahr – womit wir bei einem weiteren Mythos wären, den es zu entzaubern gilt –, dass der laizistische Staat keinen »ethisch-politischen« Gehalt hätte oder, um erneut Gauchets Worte zu bemühen, keinen »metaphysischen« Entwurf, keine »umfassende Sinndoktrin«, die überdies reich an relevanten praktischen Konsequenzen ist. Der Schutz der Autonomie und der Rechte aller und jedes Einzelnen stellt eine ganze Bandbreite an Konsequenzen dar und auch an Sinnstiftung. »Es ist nicht wahr«, schreibt Henri Peña-Ruiz, »dass Laizität das Synonym einer entzauberten Welt darstellt, in der es an ethischen Beziehungen und Referenzen mangelt. Das laizistische Ideal vereint die Menschen über das, was sie aufhebt und dabei befreit: Herrscher über die eigenen Gedanken zu werden, um auch, soweit möglich, über das eigene Handeln zu herrschen.«25
Die entzauberte Welt, die feststellt, dass jenseits des schmalen Horizonts unseres Lebens nichts weiter existiert, ist dieselbe Welt, die den Sinn auf die Menschlichkeit des Menschseins zurückführt. Ist das (öffentliche) Feld endlich von der belastenden Anwesenheit Gottes bereinigt, wird der Mensch zum Herrn der Welt, jedes einzelne menschliche Wesen in seiner Universalität. Unter diesen Vorzeichen nimmt der laizistische Staat wieder eine grundlegende Rolle bei der Verbreitung dieses neuen ethisch-politischen Horizonts ein, der gleichzeitig endlich und universal ist.
Im Gegensatz zu Gauchets Meinung – der zufolge »die Laizität sich nicht mehr die Themen der menschlichen Emanzipation auf die Fahne schreiben kann, die über so lange Zeit ihren Reiz ausgemacht haben. Sie kann sich, zusammengefasst, nicht mehr als Selbstzweck präsentieren«26 – kann der laizistische Staat gerade in einem Kontext, in dem die Konfrontation mit der weltlichen Macht der Kirche wegfällt und der von den unterschiedlichsten religiösen Subjekten bevölkert ist, endlich seine ethisch-politische Vorherrschaft ausüben. Das liegt daran, dass er nicht mehr bloß den einen Pol einer Symmetrie darstellt – wie er es, zumindest in den katholisch geprägten Ländern, über die ganze Geschichte der Säkularisierung hinweg war –, sondern sich als Garant der Gewissensfreiheit und, allgemeiner noch, der Menschenrechte jedes einzelnen Bürgers etabliert. Seine Rolle verändert sich folglich, aber sie verschwindet nicht. Im Gegenteil, sie wird immer wichtiger, da, wie noch zu zeigen sein wird, eine ganze Reihe von alles andere als bloß formalen Pflichten und Verpflichtungen implizit damit einhergeht, jedem einzelnen Bürger die volle Autonomie und Freiheit zu garantieren.
Konfessionalismus oder Laizität – tertium non datur
Je komplexer eine Gesellschaft wird, desto größer wird auch die Notwendigkeit – will man unverrückbar an den Menschenrechten festhalten –, eine rigorose Laizität gegenüber jedweder Glaubensrichtung und spirituellen Option durchzusetzen. Solange in einer Gesellschaft im Wesentlichen nur eine einzige Weltsicht herrscht, kann die Vermengung von öffentlicher Sphäre und Religion verkraftet werden, ohne besondere gesellschaftliche Spannungen hervorzurufen. In dem Maße jedoch, wie eine Gesellschaft anfängt, komplex zu werden, Minderheitenreligionen zunehmend Fuß fassen und handfeste Minderheiten bilden, werden diese beginnen – das ist ebenso zu erwarten wie nachvollziehbar –, eine gleichberechtigte Behandlung gegenüber der Konfession einzufordern, die bislang in einem gegebenen sozialen Kontext die Mehrheit vertrat.
Das Modell von Laizität, das sich in Beziehung und Abgrenzung zur katholischen Kirche in vielen europäischen Ländern entwickelte, hat sich in Gestalt eines Konkordats27 etabliert, das jedoch nicht länger für eine Situation geeignet ist, in der die religiösen Subjekte sich differenzieren und häufig Strukturen vorweisen, die sich grundsätzlich von jenen der katholischen Kirche unterscheiden. Das System der Verträge mit Religionsgemeinschaften – als Ausweitung des ursprünglichen Konkordats auf andere Konfessionen – ist ein Flicken, der das Loch der religiös zunehmend fragmentierten Gesellschaften nicht länger stopfen kann. Ein Beispiel dafür ist der lange Prozess der UAAR (Unione degli atei e degli agnostici razionalisti, Union der rationalistischen Atheisten und Agnostiker), die bereits 1996 einen eigenen Vertrag mit dem italienischen Staat beantragt und sich dabei auf das Prinzip der Nichtdiskriminierung, der Gleichheit der Bürger, berufen hat. Nachdem der Antrag abgelehnt wurde und auch der Verfassungsgerichtshof die Entscheidung als legitim bestätigte, hat die UAAR beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Berufung eingelegt.
Angesichts der Vielfalt an Weltsichten, die heute nebeneinanderstehen und miteinander konkurrieren, bleibt einer Gesellschaft, die an einer demokratischen Ordnung festhalten will, keine andere Wahl als eine rigorose Laizität. Nehmen wir das Beispiel des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen. Es ist mehr als einleuchtend, dass in einer Gesellschaft, die in religiöser Hinsicht relativ homogen ist, der konfessionelle Unterricht28 der mehrheitlich vertretenen Religion keine nennenswerten Spannungen hervorruft – obwohl Religionsunterricht natürlich mit der Rolle der öffentlichen Schule inkompatibel ist und schon aus Prinzip abgelehnt werden müsste.29 Mit zunehmender Komplexität der Gesellschaft und zunehmender Verbreitung von Minderheitenreligionen, die sich dadurch als handfeste Minderheiten etablieren, ist es nur folgerichtig, dass auch sie einen Platz in der öffentlichen Schule einfordern.
Es liegt auf der Hand, dass es keine ausreichend belastbaren Argumente gegen die Einführung von Religionsunterricht anderer Konfessionen an Schulen gibt, solange konfessioneller Unterricht in irgendeiner Form in der öffentlichen Schule vorgesehen ist. Vielmehr würde eine dahingehende Verweigerung einen deutlichen und untragbaren Verstoß gegen das Prinzip des Diskriminierungsverbots30 darstellen (was in der Alltagsrealität auch heute bereits so ist).
Eine Situation dieser Art kann innerhalb des aktuellen Paradigmas nicht aufgelöst werden. Will man nicht Parameter wie die Bedeutung und die Macht einer bestimmten Gemeinschaft anlegen, um zu entscheiden, welche Religion in einer öffentlichen Schule unterrichtet werden darf und welche nicht – was offensichtlich unter der Würde einer demokratischen und liberalen Gesellschaft wäre, auch wenn genau das de facto geschieht –, müsste man unweigerlich in Kauf nehmen, dass die unterschiedlichsten Religionen in den Schulen unterrichtet werden, weil das Recht jeder einzelnen Schülerin und jedes einzelnen Schülers, ob Katholik, Muslim, Hindu, Atheist, Pastafari31 oder sogar Satanist32, genauso viel gilt und gelten muss wie das aller anderen.
Kurz gesagt, entweder oder, entweder ist man ein konfessionsgebundenes Land, das jedes Recht hat, eine Staatsreligion33 an öffentlichen Schulen vorzuschreiben, oder man ist ein laizistisches Land, das aus dem gebotenen Respekt – nicht den Religionsgemeinschaften gegenüber, sondern vor jeder einzelnen Bürgerin und jedem einzelnen Bürger – die Religion, das heißt jede Religion, von der öffentlichen Schule fernhält. Tertium non datur.
Laizität als Selbstbestimmung
Betrachtet man Laizität in diesem Sinne, ist sie eine mentale Haltung, die jedwedes Autoritätsprinzip ablehnt, nicht bloß das des Religiösen. Laizistisch sein heißt, keine Form von Tradition ins Feld zu führen – ob religiös oder nicht ist für Laizisten vollkommen irrelevant –, um damit die Einschränkung, wenn nicht sogar die Verletzung der Autonomie und Freiheit irgendeines Menschen zu rechtfertigen. Für Laizisten steht jede einzelne Person im Mittelpunkt, jede eine individuelle Trägerin der Menschlichkeit, die »niemals bloß als Mittel« verwendet werden kann, sondern »jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst«,34 unter Wahrung ihrer vollen Autonomie.
Laizität ist demnach die Fortsetzung der Aufklärung, wie sie Immanuel Kant in seiner »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« vorausgesagt hat: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung.«35
Laizisten, ob gläubig oder nicht, erkennen das Autoritätsprinzip im Leben auf dieser Erde nicht an, sondern streben auf den Spuren Kants beständig danach, aus der Unmündigkeit auszutreten, in der sie sich wiederfinden, und auf eigenen Beinen zu stehen. Dieses große aufklärerische Streben hat viele Fortschritte gemacht, seit der Vater der kritischen Philosophie es formulierte, und stand auch 1944 noch im Mittelpunkt der großen Hoffnungen, die die Autoren des Manifests von Ventotene zum Ausdruck brachten, als sie darin schrieben: »Gegen den autoritären Dogmatismus hat sich der Wert des kritischen Verstandes als fortwährend erkannt. Jede Behauptung musste vernunftgemäß erscheinen oder aber verschwinden. Der Methodik dieser unbefangenen Geisteshaltung verdankt unsere Gesellschaft die wichtigsten Errungenschaften auf jedem Gebiet.«36 Die Ablehnung des Autoritätsprinzips, sei es religiöser oder anderer Natur, ist eine der Voraussetzungen für Gleichheit. Es ist vollkommen irrelevant, was die Grundlage oder die Rechtfertigung einer Meinung, einer Tradition oder eines Brauchs sein mag; was für Laizisten zählt, ist die Kompatibilität mit der Demokratie, mit der Freiheit jedes einzelnen Menschen, mit den Menschenrechten. Keine Meinung, nicht einmal eine religiöse Überzeugung, darf sich diesem kritischen Prüfstein entziehen.
In diesem Sinne hat der Staat eine enorme Verantwortung, und eine bloß indifferente Haltung gegenüber den verschiedenen Religionen ist nicht ausreichend. Der Philosoph Charles-Bernard Renouvier schrieb im 19. Jahrhundert: »Die Überlegenheit des Staates ist notwendig, seine Verantwortung, gemessen an der der Kirche oder einer Gemeinschaft, ist universaler Natur. […] Obwohl es ihm nicht zusteht, diese Doktrinen unter dem Gesichtspunkte der religiösen oder wissenschaftlichen Wahrheit zu beurteilen, beurteilt er sie unter dem Gesichtspunkt der Moral.«37 Und der Achtung der freiheitlichen Grundrechte, möchte man hinzufügen.
Dieser Entwurf von Laizität hat folglich einen recht hohen ethischen, normativen Gehalt. Er ist zwar auf das Wesentliche beschränkt, dafür jedoch entscheidend, und er zieht den Rahmen, innerhalb dessen die Subjekte der Zivilgesellschaft sich frei bewegen können – und die Religionen mit ihnen. Dass man dabei die Empfindlichkeiten des einen oder der anderen stört und dass die eine oder andere Praktik dieser oder jener Religion sich nicht in diesen Rahmen einfügen lässt, ist nachvollziehbar. Das ist jedoch kein ausreichender Grund, um von der Laizität abzulassen. Der Rahmen muss mit fester Hand gezogen werden; es ist Aufgabe der jeweiligen Subjekte, sich ihm anzupassen, nicht andersherum.
Der laizistische Staat nimmt also die Rolle des Garanten für die Autonomie der einzelnen Bürger ein. Achtung, nicht die des Schiedsrichters zwischen den Glaubensrichtungen, zwischen den »Gemeinschaften«! Das Subjekt der Rechte – das wird im fünften Kapitel näher zu beleuchten sein – ist jedes einzelne Individuum, das sich in der Ausübung seiner Rechte unmittelbar zum Staat in Beziehung setzt, ohne Mittelspersonen. Wie gesagt ist das nicht gleichbedeutend mit dem Ende der kollektiven Dimension der Religion. Es bedeutet einzig und allein, dass diese kollektive Dimension gänzlich in die private Ausübung des Glaubens seitens seiner Anhänger fällt und keine öffentliche Relevanz hat. Die Religion als solche fordert, anders gesagt, weder Anerkennung noch Rechte ein und genauso wenig die Strukturierung des öffentlichen Raums.
Dem laizistischen Staat kommt daher die Aufgabe zu, seine individuellen Bürgerinnen und Bürger mit dem kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Handwerkszeug auszustatten, um aus ihrer Unmündigkeit auszutreten. Das wiederum ist nur im Kontext strikter Laizität möglich, angefangen beim Schulsystem. Einzig dieser Rahmen ermöglicht es nämlich den Individuen, wenn sie es möchten, sich von ihrer Tradition zu emanzipieren, von ihrer Gemeinschaft, die kleinste Form eingeschlossen, die Familie.
Aus allen genannten Gründen, aufgrund all dieser substanziellen und normativen Gehalte des Konzepts ist die Laizität nicht einfach die Trennung von Kirche und Staat, sie ist genauso wenig die Sakralisierung des Staates. Aus der Geschichte sind Fälle bekannt, in denen eine strikte Trennung von Kirche und Staat herrschte, die man aber nicht im Geringsten als laizistisch bezeichnen kann, zumindest nicht nach dem Verständnis, das hier skizziert wird. Demnach ist Laizität nämlich ein anderes Wort für Gleichheit und insofern nicht mit einem autoritären Staat vereinbar. Laizität ist ein in höchstem Maße demokratisches Prinzip. Es handelt sich – um noch einmal Kant zu bemühen – um eine Möglichkeitsbedingung einer politischen Gemeinschaft, die auf den Prinzipien von Gleichheit und Freiheit gründet, also auf der Allgemeingültigkeit des Gesetzes.38
Dieses Merkmal unterscheidet sie von der bloßen Toleranz, die gerade nicht von einer vorherrschenden Gleichheit zwischen den Bürgern ausgeht, und es unterstreicht, dass die bisher gewagten Laizitätsentwürfe, einschließlich des französischen, nicht weit genug gehen, um die genannten Anforderungen zu erfüllen. Wie gezeigt hat sich die Laizität bisher eigentlich nur als bloße Trennung von politischer und religiöser Macht manifestiert, beherrscht vom Prinzip des »Dem Kaiser geben, was des Kaisers ist, und Gott geben, was Gottes ist«. Das Problem wurde als eine reine Frage der Macht betrachtet. Um das zu lösen, reichte eine Trennung der Einflussbereiche. In diesem Buch wird die Frage jedoch unter ethisch-politischen Gesichtspunkten aufgeworfen: Dem »Kaiser« genügt es nicht mehr, dass »Gott« in seinem eigenen Einflussbereich bleibt. Der »Kaiser« muss auch dafür sorgen, dass »Gott« nicht gegen die Grundgesetze des demokratischen Staates verstößt.
Unmetaphorisch gesprochen: Es genügt nicht mehr, dass Staat und Kirche getrennt sind, sondern es ist der Moment gekommen, da der laizistische Staat die Verantwortung übernimmt und genau hinterfragt, was im Inneren religiöser Gemeinschaften passiert, um die Rechte der einzelnen Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten.