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Christine Zilinski

Mord im Museum

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Erklärung

Impressum neobooks

Kapitel 1

Mord im Museum stand in dicken Lettern auf dem Banner über dem Eingangsbereich des Landesmuseums Stuttgart. Die rötlich-braunen Backsteine des Gebäudes wurden vom schwindenden Licht der untergehenden Sonne beleuchtet. Es war ein lauer Frühlingsabend Ende Mai. Durch das offene Eingangstor des Museums waren brennende Kerzen auf dem gepflasterten Innenhof des Gemäuers zu erkennen. Charlotte Bienert blies hörbar Luft aus und marschierte durch das Tor den Weg hoch zum Museumseingang. Die normalen Besuchszeiten waren seit zwei Stunden vorbei. Jetzt warteten nur noch die Besucher der Veranstaltung im Vorhof des Museums. Sie sprachen Bier oder Sekt zu, rauchten und unterhielten sich. ‚Oh Mann, ich hab’ echt gar keine Lust‘, dachte sich Charlotte, während sie eine Rauchschwade wegwedelte. Sie war nicht zum Privatvergnügen hier. Ihr Chefredakteur hatte sie hierhergeschickt. Der war nämlich für die wöchentliche Zeitung Weinstadt Woche verantwortlich und hatte Charlotte nach ihrem Volontariat beim Blatt die Kunst&Kultur-Rubrik zugewiesen. Außerdem „durfte“ sie von Zeit zu Zeit für den Sport-Teil Berichte lokaler Fußball-Turniere, Rollschuh-Derbies oder Handball-Spiele schreiben. Charlotte hätte viel lieber für die Rubrik Aktuelles geschrieben, da sie sich selbst nur wenig für diese Mannschaftssportarten interessierte. Aber da half kein Betteln oder Flehen, auf dem Ohr war ihr Chefredakteur Andreas Richling taub. Nun hatte sich Charlotte für ihren letzten Kunst&Kultur-Artikel in dieser Woche eine Karte für die Veranstaltung Mord im Museum gekauft. Eigentlich hätte Gabriele sie noch begleiten wollen, Charlottes Kollegin aus der Lokalredaktion. Gabi lag aber seit gestern mit einer Erkältung flach und hatte sich vor wenigen Stunden bei Charlotte abgemeldet. Charlottes Kollegin war öfter krank und sie hatte das Gefühl, dass Gabriele dies auch regelrecht zelebrierte. So erging sie sich gerne in Einzelheiten zu ihrer Erkrankung – wie in ihrer SMS: „Nase komplett zu, Schleim durchsichtig. Durchfall von Gelomyrtol-Tabletten. Kann leider nicht kommen.“ Mit zusammengezogenen Augenbrauen hatte Charlotte eine knappe „Gute Besserung“ zurückgetippt.

Also war Charlotte an diesem Abend alleine zum Museum aufgebrochen und lief nun über den gepflasterten Vorhof auf eine gläserne Eingangstür zu, neben der eine Reklametafel zu Mord im Museum aufgestellt war. Ebenfalls vor der Tür war ein Tresen aufgebaut, an dem zwei Museumsmitarbeiterinnen standen und die Neuankömmlinge begrüßten. Charlotte war sich nicht sicher gewesen, welche Kleidung zu diesem Event am passendsten wäre, und hatte sich für eine Zwischenlösung aus bequemer Jeans und Blazer entschieden. Ihre schulterlangen, brünetten Haare trug sie an diesem Abend offen. Charlotte zeigte ihre Eintrittskarte vor und erhielt von einer der Frauen einen roten Klebepunkt, den Charlotte gut sichtbar an ihre Kleidung heften sollte. Anschließend drückte sie die Eingangstüre auf und ging in einen großen, hallenartigen Raum. Am Kopfende des Raumes war auf einem Podest eine kleine Bühne aufgebaut. Überall waren einzelne Stehtische verteilt, auf denen große Pappschilder mit unterschiedlich farbigen Punkten aufgestellt waren. Charlotte lief auf den Tisch mit dem roten Punkt zu und stellte ihre Schultertasche ab. Dankbar griff sie nach einer der Wasserflaschen, die auf dem Tisch bereitgestellt waren. Während sie sich eingoss, angelte sie sich eines der ebenfalls bereitliegenden Infoblättchen. Darin stand die Story von Mord im Museum: „Der Kelch von Gustav dem Großen ist weg! Eben noch haben der Archäologe Dr. Himmelreiter und sein Assistent Rochert ihren Ausgrabungsfund stolz bei der Eröffnungsfeier der neuen Ausstellung präsentiert – da ist der Kelch auch schon verschwunden! Die Museumsangestellten machen sich sofort auf die Suche nach dem antiken Stück. Doch was ist das? Ein Wärter liegt plötzlich tot neben dem leeren Ausstellungskasten. Warum wurde er ermordet? Und wo ist der Kelch? Helfen Sie mit bei der spannenden Mördersuche!“ ‚Geistreich‘, schoss es Charlotte spöttisch durch den Kopf und sie nahm einen Schluck Wasser. Eine schief grinsende Mitvierzigerin kam auf den Rote-Punkte-Tisch zu. „Halloooo. Ich bin die Tatjana, und wer bist du?“ „Charlotte“, erwiderte sie und lächelte ebenfalls freundlich. Danach setzte ein peinliches Schweigen ein. Die Frau fuhr fort: „Na, dann bin ich mal gespannt, wie der Abend so wird. Hast du bei sowas schon mal mitgemacht?“ „Nein, ist mein erstes Mal“, sagte Charlotte und griente. „Eine Freundin hat mir die Karte zum Geburtstag geschenkt“, log sie, während sie ihren Blick durch die Menge schweifen ließ. Sie wollte ungern den wahren Grund für ihr Dasein erklären, weil das oft mit Fragen zu ihrem Job verbunden war. Aber dafür war sie heute Abend zu müde.

Als die Zeit voranschritt, wurde es im Raum immer voller. Charlotte schluckte. Sie fühlte sich nicht wohl, wenn viele Menschen auf einem Fleck waren. Um das aufkeimende Unwohlsein zu bekämpfen, atmete sie tief durch. Ein paar weitere Veranstaltungsbesucher gesellten sich zu ihrem Tisch dazu und alle begrüßten sich gegenseitig. Die Stimmung im Raum wurde zunehmend aufgekratzt. Ein Blick auf ihre Armbanduhr sagte Charlotte, dass es in 10 Minuten losgehen würde. Aus ihrer Gruppe griff eine End-Dreißigerin mit Kurzhaarfrisur und schwarz gerahmter Brille nach einer Infobroschüre auf dem Tisch und sagte: „Oh, ich sehe wir brauchen noch einen Gruppennamen.“ Sie sah die anderen Teilnehmer an. „Wie wäre es mit ‚The Benedicts‘? Ihr wisst schon, wegen Benedict Cumberbatch“, fuhr die Frau daraufhin euphorisch fort. Charlotte rief sich den Hauptdarsteller der Sherlock-Fernseh-Serie in Erinnerung. ‚Ach der‘, dachte sie wenig begeistert. Nach kurzer Diskussion konnte sich ihre Gruppe jedoch auf keinen anderen Namen einigen, so dass die Wahl nach ein paar Minuten tatsächlich auf ‚The Benedicts‘ fiel. Die Ideengeberin freute sich und kicherte, weil „Benedict Cumberbatch ja so ein heißer Typ ist.“ Noch während sie ihre Gruppe tauften, indem sie mit ihren Gläsern anstießen, begannen sich einige Personen im Raum langsam aber auffällig zur Bühne vorzuarbeiten. Sie rempelten absichtlich einige der Besucher an, um sich anschließend zu entschuldigen. ‚Das müssen die Schauspieler des heutigen Abends sein‘, dachte Charlotte. Jetzt fiel ihr auch auf, dass diese Personen verkleidet wirkten. Und tatsächlich: Vorne angekommen begannen die Schauspieler sich als Museumsmitarbeiter vorzustellen.

Eine junge blonde Frau stellte sich als Direktorin vor. Sie trug ein etwas zu groß geratenes Kostüm und machte beim Sprechen übertrieben ausschweifende Gesten, was den Eindruck vermittelte, dass sie etwas durchgedreht war. Aus ihrer Erzählung ging hervor, dass sie seit Jahren nur für das Museum zu leben schien. Dann stellte sich ein etwa 50-jähriger, gepflegt wirkender Mann mit graumelierten Schläfen vor. Er spielte den dandyhaften Archäologen Dr. Himmelreiter, der einen eleganten Dreiteiler trug. Es folgte ein schüchtern und kriecherisch wirkender Mitt-Dreißiger mit mausgrauem Haar. Dieser Schauspieler verkörperte den Assistenten des Archäologen, Rochert. Er trug ein verwaschenes Sakko mit Flicken an den Ellenbogen. Anschließend kam ein attraktiver Mann, ebenfalls um die dreißig, zu Wort und stellte sich als Buchhalter Rudolf Steiner vor. Er machte dank der farblich aufeinander abgestimmtem Hals- und Brusttücher sowie der polierten Lederschuhe einen sehr gepflegten Eindruck. Als Vorletzte stellten sich zwei Wärter in Uniform vor. ‚Einer davon spielt ja nicht mehr lange mit‘, dachte Charlotte. Schließlich sollte einer der Wärter die baldige Leiche verkörpern. Abschließend trat eine junge, aber müde wirkende Putzfrau in einem geblümten Kittel mit Staubwischer in der Hand auf. Nachdem sich alle vorgestellt hatten, ging endlich das Schauspiel los. „Wenn ich um Ruhe bitten dürfte, wir haben hier ein Problem“, vermeldete die Museumsdirektorin. Sie artikulierte überdeutlich und mit bebender Stimme: „Der Kelch von Gustav dem Großen ist fort und wir müssen ihn unbedingt wiederfinden!“ „Ja“, herrschte der Archäologe Dr. Himmelreiter dazwischen. „Unbedingt!“ Es folgte eine kurze Erklärung, wie der Kelch noch tags zuvor unter großem Applaus der Öffentlichkeit präsentiert worden war. Doch dann war das Prunkstück plötzlich am helllichten Tag mitten aus dem Schaukasten entwendet worden. „Bitte, liebe Anwesende“, übernahm die Direktorin gepresst, „helfen Sie uns bei der Suche. Am besten, wir teilen uns auf, nicht wahr.“ Sie blickte fragend zu den betroffen dreinschauenden Wärtern. Diese erwiderten ihren Blick mit einem stummen Nicken. „Bitte folgen Sie mir nach draußen, wo wir Sie in einzelne Suchtrupps einteilen werden“, sagte die Direktorin nun ans Publikum gewandt. Dann lief sie hektisch mit den Armen rudernd von der Bühne und signalisierte allen Teilnehmern an den Tischen, ihr nach draußen zu folgen. Die anderen Schauspieler blieben zunächst auf der Bühne zurück. ‚Vermutlich gehen die jetzt auf ihre Posten‘, dachte Charlotte beim Hinauslaufen.

Kapitel 2

Draußen auf dem Vorhof standen Museumsangestellte, die eindeutig keine Schauspieler waren, wie an ihrer dezenten Kleidung erkennbar war. Diese echten Angestellten hielten Pappschilder über ihre Köpfe, auf denen die jeweils passenden Farbpunkte der Gruppen aufgemalt waren. Die knapp 70 Besucher des Schauspiels teilten sich im Hof auf und scharten sich um ihren Gruppen-Guide. Charlotte und ihre ‚The Benedicts‘-Mitstreiter liefen auf den Guide mit dem roten Farbpunkt auf dem Schild zu: Eine junge brünette Frau, die eine Stoppuhr um den Hals trug und einen Schnellhefter in der Hand hielt. Nach einer freundlichen Begrüßung begann die Frau mit einer kurzen Einweisung. „Wir beginnen im Uhren-Salon. Bitte folgen Sie mir gesammelt, ich führe Sie von einer Location zur nächsten und gebe Ihnen den jeweiligen Zeitrahmen vor, in dem Sie Hinweise finden müssen.“ Nach einem Blick auf ihren Schnellhefter sagte sie: „Einen Tipp habe ich noch vorneweg: Denken Sie nicht zu kompliziert.“ Sie lächelte gönnerhaft, und alle in der Gruppe lächelten höflich zurück. Dann setzte sie sich in Bewegung und Charlotte gesellte sich neben Tatjana, um der jungen Frau zu folgen. Die übrigen ‚Benedicts‘ schlossen sich an und schäkerten aufgeregt miteinander herum. Es ging vom Hof herunter über eine steinerne Wendeltreppe abwärts in eine Art Kellergewölbe. Dort wurde es merklich kühler, wie Charlotte fröstelnd feststellte. Sie zog ihren Blazer enger um sich. Am Ende der Wendeltreppe schloss ihr Guide ein hölzernes Tor auf, hielt die Tür geöffnet und wartete, bis alle Teilnehmer hindurchgetreten waren. Sie gelangten nun in die offiziellen Besucherräume, und sie fanden sich in einem Bereich wieder, in dem antike Teppiche ausgestellt waren. Um diese Uhrzeit war das Licht im Raum gedimmt und es herrschte eine unheimliche Atmosphäre, da außer ihnen niemand sonst im Ausstellungsraum war. Zügig führte ihr Guide die Gruppe weiter in einen Raum mit allerlei Uhren. Das musste der besagte Salon sein: Riesige Standuhren, filigrane Taschenuhren und edle Armbanduhren aus verschiedenen Epochen waren hier in beleuchteten Kästen untergebracht. Ihr Guide bedeutete Charlottes Gruppe, an einer Stelle zwischen den Schaukästen anzuhalten. Nachdem sich alle dort verteilt hatten, begann die Szene: Der Archäologe Dr. Himmelreiter kam wutbrausend in den Uhren-Salon und blieb etwa zwei Meter vor der Besuchergruppe stehen. Ihm folgte sein Assistent Rochert, der die Hände zu einer bettelnden Geste ineinander verschränkt hatte. „Bitte Chef, das können Sie mir nicht antun“, flehte er Himmelreiter an. Dieser drehte sich abrupt zu ihm um. Er war einen Kopf größer als Rochert und sah auf ihn herab. Himmelreiter erwiderte gedehnt: „Mein lieber Rochert“‒ dann griff er ihm ans Revers und zog ihn ein wenig zu sich heran – „und wie ich das kann. Du bist für den Diebstahl verantwortlich und du musst die Konsequenz dafür tragen!“ Rochert versuchte sich loszuwinden und Himmelreiter ließ ihn höhnisch lächelnd los. Aus dem weiteren Dialog der beiden Schauspieler ging hervor, dass Rochert Spielschulden hatte und damit auch ein Motiv aufwies, den Kelch von Gustav dem Großen zu stehlen. Rochert beteuerte wiederum, den Kelch nicht gestohlen zu haben und bettelte seinen Chef um Verschwiegenheit wegen seiner Zockerleidenschaft an. Dr. Himmelreiter zeigte aber kein Erbarmen. Er drohte damit, Rocherts Suchtverhalten an die Direktorin zu verraten und sie in seinen Verdacht einzuweihen. Nach fünf Minuten heftigem Diskurs verschwanden Himmelreiter und Rochert aus dem Salon. Die junge Frau, die Charlottes Gruppe anleitete, ließ die Stille nach dem Abgang der Schauspieler kurz wirken und wandte sich dann zur Gruppe: „So, hier gibt es jetzt noch keine Hinweise zum Suchen, bitte folgen Sie mir zur nächsten Station. Wir gehen jetzt zum Büro der Direktorin.“ Gehorsam folgten ihr ‚The Benedicts‘ die Wendeltreppe wieder nach oben. Gemeinsam liefen sie leise murmelnd über den gepflasterten Innenhof zurück zur Eingangstür des Museums und betraten den Hauptteil des Gebäudes. Auch hier war das Licht gedimmt, so dass die riesige Eingangshalle dunkel vor ihnen lag. Ihr Guide deutete auf eine Galerie am Ende der Halle, die über eine Treppe zu erreichen war. „Dort ist das Büro.“ Sie steuerten darauf zu. Plötzlich hallte ein durchdringender, gellender Schrei durchs Museum.

Kapitel 3

Alle verstummten und hielten beim Gehen inne. Irritiert riss Charlotte ihren Kopf in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Auch die anderen Gruppenmitglieder sahen sich unsicher um. Ein ungutes Gefühl beschlich Charlotte und sie dachte: ‚Das klang aber ganz schön echt.‘ Mit einem fragenden Ausdruck im Gesicht drehte sie sich zu ihrem Guide um. Doch die junge Frau wirkte ebenfalls verunsichert, sie stand regungslos da und lauschte nach weiteren Geräuschen. Dann hörten sie alle gedämpfte Stimmen aus der Richtung, aus der der Schrei ertönt war. Das unverkennbare Geräusch quietschender Turnschuhe auf Linoleum näherte sich auf einmal aus der entgegengesetzten Richtung. Ein Sicherheitsbeamter des Museums kam aus dem Gebäudeinneren, passierte ihre Gruppe und rannte den Rundgang zur linken Seite hinauf, in Richtung des Schreis. Nun kam auch Bewegung in Charlottes Gruppen-Guide. Die junge Brünette stammelte: „Ähm... bleiben Sie bitte kurz hier.“ Dann folgte sie dem Mann eilig in den Rundgang. Ihrer Bitte folgend blieben ‚The Benedicts‘ unsicher dort stehen, wo sie zum Halten gekommen waren. „Meinst du, das gehört noch zum Spiel?“, fragte Tatjana Charlotte. Einen Augenblick sahen sie sich an und Charlotte zuckte mit den Schultern. Ihre Gedanken rasten. Einerseits war sie verängstigt und wollte erst abwarten, bis die Museumsangestellte zurückkam, um ihnen zu sagen, was los war. Andererseits konnte sie sich bildhaft vorstellen, wie ihr Chefredakteur reagieren würde: Wenn tatsächlich etwas passiert war und Richling erfuhr, dass sie sich eine solche Gelegenheit entgehen ließ, würde er sie ins Ressort Garten&Grünzeug degradieren. Kurzentschlossen wandte sich Charlotte von der Gruppe ab. „Wo willst du denn hin?“, fragte Tatjana sie schrill. „Ich... geh nur mal kurz... also einer sollte doch mal kurz nachsehen...“ Mit hochrotem Kopf und rasendem Puls lief Charlotte in Richtung Rundgang. Sie hörte das „Bleib‘ lieber hier“-Zischen von Tatjana nur mit halbem Ohr.

Als sie um die gewölbte Wand des Rundgangs lief, erblickte Charlotte einen aufsteigenden Steg. Sie ging ihn eilig hoch und konnte jetzt verstehen, was die nervösen und angespannten Stimmen sagten: „Rufen Sie sofort die 110 an“, „Oh Gott wie schrecklich“ und „Das kann doch nicht wahr sein!“. Ein paar Schauspieler und Mördersucher aus einer anderen Gruppe umringten etwas, das auf dem Boden lag. Der Sicherheitsbeamte stand abgewandt und sprach mit angespannter Stimme in sein Handy. „Ja, Vollmer mein Name. Ich bin Wächter im Landesmuseum Stuttgart und möchte einen Toten melden.“ Pause. „Ja, einen Toten, sieht aus als...“, er schluckte hörbar, „...wäre er ermordet worden.“ Charlotte rutschte das Herz in die Knie. ‚Ein echter Mord?‘, dachte sie entsetzt. Einem Impuls folgend wäre sie jetzt am liebsten weggerannt. Doch sie verharrte mehrere Sekunden lang wie angewurzelt auf der Stelle. Dann traf sie eine Entscheidung. Langsam, als würde eine fremde Kraft sie steuern, näherte sich Charlotte wie in Trance der Menschenmenge. Keiner sprach mehr, alle waren vollkommen verstummt. Charlotte schob sich neben ihren Gruppen-Guide, die ebenfalls im Halbkreis stand, und senkte den Blick widerstrebend zu Boden. Erst sah sie nur braune, säuberlich polierte Lederschuhe. Dann wanderte Charlottes Blick langsam höher, über zwei ausgestreckte Hosenbeine. Ihr Herz raste jetzt, aber wie unter Zwang ließ sie ihren Blick weiter über den Körper am Boden gleiten.

Charlotte hatte noch nie in ihrem Leben einen Toten gesehen. Doch irgendwie wusste sie, dass das hier ein echter Toter war und kein Schauspieler, der sich tot stellte. Der Mann, der am Boden lag, war auch nicht einer der Wärter, der laut Spielplan das Opfer verkörpern sollte. Es war der gutaussehende Schauspieler, der sich als Buchhalter Steiner vorgestellt hatte. Der Mann lag reglos auf dem Rücken. Sein Gesicht war merkwürdig entspannt, seine Arme lagen schlaff neben dem Körper. Auf dem Hemd, das er trug, war ein großer, dunkelroter Fleck zu erkennen. Charlotte stieg der eisenhaltige Geruch von frischem Blut in die Nase und ihr wurde schlagartig schlecht. ‚Oh Gott, ich glaub‘ ich muss mich übergeben‘, schoss es ihr durch den Kopf. Sie drehte sich abrupt um und lief ein paar Schritte von der Leiche weg. Keiner beachtete sie. Mit einem Ohr hörte Charlotte, wie der Sicherheitsbeamte das Gespräch mit der Polizei beendete. Dann wählte er offenbar eine neue Nummer, denn diesmal bat er seinen neuen Gesprächspartner ungeduldig um „Irgendetwas, um hier abzusperren.“ Gegen die Übelkeit ankämpfend sah Charlotte sich panisch um und suchte nach einer Möglichkeit, aus der Sichtweite der anderen zu kommen. Sie erblickte zwei Ausstellungskästen in der Nähe, die auf hölzernen Panels standen und ging um einen der Kästen herum. Sie hoffte inständig, sich nicht erbrechen zu müssen. Mit schwachen Beinen legte sie sich kurzerhand auf den kühlen Museums-Steinboden hinter dem Kasten. Dabei stieß sie sich unsanft den Kopf am harten Boden. Hastig schob sich Charlotte ihre Schultertasche unter den Kopf. Das tat gut. Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen. ‚Oh Gott, das gibt es doch nicht‘, dachte sie und hatte plötzlich das Gefühl, weinen zu müssen. Wieder atmete sie tief aus. ‚Das ist nur die Panik, mir geht es gleich besser‘, versuchte sie sich einzureden. Sie hörte neue, eilige Schritte herannahen – wohl der Kollege mit dem Absperrutensil. Der erste Sicherheitsbeamte sagte zu den Leuten im Halbkreis, sie sollten jetzt gehen, bis die Polizei komme. „Bis dahin sperre ich hier ab“, fügte er noch hinzu. Charlotte blieb hinter dem Kasten liegen. Da sie von der Holzverkleidung verdeckt wurde, blieb sie von den anderen unbemerkt. Sie konnte und wollte aber auch noch nicht aufstehen.

Nach kurzer Zeit waren alle gegangen, und es wurde ruhig um Charlotte. Offenbar hielt sich auch der Sicherheitsbeamte nicht mehr beim Toten auf. Charlotte atmete tief durch und merkte, wie ihr Herzschlag etwas langsamer wurde. Auch ihre Übelkeit war schwächer geworden, und sie versuchte vorsichtig, sich aufzusetzen. Plötzlich hielt sie mitten in der Bewegung inne. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie sich etwas bei der Leiche bewegte. Sofort beschleunigte sich Charlottes Puls wieder und sie traute sich kaum zu atmen. Sie glitt geräuschlos in die Hocke, wohlbedacht, von dem hölzernen Kastenteil verdeckt zu bleiben. Vorsichtig blickte sie über den gläsernen Kastenrand. Vor lauter Aufregung begann ihre Sicht zu verschwimmen. Doch Charlotte konnte ihren Blick nicht abwenden und starre wie gebannt in Richtung des toten Körpers. Und da sah sie eine Gestalt, die sich über die Leiche beugte. Charlottes Herz raste und sie hörte ihr Blut in den Ohren rauschen. Dennoch glaubte sie, ein leises Wimmern zu hören, das die Gestalt von sich gegeben haben musste. Dann ertönten, deutlich lauter, von draußen Polizeisirenen, die schnell näher kamen. Die Gestalt schreckte auf, und für einen entsetzlichen Augenblick dachte Charlotte, die Person sehe sie direkt durch den Glaskasten hindurch an. Doch dann drehte sich der Schatten ab und rannte auf lautlosen Sohlen davon. Wie versteinert blieb Charlotte hinter dem Kasten hocken. Doch sie sah der weglaufenden Gestalt hinterher und drehte dabei den Kopf zur Seite. Als ihr Blick den benachbarten Glaskasten streifte, nahm sie für den Bruchteil einer Sekunde eine Bewegung in den Scheiben wahr. Unfähig, sich zu rühren, harrte Charlotte in der Hocke aus.

Mehrere Sekunden verstrichen, bis ihr plötzlich auffiel, dass es ziemlich verdächtig war, sich in der Nähe der Leiche aufzuhalten. Doch weglaufen konnte sie nicht mehr: Sie hörte erneut Stimmen vom Rundgang herannahen. Eine der Stimmen war dabei fest und ruhig. Ein Mann Mitte dreißig in Lederjacke und Jeans kam in Begleitung eines Streifenpolizisten und dem Sicherheitsbeamten des Museums näher. Alle steuerten direkt auf die Leiche am Boden zu. Knapp fünf Schritte von ihr entfernt blieben sie stehen. Der Lederjackenträger sagte: „Wir warten, bis die Kriminaltechnik und der Rechtsmediziner da sind.“ In Charlottes Kopf begann sich die Gedanken zu überschlagen. ‚Was mache ich jetzt? Ich komme sofort hinter dem Kasten hervor! Oder doch nicht? Wie sieht das denn aus, dann hält der mich ja gleich für die Mörderin! Oh mann, oh mann...‘, Charlotte entfuhr ein verzweifelter Laut, und sofort schlug sie sich die Hand vor den Mund. Sie betete, dass niemand sie gehört hatte. Aber trotz dem Rauschen in ihren Ohren konnte sie hören, wie sich ihr langsam Schritte näherten. Sie kniff die Augen zusammen und wartete, bis das Unausweichliche eintrat. „Kommen Sie da raus, heben Sie die Hände nach vorn damit ich sie sehen kann!“, sagte eine strenge Stimme zu ihr. Blinzelnd öffnete Charlotte die Augen und sah im Halbdunkeln zu dem Lederjackenträger hinauf, der ihr mit gezogener Waffe gegenüberstand. Falls überhaupt möglich, sank ihr Herz noch tiefer. „Ich... ich... tut mir leid... mir war einfach so schlecht, da hab’ ich mich kurz hierhergelegt...“, stammelte sie. „Hände nach vorne“, wiederholte der Mann, diesmal eine Spur gereizter. „Ok ok, ich... oh Gott, ich wollte doch wirklich nur... kurz... weil mir doch so schlecht war.“ Weiter kam sie nicht, denn noch während sie sich aufrichtete, packte der Mann sie grob an einem Arm und zerrte sie mit der freien Hand nach vorne, wo mehr Licht war. Mit bohrendem Blick sah er ihr ins Gesicht und Charlotte merkte, wie sie vor lauter Panik erneut kurz davor war zu heulen. „Was machen Sie hier?“, fragte er sie langsam und bedrohlich, während er immer noch ihren Arm in festem Griff hielt. „Ich... also mir wurde etwas schlecht, nachdem ich... das B..B..Blut gerochen habe.“ Charlotte schluckte trocken. „Und weil ich nicht... auf... ihn drauf.. also, da dachte ich, leg‘ ich mich m..m..mal kurz hin.“ ‚Verdammt‘, dachte sie, ‚reiß‘ dich zusammen, du hast den Typ schließlich nicht umgebracht.‘ Offenbar machte sie einen ausreichend elenden Eindruck, denn der Mann in der Lederjacke lockerte seinen Griff ein wenig, ließ die Waffe sinken und sagte nun etwas freundlicher: „Gehen Sie bitte hinter wieder zu den anderen zurück und warten sie dort. Meine Kollegen und ich müssen mit Ihnen allen sprechen.“ Wortlos nickte Charlotte. Der Kommissar, wie sie vermutete, ließ ihren Arm los und deutete mit der nun freien Hand in Richtung des Rundgangs, wohin sie verschwinden sollte. Mit unsicheren Schritten lief Charlotte dorthin zurück.

399
610,96 ₽
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180 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783742793140
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