promo_banner

Реклама

Читать книгу: «Teufelsgasse»

Шрифт:

Christoph Lindenmeyer

Teufelsgasse

Roman


Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

©2021 Verlag Anton Pustet

5020 Salzburg, Bergstraße 12

Sämtliche Rechte vorbehalten.

Umschlagfoto: ©Thomas Schauer/shutterstock.com

Autorenfoto S. 317: ©Jan Linnartz

Grafik, Satz und Produktion:Tanja Kühnel

Lektorat: Martina Schneider

eISBN 978-3-7025-8080-3

Auch als gedrucktes Buch erhältlich

ISBN 978-3-7025-0999-6

www.pustet.at

Meiner Tochter Mareike Malina gewidmet, die mir Mut machte, endlich mit dem Schreiben zu beginnen.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

1

Es ist gut, einen freien Blick zu haben.

Auf die Welt. Auf die Nachbarn. Auch auf die Straßenkreuzung, 60 Meter vom Beobachtungsplatz entfernt. Ein zu enger Horizont schränkt die Wahrnehmung ein. Das Interesse. Das Denken.

Der Mann steht auf seinem Balkon. Tiefe Nacht.

Was sieht er?

Die Zahl der geparkten Autos hat rasant zugenommen. Früher gab es immer Parkmöglichkeiten auf beiden Straßenseiten. Ankommen, Lichter ausschalten. Aussteigen. Abschließen. Schnell in das Haus. Jetzt muss man oft dreimal um den Block fahren, bis sich in der Nebenstraße ein freier Parkplatz findet.

Die Farbe Weiß hat sich bei der Lackierung durchgesetzt. Als der Mann sich ein weißes Auto kaufen wollte, hatte ihm der Autohändler davon abgeraten. Weiß verkauft sich nicht, wenn Sie einmal den Wagen in Zahlung geben wollen. In Indien, das hatte der Mann vor Jahren festgestellt, waren alle Regierungsfahrzeuge weiß lackiert. Und davon gab es viele. Die Sonnenstrahlung ist auf dem Subkontinent stärker als bei ihm zu Hause. Das hatte er schnell verstanden. Jetzt aber entscheiden sich Käufer nicht mehr für schwarze Limousinen und SUVs, sondern für die besser reflektierende Farbe, obwohl Klimaanlagen in den meisten Fahrzeugen zur Serienausstattung zählen.

Die Dunkelheit der Nacht wird alle drei Fahrzeuge von hellen Flächen unterbrochen. Jedes vierte Auto ist weiß. Der Mann sieht genau hin. Seine Zählung ist richtig. Er sieht, dass die meisten Autofahrer jetzt, um diese Zeit, beim Abbiegen nicht blinken. Nachts sparen sie sich diese Mühe. Einige Autos auf den Parkstreifen halten einen zu großen Abstand. Der Mann ärgert sich darüber. Oft ist deshalb ein Stellplatz verschenkt, nur weil jemand nicht einparken konnte.

Was hört er?

Es ist still. Fast still. Von Freilassing drüben dringen immer wieder Rollgeräusche der Güterzüge zu ihm herauf, hörbar durch den Filter der Entfernung nur für den, der darauf achtet. Wie Morsesignale die Pressluft-Signalhörner der Rangierloks. Die Heizung des Seniorenheims gegenüber springt an. Der Kamin brummt dann wie ein weit entfernter Schiffsmotor. Dezent. Gleichmäßig. Ein leises Atmen. Aber das Geräusch ist immer da. Für ihn. Er horcht auf, wenn das Grundrauschen verstummt. Dann hat ein Thermostat die Atmung unterbrochen. Die Nacht transportiert in akustischen Scherben das Quietschen eines Güterzuges herüber, der in der Ferne eine Kurve nimmt. In einem der Außenviertel Salzburgs.

Jetzt läuten keine Kirchenglocken. Gegenüber im Seniorenheim sind nur wenige Fenster erleuchtet. Lange Zeit schallten Hilferufe einer demenzkranken alten Patientin aus einem der Fenster, die sich wie ein verlassenes Kind in ihrem Zimmer von allem Menschlichen vergessen fühlte. Irgendwann hatten die Schreie aufgehört. In der Morgendämmerung war der Kleintransporter eines Bestattungsunternehmers vorgefahren. Wenige Tage später waren neue Schreie zu hören.

Seit einigen Monaten werden fast täglich Verstorbene abgeholt. Mit der Bahre verlassen die dezent gekleideten grauen Männer inzwischen das Haus durch den Haupteingang. Früher fuhren die Bestatter noch am Hintereingang vor. Jetzt verstecken sie sich nicht mehr, sie kommen am helllichten Tag, die kommunalen Bestatter und die Angestellten der privaten Trauerhäuser. In solchen Augenblicken verlässt der Mann seinen Balkon. Sie sollen in Frieden ruhen und bedürfen nicht der Gaffer – die unbekannten Toten aus der Nachbarschaft, denkt der Mann. Öfter als in den letzten Jahren schleichen sich mit Blaulicht, aber ohne Martinshorn die Rettungswagen und der Notarzt durch die Straße zum Seniorenheim heran. Nein, sie fahren weiter. Ganz hinten in der Straße stehen zwei Wohnblöcke, die Stadt hat zahlreiche Wohnungen angemietet.

Was fühlt er?

Er tritt vom Geländer zurück. Er will nicht gesehen werden, obwohl es zu dieser nächtlichen Stunde kaum jemanden gibt, der ihn auf dem Balkon entdecken könnte.

Er ist zufrieden. Eine Kiste mit Frühlingsblumen für seinen Kleingarten steht im Flur. Im Kofferraum seines Autos warten zwei kiloschwere Säcke mit Gartenerde, ein Sack Pflanzendünger und zwei neue Gießkannen mit größerem Fassungsvermögen als seine bisherigen, dazu noch einige Spraydosen zur Schädlingsbekämpfung. Seine Gartengeräte hat er vor dem Winter im Gartenhaus sorgfältig eingepackt und in ein schmales Regal, gerade groß genug für den Raum, gelegt. Dort warten sie auf ihn, geschützt vor Rost. Eines neben dem anderen. Penibel parallel gelagert. Auch zwei Tüten mit Tonkügelchen und 10 Kilogramm Quarzsand hat der Mann gekauft, um die Blumentöpfe und das Beet mit den Sukkulenten in seinem Garten feucht zu halten. Seine Pflanzen mögen das. Blaue Hortensien wie sie entlang der Steinmauern in der Bretagne wachsen, Farne, winterfeste Kakteen und Clematis montana, die sich in jedem Jahr am Zaun entlangrankten. In den letzten beiden Jahren hatten sie nur dürftig geblüht, vor Kurzem aber hat er so viele Knospen wie nie zuvor an der Pflanze entdeckt.

Primeln kann jeder pflanzen, Narzissen, Tulpen, Stiefmütterchen und Fette Henne. Sein Garten soll von solchem Kleinwuchs, solchem Kleingeist, wie er in den Nachbar-Parzellen herrscht, verschont bleiben. Seine Holzhütte verzieren nicht wie nebenan Hirschgeweihe und das Gehörn von Gamsböcken. Gartenzwerge verabscheut er. Er hasst leidenschaftlich die Bambis aus Gips und die weißen Kopien der Davidstatue von Michelangelo.

In einer Ecke seiner Hütte lagert er einige Rollen Dachpappe. Nach jedem Winter rollt sich der Dachbelag auf, die Nägel sind verrostet. Ganze Stücke sind schon mit dem Eis herausgebrochen. In jedem Jahr muss er auf die Leiter steigen, das Dach neu mit der Pappe abdecken. Er hat Stahlnägel gekauft. Aber nach dem nächsten Winter wird er das Dach sicher wieder abdichten müssen. Es wäre nicht gut, wenn Feuchtigkeit in die Holzhütte eindringen könnte.

Seine Parzelle hat er nach den Gesetzen einer harmonischen Choreographie des Raums geplant und angelegt. Kein Kies, keine Betonsteine als Eingrenzung der Beete, kein Fahnenmast mit der österreichischen Flagge oder der des Landes Salzburg, nichts Rustikales.

Die schmalen Wege zwischen den Parzellen der Kleingärtner sind nach dem Watzmann benannt, nach Alpenrosen, nach dem Untersberg, dem Kapuzinerberg, dem Dachsteinmassiv, oder sie heißen Edelweißgasse, Alpenveilchenweg oder Maiglöckchenpfad.

Seine Parzelle aber liegt an der Teufelsgasse. Ihm gefällt der Name des Weges. Im Kaisergebirge gibt es gleich unterhalb des Prostkogels und der Prostalm auf knapp 1200 Metern Seehöhe, eine schmale Schlucht, passierbar nur im Sommer für Wanderer. Im Mai liegen in dieser Schlucht noch Schneereste auf feuchtem Laub. Er hat diese Teufelsgasse mehrfach durchquert, weil er die Almen des Kaisergebirges liebt. Er mag den leicht modrigen Geruch der faulenden Blätter dort. Er weiß, wo und wann die Gebirgsenziane blühen, die Schusternägel und die Orchideen. Einmal konnte er einen balzenden Auerhahn beobachten, aber als er vom pensionierten Dorfschullehrer gefragt wurde, ob er Auerhähne gesehen habe, schickte er ihn in ein anderes Wald- und Almgebiet, weil er nicht wollte, dass der kurzsichtige Schulmeister den Vogel abschoss. Teufelsgasse ist ein guter Name.

Er ist noch nie abergläubisch gewesen, dazu fehlt ihm jede Begabung, und er kennt auch nicht die geringste Anmutung metaphysischer oder religiöser Gefühle. Er hat sein Leben bisher sorgfältig durchmessen, es geplant, analysiert, darüber nachgedacht, seine Möglichkeiten, Begrenzungen und Verlockungen ausgelotet und im Übrigen seinem Verstand vertraut, der jeden Anflug von Angst oder übersinnlichen Perspektiven verbietet. Das hat sich bis heute nicht geändert.

Es ist spät. Bald beginnt die Morgendämmerung. Diesen Zwischenzustand liebt er mittlerweile. Da ist er allein mit sich, ungestört. Doch nicht, weil er sich dies so gewünscht hätte, sondern weil sich sein Alleinsein ereignet hat. Es war ihm zugestoßen. Es war über ihn gekommen wie eine Heimsuchung bei Nacht. Auch war er auf das Alleinsein nicht richtig vorbereitet gewesen. Es war damals eine Katastrophe. Jetzt hat er sich daran gewöhnt.

Gewiss doch: Es war absehbar, dass es auf ihn zukäme, einige Jahre schon, aber in dieser Zeit bedurfte es seines ganz starken Lebenswillens, um die Vorstufe des Alleinseins zu ertragen und anzunehmen. Dann war es so weit. Er musste sich daran gewöhnen, allein zu sein. Er erlaubte es sich nicht, am neuen, am radikal neuen Alleinsein zu zerbrechen. Der Mensch hat zwei Ebenen. Auf der einen bewegt er sich im Alltag, auf der anderen in seiner psychischen Dimension. Es gibt ein Über-Ich und ein Unter-Ich. Es ist ihm bisher gelungen, die Tür zwischen beiden Ebenen geschlossen zu halten. Eine logische Konsequenz seines starken Willens. Aber täglich öffnet er die Tür einen Spaltbreit. Und er schließt sie wieder. Ganz schnell. Was hinter der Tür verborgen ist, bleibt immer existent. Das Märchen von der Sehnsucht, das Geheimnis hinter verschlossenen Türen zu erforschen, gilt für ihn nicht. Nein, einsam fühlt er sich nicht. Er hat ja seinen Garten. Er liebt seinen Garten.

Er schaut noch einmal zur Straßenkreuzung. Ein Marder huscht vorbei. Ein langgezogener Schatten. Kein Geräusch. Kein Knistern. Kein Kratzen. Kaum gesichtet verschwindet er unter einem Auto. Ein Vogel zwitschert. Viel zu früh in dieser Nacht. Vielleicht hatte er einen Albtraum, aber der Mann weiß nicht, ob Vögel Albträume haben. Entweder ist der einzelne Vogel im Geäst durch ein anderes Tier gestört worden oder er kann den bald anbrechenden Morgen nicht abwarten. Bald suchen sie sich geeignete Nistplätze. Oft auch werden sie von Autos überfahren oder von den im bürgerlichen Viertel herumstreunenden Katzen gefangen. Das ist nicht in Ordnung, denkt der Mann, dass sich in unserem Viertel die Nachbarn erlauben, ihre Katzen frei herumlaufen zu lassen. Diese Raubtiere, diese fetten Haustiere mit ihrem Katzenhalsband, die nur scharf darauf sind, alles zu töten, was sich bewegt, alles, was lebt. Sie maunzen, wenn sie nachts einem Heimkehrer begegnen. Sie schmiegen sich an. Dabei sind sie, ihrer Veranlagung entsprechend, falsch und gefährlich. Für Katzenliebe hat der Mann nicht viel übrig. Aber er ist da nicht radikal. Der eine liebt seinen Dackel, der andere seine Katze. Sollen sie. Aber sie sollen ihre Lieblinge nicht allein herumstreunen lassen.

Der Mann schließt die Balkontür, behutsam und leise. Gegenüber im Seniorenheim fällt ein Rollladen wie ein Fallbeil. Dieses Geräusch ist brutal. Aber als ebenso brutal empfindet der Mann es, wenn morgens die Rollläden hochgezogen werden bis zum Anschlag. Da hört er den Knall. Wer sein Fenster so öffnet, dem fehlt jede Sensibilität, denkt er. Aber wahrscheinlich hören diese Leute den Knall nicht mehr, den sie zweimal am Tag erzeugen.

Er geht in sein Wohnzimmer. Schlafen kann er später. Er hat Zeit. Jetzt will er noch auf dem Garderobenschränkchen seine Stifte ordentlich in das Glas stecken: Grau neben Lila, dann Blau, Grün, Braun, Rot, Pink und Schwarz. Pink. Er ist sich nicht sicher, ob er die Nachbarschaft der Regenbogenfarben richtig zusammenstellt, aber so, wie er es macht, ergibt es einen Sinn für ihn.

In der Küche stellt er einen Teller für das Frühstück, eine Untertasse und eine Tasse für den Morgentee auf den Tisch. Dazu das Bambusbrett, das Brotmesser. Das Besteck natürlich. Butter und Zitrone wird er erst am Morgen aus dem Kühlschrank holen. Was nicht in der Geschirrspülmaschine Platz gefunden hat, hat er abgewaschen, abgetrocknet und weggeräumt. Wäre er morgen nicht mehr am Leben, dann könnte sich niemand über seinen Lebensstil beklagen. Er ist kein Messie. Verwahrlosung im Alter ist für ihn keine akzeptable Option. Ordnung ist das halbe Leben. Nein, denkt der Mann, sie ist das ganze Leben.

Als er aus dem Bad zurückkommt, um sein Bett aufzudecken, stellt er seine Hausschuhe am Fußende ab, einen neben dem anderen. Auch das Paar Schuhe vor dem Bett unterliegt den Gesetzmäßigkeiten jener Choreographie des Raums. Es geht doch nicht, dass der linke Schuh seine Spitze vorne hat und der andere hinten. Er schlägt die türkische Bettabdeckung zurück. Diese mit vielen eingenähten Spiegelscherben geschmückte indische Tagesdecke hatten sie einst nahe dem Suk in Istanbul gekauft, weil die Patchwork-Technik der einzelnen Textilquadrate und die tiefrot, orangegefärbte Ästhetik sie damals so angesprochen hatten. »Das ist lange her«, murmelt der Mann.

Wovor fürchtet er sich?

Seit er dem Alleinsein ausgesetzt ist, mag er es nicht, sich abends oder nachts in seinem Bett abzuliefern, in dieser Abwesenheit jeder anderen Lebensenergie. Sich der Dunkelheit, der Stille des Zimmers, dem Schweigen der Umwelt, der Nachbarn über ihm in der Dachterrassenwohnung und der erzwungenen Blindheit im unsichtbaren Raum seines Zimmers auszuliefern, das noch nicht Schlafzimmer ist, wenn das Licht erlischt. Nachts wird es zum Verließ.

Tagsüber ist es ein freundlicher Raum. Ein großes Fenster zum Innenhof mit Kiefern, Tannen, Büschen, Terrassen, einer Sitzbank für die Eltern neben einem Sandkasten, der nach der Havarie des Kernkraftwerks in Tschernobyl mit neuem Sand aufgefüllt wurde. Eine Abdeckung schützt vor Verunreinigung, aber oft ziehen die Eltern abends die Plane nicht über den Sandkasten.

Ein Weihnachtskaktus steht auf dem Fensterbrett, schläft, sieht wie tot aus, wächst dann aber plötzlich weiter, schläft, und blüht zu unerwarteten Zeiten. Er hatte nicht gehofft, diese Pflanze über die schweren Jahre hinweg zu erhalten, aber der Kaktus blieb. Treu. Langsam in seiner Reaktion auf die Pflege. Der Mann spricht manchmal mit seinen Pflanzen. Das kann ja nicht schaden. Und niemand weiß, ob die Pflanzen diese Zuwendung verstehen. Immer wieder überraschend antwortet der Weihnachtskaktus, wenn der Mann mit keiner Antwort mehr rechnet. Plötzlich eine Knospe, dann eine, zwei, viele weiße Blüten. Ein Wunder. Nicht nur in der Weihnachtszeit.

Der Mann kümmert sich um diesen Weihnachtskaktus, den er sich selbst nie gekauft hätte. Das war damals unvermeidlich, als sie darauf bestand, zur Sammlung ihrer Kakteen auch diesen zu erwerben. Er fand das in Ordnung. Auch kannte er damals noch nicht Cees Nootebooms Annäherungen an Kakteen und die Entdeckung ihrer unterschiedlichen Charaktere, ihre Personalität und ihren Zauber in seinem Garten hinter der Finca auf Menorca. Nur zufällig hat er in einer Buchhandlung den Band des großen Reiseschriftstellers mitgenommen. Kakteen sind widerborstig, störrisch, verweigernd, und sie sind voller Zuneigung, blühen, überraschen durch ihre Triebe und ihr unerwartetes Wachstum, machen eigentlich, was sie wollen. Sie sind wehrhaft und strecken sich dem Himmel entgegen, den der Schriftsteller nicht in seiner ganzen Spannbreite überblicken kann. Denn es gibt Nachbarhäuser, die den Blick versperren. Nooteboom saß, wie er schreibt, in seinem Garten und blickte zum nächtlichen Himmel auf. Da kam ihm die Idee, entsprechend dem Boden- und Pachtrecht ein Stück freien Himmels für sich zu verlangen. Grund und Boden senkrecht über ihm. Ein Stück garantierter freier Sicht auf den Himmel, entsprechend dem Grundriss seines eigenen Besitztums. Die Idee gefällt dem Mann. Ein Himmelsrecht neben dem Bodenrecht.

Anders als früher, als der Mann den Schlaf herbeisehnte, weicht er ihm jetzt aus, so lange, wie es ihm irgend möglich ist. Trinkt er zu viel, will er nicht torkeln, obwohl es keine Beobachter gibt. Er will die Selbstkontrolle behalten. Manchmal nickt er vor dem Fernseher ein, nicht lang, aber für ihn erschreckend in der Tiefe seiner Bewusstlosigkeit. Dann schüttelt sich der Mann, und er reißt sich zusammen, um sich nicht aufzugeben. Der Weihnachtskaktus zeigt eine neue Blüte, der Frühling kommt bald. Das wird ein Kaktus wohl spüren. Aber er hat sich gewaltig verspätet.

Für morgen ist alles vorbereitet.

Morgen ist ein neuer Tag. Die Nacht ist kurz. Jetzt wird der Mann wohl schlafen können. Er hat alles in Ordnung gebracht.

2

Es ist seltsam, wie selektiv die Wahrnehmungen der Menschen sind. Es gibt Leute, die noch nie auf das Getschilpe der Mauersegler geachtet haben, auf ihre rasanten Flugmanöver hoch über der Stadt. Auf ihre in die Wolken gezeichneten Schleifen, ihre Sturzflüge und ihr Sirren voller Lebensfreude. Ihn berührte es, wenn er in den ersten Maitagen noch vereinzelte Mauersegler entdeckte, die aus dem Süden über die Alpen gekommen waren. Jetzt war der Mai wirklich da, und Wolffs Seele spürte Freiheit und grenzenloses Glück. Bald würde sich der Himmel füllen mit den Vögeln, die während des Fluges schlafen können. Aber viele seiner Bekannten hatten sie noch nie wahrgenommen, bevor sie Wolff auf das Getümmel über den Dächern aufmerksam machte. Vielleicht können ältere Menschen die Frequenz der Glücksrufe auch nicht mehr hören.

Es war der 12. Mai, sein Handy zeigte die Uhrzeit an: 8.30 Uhr. München leuchtete an diesem Tag. So blau war der Himmel der nördlichsten Stadt Italiens nur an Föhntagen. Vor dem einstigen Krankenhaus an der Ecke zur Blutenburgstraße blühte der Baum: die linke Hälfte weiß, die rechte Hälfte rosa. Da waren wohl irgendwann Zweige aufgepfropft worden. Ein Baum, zwei Existenzformen. Jedes Jahr wartete Wolff auf dieses kleine Wunder.

Er hatte es nicht eilig, in seine Redaktion zu kommen. Sein Tagesprogramm stand fest: Besprechung mit den Programmassistentinnen, Redaktionskonferenz, Programmplanung mit den Kolleginnen und Kollegen in seiner Redaktion, Honorare für die gestrige Sendung festsetzen und veranlassen, Briefe unterschreiben, die er gestern verfasst und in das Redaktionssekretariat gelegt hatte, damit Kopien für die Ablage gemacht und in den Korrespondenzordnern intern oder extern abgelegt werden konnten. Drüben auf dem Gelände des Augustinerkellers warfen die Kastanienbäume erste Schatten auf Bänke und Tische. Wie so viele aus seinem Sender zur Mittagszeit würde auch er bald in diesem Biergarten sitzen. Für den Nachmittag hatte er, nach der täglichen kurzen Pause in der Kantine, einige Autorengespräche eingeplant. Und wenn sich die Dämmerung von Osten her heranschliche, wollte er sich an sein Manuskript für eine Moderation und einen Kommentar setzen. In dieser blauen Stunde, wenn das Licht heruntergedimmt und ganz weich wurde, während sich das Abendrot in den Westen zurückzog und dem Dunkelblau mit seinen dunstigen Grauschattierungen Platz machte, wenn sich die ersten Leuchtpunkte in der Silhouette der Stadt entzündeten, war Wolff besonders kreativ. Im Hochhaus wurde es stiller, die Telefonanrufe hörten auf. Er hätte aber auch nicht abgehoben, denn Wichtiges erreichte ihn ohnehin über eine im Haus verdeckte und nur seinen Vorgesetzten bekannte Nebenstellennummer. So also hatte Wolff seinen Tag geplant.

Stadteinwärts vor dem Hauptbahnhof leuchteten die Fenster in den 18 Stockwerken des Hochhauses, in dem viele Redaktionen, die Verwaltung, das Historische Archiv und andere Organisationseinheiten untergebracht waren. Wolff dachte an Nicolas Borns Roman »Die Fälschung«. Der Sendemast auf dem Hochhaus war kein Sendemast, sondern eine Empfangsantenne. Der symbolische Akt, ein Funkhaus mit einem Antennenmast auszustatten, schien ihm aber zum Charakter seiner öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt zu passen. Vor Jahren hatte er seine Kolleginnen und Kollegen des österreichischen Programms »Ö3« besucht. Die Redaktionen waren kreisförmig um die Sendestudios herum angelegt. Alles war transparent. »Sitzungen« fanden im Stehen statt, eindeutig orientiert am Vorbild der französischen Tageszeitung Le Monde. Auch musste am Mikrofon stehen, wer die Sendung moderierte. Die Redaktionen und Sendestudios waren in einem gesichtslosen Industriebau untergebracht, einem Kubus ohne jeden architektonischen Einfall, einem industriellen Zweckbau. Es hätte sich dort genauso gut ein Warenlager befinden können. Funkhäuser aber bedurften laut Wolffs Meinung in ihrer Architektur repräsentativer Signale. Da macht es ja nichts, dachte Wolff, wenn diese Signale eine Attrappe sind. Auf dem Dach eines Fernsehgebäudes in Berlin, gleich gegenüber dem alten Funkturm auf dem Messegelände, thronte ein Baukörper, der dem Tower eines Flughafens glich. Funkhäuser sollten sich nicht verstecken.

In den Sendestudios galt das Prinzip des Funktionalen: man konnte stehen oder sitzen, die Ablage für die Manuskripte konnte herunter- und hinaufgekurbelt werden. Mobilität war angesagt. Dynamik. Tempo. Die Bearbeitungszeit zwischen Input und Output der Informationen wurde immer kürzer. Niemand konnte sich dieser Entwicklung widersetzen, und die Sprache in Berichterstattung und Moderation wurde flüchtiger, fehlerhafter, gewöhnlicher, hin und wieder sogar infantil. Als würden sich Kinder beschweren: »Der Bundespräsident, der hat dies und das gesagt. Die Bundeskanzlerin, die hat … Mein Kollege war in Paris. Der hat dort …« Es wurde wenig Mühe darauf verwendet, originell und sorgfältig zu formulieren. Dieses Manko, dachte Wolff, wurde durch eine betriebsame Heiterkeit am Mikrofon überspielt, vom frühen Morgen bis in den späten Abend hinein. Das System macht high, dachte er. Vor allem die Moderatorinnen und Moderatoren der Morgenmagazine wirkten, als hätten sie sich gedopt. Er mochte das nicht. In den Verkehrsmeldungen wurde nicht mehr vor Pannenfahrzeugen auf einer Fahrspur der Autobahn gewarnt, sondern vor kaputten LKW.

Wolff hatte sich früher oft über die monatlichen Analysen eines vom Intendanten beauftragten Sprachpflegers in seinem Sender geärgert, der grammatikalisch stets korrekt Fehler katalogisierte und kommentierte, dabei aber nie Rücksicht auf die Umstände nahm, unter denen solche Livesendungen entstanden und ausgestrahlt wurden. Jetzt war Wolff selbst zum Beobachter der sprachlichen Trivialisierung geworden. Das war ihm unangenehm. Er verstand sich ja nicht als ewig Gestriger. Wenn er Kollegen traf, die längst im Ruhestand waren, hörte er sich ihre Klagen über die Verwahrlosung der Sprache am Mikrofon an und musste dabei lächeln.

Er nahm sich vor, heiter in den Arbeitstag zu gehen. Seinen morgendlichen Cappuccino hatte er wie so oft in einer seiner beiden Cappuccino-Oasen genossen. In München-Gern gab es einen Kaffee-, Wein- und Süßwarenladen, der sich finanziell nicht rechnete; sein Besitzer, von den Stammgästen liebevoll »der Philosoph« genannt, hatte mehr Interesse daran, in seiner Ruhestandszeit einen Ort für Kommunikation und Nachbarschaft anzubieten, als Profit zu erwirtschaften. Sein Laden glich einer Schatzkammer: übereinandergestapelte Kartons mit Waren, tiefhängende Tiffany-Leuchten, ein Regal, gefüllt mit Behältern für die unterschiedlichen Kaffeebohnen-Sorten, ein schmaler Tresen, meist vollgestellt mit Gläsern, Flaschen und Tassen. Man traf sich in einem Zeltvorbau, der bis nachts für Freunde geöffnet war, weil er auf privatem Grund lag. Und der Philosoph hatte Freunde, die ihm seit Jahren, manche seit Jahrzehnten, treu geblieben waren: einen Antiquitätenhändler, einen Versicherungsmakler, einen Klavierbauer, eine Bankerin, eine Journalistin, den Inhaber eines großen Sportartikelgeschäfts, einen ehemaligen leitenden Beamten des Personenschutzes für hohe Politiker, Anwälte, Ärzte und Menschen aus der Nachbarschaft. Auf der Terrasse kamen sie zusammen, über ihnen hingen Weinranken, die der Philosoph sorgfältig gepflanzt, beschnitten und gepflegt hatte. Nur die Buchsbäume waren von dem sich in den letzten Jahren massenhaft verbreitenden Zünsler vernichtet worden. Wolff saß, wann immer er Zeit hatte, beim Philosophen. Oft schwiegen beide, wenn sie allein waren. Ohne seinen breitkrempigen Hut hatte Wolff den Philosophen noch nie gesehen.

Die andere Cappuccino- und Wein-Oase lag am Kurfürstenplatz in Schwabing. Ein Laden, der nur exquisite Waren verkaufte, Nudeln aus Italien, Gewürze, Öl, Essig,

Cantuccini und anderes Gebäck, Schinken und Käse aus Parma und den Marken, und natürlich Weine, deren Hersteller der Ladeninhaber mehrmals im Jahr besuchte. Er kannte die Familien der Winzer und deren Geschichten, ihren Alltag wie ihre Rituale, ihre Rezepte und ihre Weinkeller. Es gab in den Regalen erlesene Rosé-Weine und Spumante Brut.

Wolff hatte sich im Lauf der letzten Jahre mit dem Ladeninhaber angefreundet. Man siezte sich und kam sich doch näher durch den Austausch von Buchempfehlungen, schließlich auch durch die gegenseitige Leihgabe von Kriminalromanen. Wolff besaß eine umfangreiche Bibliothek an Krimis. Anders als den Geschäftsmann interessierte ihn weniger die Action- und Thriller-Technik von Romanen als das Milieu, in dem das alltägliche Böse stattfand: in der Normandie, in der Provence, in Triest, in Venedig, in Spanien und in Schweden. Nur die Fülle an Regionalkrimis, fast ständig in den Bestseller-Listen, faszinierte ihn recht wenig: Käsespätzle-Narrative zum Beispiel befremdeten ihn. Sie waren ihm zu spießig. Wolff fuhr oft nach Schwabing, wo er eigentlich nichts zu suchen hatte, aber er schaute gern im Weinladen vorbei, kaufte hin und wieder mehrere Flaschen aus ökologischem Anbau in den Abruzzen, und wenn er zahlte, tippte sein Krimipartner den Endbetrag für Cappuccino und Wein automatisch ein. Wolff brachte die grünen Tragetaschen aus Papier regelmäßig zurück. »Sie müssen ja sparen«, sagte er, und »ich will die Tüten nicht wegwerfen«. Auch so kann Sympathie entstehen.

In der Weihnachtszeit wurde der Olivenbaum im Laden mit goldenen Kugeln geschmückt, später gab es auch Leuchtsterne an der Decke des Ladens, in dem der Inhaber tagsüber auch kleine Gerichte anbot. In den Regalen standen Flaschen mit signifikant gestaffelten Preisen; in den Holzkisten lagerten Weine, die sich Wolff nicht leisten konnte und auch nicht wollte.

Als Wolff, der sich nur Al nannte, weil ihn sein Vorname Alfred an den Nazi-Propagandisten Alfred Rosenberg erinnerte, weiter Richtung Funkhaus schlenderte, erschrak er. Diesem Maimorgen fehlte etwas. Wie hatte er das bisher gar nicht bemerken können? Diesem Maimorgen fehlte etwas ganz Entscheidendes. Am Himmel fehlten die Mauersegler. Wolff blieb abrupt stehen und suchte den Himmel über ihm sorgfältig ab. Nein, kein einziger Mauersegler war zu sehen, nirgends Getschilpe, kein Vogel schwirrte über den Dächern Münchens. Wie ein Schmerz durchzuckte ihn diese Leere am Himmel.

Wolff ging seit mehr als dreißig Jahren gerne in das Funkhaus. Früher war er mit seinem Auto gekommen, schließlich hatte er in der Tiefgarage einen reservierten Platz. Eines Morgens, er war nicht mehr weit entfernt vom Senderareal Richtung Tiefgarage, war die Straße stadteinwärts gesperrt. Feuerwehr, Polizei. Blaulichter. Auf dem Pflaster lag, unter Planen verborgen, ein Mensch. Er musste aus dem Fenster im siebten Stock des Studiobaus gesprungen sein. Grundsätzlich waren die Fenster im Studiobau nicht zu öffnen, aber eines stand offen. Tage später erfuhr Wolff, dass ein beliebter, immer gut gelaunter Archivar kurze Zeit nach seiner Ruhestandsversetzung in das Haus zurückgekehrt war, sich zu den WCs begeben, mit einem Nachschlüssel das Fenster geöffnet und sich von der Fensterbank einfach nach draußen hatte fallen lassen. Wolff hatte des Öfteren mit ihm zu tun gehabt und seinen pragmatischen Humor sehr geschätzt. Seit diesem Tag mied er diese Straße.

Guten Morgen. Guten Morgen. Wolff nickte den Kolleginnen am Empfang zu. Sie grüßten ihn freundlich zurück. Mit dem Aufzug fuhr er aufwärts in den 13. Stock des Hochhauses. Der Filterkaffee war schon aufgebrüht. Nichts sollte jetzt sein Morgenritual stören: die Sichtung der Post, die schnelle Lektüre der Leitartikel und Titelseiten von sechs Tageszeitungen, das Öffnen der eingegangenen Mails, der Bericht seiner beiden Programmassistentinnen über Terminverschiebungen und die Liste von internen wie externen Anrufen. Er hatte nicht mehr viel Zeit bis zum Beginn der Redaktionskonferenz um 10.30 Uhr.

Meist nahmen zwanzig bis dreißig Kolleginnen und Kollegen an der Konferenz teil, bei dünner Nachrichtenlage oder in Urlaubszeiten auch weniger. Vertreten waren alle Hörfunkprogramme und die meisten Redaktionen des Hörfunks. Man saß um einen überdimensionierten runden Tisch, der seit Jahrzehnten hier stand, so wie seit Jahrzehnten Originallithographien von Oskar Kokoschka an den Wänden des Sitzungszimmers hingen. Damals mussten die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten noch Kunstwerke erwerben. Diese gesetzliche Auflage entsprach dem gesellschaftlichen und kulturellen Auftrag für Anstalten des öffentlichen Rechts. Wolff würde in einer Viertelstunde wieder auf der gepolsterten Fensterbank sitzen, leicht erhöht, so hatte er einen besseren Überblick über die Runde. Er mochte es nicht, wenn jemand hinter ihm saß. Er spürte dann die Blicke in seinem Nacken und sie irritierten ihn.

1 522 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
342 стр. 4 иллюстрации
ISBN:
9783702580803
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают

18+
Эксклюзив
Черновик
4,9
36
Эксклюзив
Черновик
4,7
239