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17. Kapitel: Kate Nicklebys weitere Schicksale
Mit schwerem Herzen und bösen Ahnungen stand Kate einige Minuten vor der festgesetzten Zeit im Hause Madame Mantalinis in einem Zimmer, das durch eine Flügeltüre von dem Salon getrennt war, und wartete, bis man sie holen kommen werde. Das Gemach enthielt nicht viel Sehenswertes, außer höchstens ein in Öl gemaltes Brustbild, das Mr. Mantalini darstellte, wie er sich ungezwungen am Kopfe kratzte – wahrscheinlich, damit der Brillantring am Zeigefinger voll zur Geltung komme. Im anstoßenden Zimmer hörte man jetzt Stimmen, und da die Unterhaltung ziemlich laut und die Wand sehr dünn war, erkannte Kate ohne Mühe, daß sie Mr. und Mrs. Mantalini angehörten.
»Wenn du so odiös und abscheulich eifersüchtig sein willst, Schätzchen, so wirst du dich selber sehr elend, schrecklich elend, verteufelt elend machen.«
Sodann ließ sich ein Ton vernehmen, als ob Mr. Mantalini Kaffee schlürfe.
»Ach, ich bin schon elend«, ächzte Madame Mantalini, augenscheinlich sehr übel gelaunt.
»Dann bist du eine undankbare, abscheuliche, verteufelte kleine Zauberin«, entgegnete Mantalini.
»Das bin ich nicht!« schluchzte Madame.
»Schätzchen darf nicht so übel gelaunt sein«, flötete Mr. Mantalini, ein Ei aufschlagend. »Du hast ein so verteufelt bezauberndes Gesichtchen, daß du keinem Unmut darauf Raum geben solltest, denn das beraubt es seiner Liebenswürdigkeit und macht es finster aussehen wie das eines schrecklichen, abscheulichen, verteufelten kleinen Kobolds.«
»Auf diese Weise wirst du mich nicht besänftigen«, schmollte Madame. »Den ganzen Abend hast du ihr den Hof gemacht.«
»Aber geh, Schätzchen. Was sprichst du da!«
»Ja, sage ich dir. Ich will nicht, daß du mit andern tanzst. Lieber nehme ich Gift.«
»Ach, Schätzchen wird kein Gift nehmen und sich dadurch schreckliche Schmerzen bereiten«, säuselte Mantalini, offenbar sehr gelangweilt. »Schon deshalb nicht, weil sie einen verteufelt schönen Mann hat, der zwei Gräfinnen hätte heiraten können, und eine Witwe –«
»Zwei Gräfinnen? Du sprachst doch früher nur von einer.«
»Zwei«, beteuerte Mantalini, »zwei verteufelt schöne Damen. Wirkliche Gräfinnen und immens reich.«
»Warum hast du sie denn nicht geheiratet?« fragte Madame schnippisch.
»Warum nicht? Weil ich bei einer gewissen Matinee die verteufelt süßeste kleine Zauberin gesehen habe, gegen die alle Gräfinnen und Witwen in England –« Mr. Mantalini beendete seinen Satz nicht, sondern gab Madame einen schallenden Schmatz. Dann schienen noch mehrere Küsse von Zeit zu Zeit das Geschäft des Frühstücks zu unterbrechen.
»Und wie sieht es in der Kasse aus, du Juwel meines Daseins?« fragte Mantalini nach einer Weile. »Über wieviel haben wir zu verfügen?«
»Leider nur über sehr wenig«, seufzte Madame.
»So müssen wir uns irgendwie Geld beschaffen«, rief Mr. Mantalini, »der alte Nickleby muß uns wieder einen Vorschuß geben, damit wir uns durchschlagen können.«
»Du kannst aber doch nicht schon wieder Geld brauchen?«
»Mein Leben und meine Seele, bei Serrubbs steht ein Pferd zu Verkauf – rein umsonst. Es wäre direkt eine Sünde, eine solche Gelegenheit auszulassen. Rein umsonst. Lumpige hundert Guineen! Stell dir vor, wenn ich damit grade vor dem Wagen der verschmähten Gräfinnen durch den Hydepark reite, sie werden vor Schmerz und Wut in Ohnmacht fallen. ›Er ist unsern Liebesnetzen entwischt. Verteufelte Sache das.‹ Sie werden sich gegenseitig teufelsmäßig hassen und dich tot und begraben wünschen. Ha, ha, verteufelt.«
Madame Mantalinis Klugheit, wenn sie überhaupt welche besaß, hielt nicht stand gegenüber solchen in Aussicht gestellten Triumphen. Sie klimperte ein wenig mit den Schlüsseln und erklärte, in der Kasse nachsehen zu wollen. Zu diesem Zweck öffnete sie die Flügeltüre und trat in das Zimmer, in dem Kate saß.
»Himmel!« rief sie und prallte überrascht zurück. »Wieso sind Sie hier, liebes Kind?«
»Kind!« rief auch Mr. Mantalini und eilte rasch herbei.
»Wieso sind Sie–eh–oh–zum Teufel. – Wie geht es Ihnen?«
»Ich warte hier schon einige Zeit, Madame«, erklärte Kate der Putzmacherin. »Vermutlich hat der Bediente vergessen, Ihnen zu melden, daß ich hier bin.«
»Du mußt wirklich diesen Burschen einmal beim Schopf nehmen!« sagte Madame zu ihrem Gatten.
»Ich will ihm seine verteufelte Nase aus dem Gesicht reißen, weil er ein so entzückendes Wesen so ganz allein hier läßt.« »Mantalini!« verwies Madame. »Du vergissest dich!«
»Ich vergesse dich nicht, mein Schatz, und kann und werde dich auch nie vergessen«, beteuerte Mantalini, küßte seiner Gattin die Hand und blinzelte zugleich Kate zu, die sich jedoch verächtlich abwandte.
Durch diese Schmeichelei beschwichtigt, nahm Madame Mantalini ein paar Banknoten aus ihrem Schreibpult und händigte sie ihrem Gatten ein, der sie mit großem Entzücken entgegennahm. Dann forderte sie Kate auf, ihr zu folgen, und führte sie eine Treppenflucht hinunter und über einen Gang in ein großes Hinterzimmer, in dem eine Anzahl junger Mädchen mit Nähen, Zuschneiden, Umändern und verschiedenen andern ähnlichen Verrichtungen beschäftigt war. Es war ein langes schmales Zimmer, in das durch eine Öffnung in der Decke Licht hereinfiel, und so düster und unbehaglich wie nur irgend möglich.
Dienstbeflissen eilte sofort Miss Knag, eine kleine, geschäftige, wichtigtuende, aufgedonnerte Person herbei, während die Nähterinnen einen Augenblick in ihrer Beschäftigung innehielten und einander kritische Bemerkungen über den Schnitt und Stoff von Kates Kleid zuflüsterten.
»Miss Knag, hier ist das junge Mädchen, von dem ich bereits mit Ihnen gesprochen hatte«, begann Madame Mantalini.
Miss Knag antwortete mit einem verbindlichen Lächeln, das sie Kate gegenüber geschickt in ein herablassendes umzuwandeln wußte, und erklärte dann, daß man zwar mit jungen Mädchen, die an das Geschäft noch nicht gewöhnt seien, anfangs viel Mühe habe, aber sie sei überzeugt, daß Kate sich nach Kräften anstellig erweisen werde.
»Ich denke, es wird vorderhand am besten sein, wenn Miss Nickleby mit Ihnen in das Ankleidezimmer geht und den Kundschaften beim Anprobieren hilft«, meinte Madame Mantalini.
»Sie wird sich jetzt noch in keiner anderen Weise nützlich machen können, und ihr Äußeres –«
»Harmoniert ausgezeichnet mit dem meinigen, Madame«, fiel Miss Knag ein. »Nur ist mein Teint etwas dunkler als der ihrige, und, hem, ich glaube, mein Fuß wird auch ein wenig kleiner sein. Gewiß. Miss Nickleby wird mir nicht übelnehmen, daß ich so spreche, wenn sie hört, daß unsere Familie von jeher wegen ihrer kleinen Füße berühmt war, seit – hem – seit, glaube ich, unsere Familie überhaupt Füße besaß. Ich hatte einmal einen Onkel, Madame Mantalini, der in Cheltenham wohnte und eine sehr ausgedehnte Tabakfabrik besaß, hem. Er hatte so winzig kleine Füße, wie man sie gewöhnlich an hölzernen Beinen anbringt, hem. Füße von so wunderschönem Ebenmaß, Madame, wie Sie sich sie nur denken können.«
»Dann mögen sie wohl einige Ähnlichkeiten mit Klumpfüßen gehabt haben, Miss Knag«, witzelte Madame.
»Kostbar! Nein kostbar! Das sieht Ihnen wieder ganz gleich«, schmeichelte Miss Knag. »Ha, ha, ha, Klumpfüße, köstlich, wie oft habe ich zu den jungen Mädchen schon gesagt, die treffendsten Witze, hem, die ich je gehört habe – und ich habe viel gehört, denn als mein Bruder noch lebte, hatten wir jede Woche zwei oder drei junge Herren beim Abendessen, die wegen ihres Witzes allgemein bekannt waren, Madame –, die treffendsten Witze, sage ich den jungen Mädchen immer, die ich je gehört habe, macht Madame Mantalini. Sie sind so sarkastisch und dabei doch nie beleidigend, daß es mir, wie ich erst diesen Morgen noch zu Miss Simmonds sagte, ein wahres Rätsel ist, woher Sie sie nur so aus dem Ärmel schütteln können.«
Atemlos hielt Miss Knag inne.
»Ich bitte also Sorge zu tragen, daß Miss Nickleby ihr Ressort genau kennenlernt«, kam Madame Mantalini einem neuerlich drohenden Redeschwall zuvor. »Ich übergebe sie jetzt Ihrer Obhut, Miss Knag. – Guten Morgen.«
»Eine bezaubernde Dame, nicht wahr, Miss Nickleby!« wendete sich Miss Knag, sich die Hände reibend, jetzt an Kate.
»Ich habe sie erst ein paarmal flüchtig gesehen«, wich Kate einer ausführlichen Antwort aus.
»Mr. Mantalini kennen Sie doch auch?«
»Ja, ich bin ihm schon zweimal begegnet.«
»Ist er nicht ein entzückender Mann?«
»Nun, er ist mir nicht gerade so vorgekommen«, versetzte Kate.
»Nicht?« rief Miss Knag und schlug erstaunt die Hände zusammen. »Barmherziger Himmel, ja, was haben Sie denn für einen Geschmack? So ein schöner, schlanker, vornehm aussehender Herr! Und diese Haare! Diese Zähne, der Bart! Hem. Nein, Sie setzen mich wirklich in Erstaunen.«
»Ich gebe gerne zu, daß ich recht töricht bin, aber da meine Ansicht weder für ihn noch jemand anders einen besonderen Wert hat, so bedaure ich nicht, sie mir gebildet zu haben, wie ich auch nicht glaube, daß ich sie so schnell ändern werde.«
Nach einem kurzen Schweigen, während dessen Kate ihren Hut und Schal abgelegt hatte, fragte eine der Näherinnen, ob sie sich denn in ihrer schwarzen Tracht nicht recht unbehaglich fühle.
»So staubig und heiß, nicht?«
Kate hätte sagen können, daß Schwarz die eisigste Tracht sei, die der Mensch anlegen kann. Aber sie brachte kein Wort hervor. Tränen traten ihr in die Augen.
»Es tut mir außerordentlich leid, Sie durch meine Unbedachtsamkeit verletzt zu haben«, entschuldigte sich die Nähterin.
»Sie trauern vermutlich um einen nahen Verwandten?«
»Um meinen Vater«, antwortete Kate weinend.
»Um wen, Miss Simmonds?« fragte Miss Knag laut.
»Um ihren Vater«, flüsterte die Nähterin.
»So, um ihren Vater«, wiederholte Miss Knag rücksichtslos. »Wahrscheinlich lange krank gelegen, Miss Nickleby?«
»Unser Unglück kam sehr unverhofft«, schluchzte Kate, sich abwendend, »sonst wäre ich vielleicht jetzt imstande, es leichter zu tragen.«
Das Arbeiterinnenpersonal war, wie immer in solchen Fällen, nicht wenig neugierig gewesen, das Wer, Was, Warum und Wieso von Kate zu erfahren; aber obgleich das Äußere und die Empfindlichkeit des jungen Mädchens diesen Wunsch nur vermehren konnte, so schwiegen doch alle, um ihr nicht wehe zu tun, weshalb denn auch Miss Knag weitere Versuche, Details zu erfahren, vorderhand unterließ und, wenn auch ungern, ihre Gehilfinnen an die Arbeit gehen hieß.
Die Mädchen nähten in stummer Emsigkeit bis halb zwei Uhr fort, um welche Zeit eine gebratene Schöpsenkeule mit Kartoffeln aufgetragen wurde. Als die Mahlzeit vorüber war, ging es wieder an die Arbeit, die schweigend fortgesetzt wurde, bis der Lärm von Wagen, die durch die Straßen rasselten, und laute Doppelschläge an der Türe das Zeichen gaben, daß das Tagewerk der beglückteren Glieder der menschlichen Gesellschaft seinen Anfang nahm. Bald darauf hielt die Equipage einer vornehmen Dame, oder besser gesagt: einer reichen, vor der Haustüre. Kate wurde beauftragt, zusammen mit Miss Knag, natürlich unter dem Vortritt Madame Mantalinis, die Dame mit ihrer Tochter zu empfangen und die bestellten Kleider behufs Anprobe zu bringen.
Kates Rolle bei dieser Feierlichkeit war bescheiden genug, da sich ihre Obliegenheiten darauf beschränkten, die Kleider zu halten, bis Miss Knag sie anprobierte, hin und wieder eine Schleife zu knüpfen oder eine Stecknadel zu befestigen. Zufälligerweise waren gerade die reiche Dame und ihre Tochter an diesem Tage schlechter Laune, und das ging an der armen Kate Nickleby aus. Einmal war sie tölpisch, dann hatte sie kalte, schmutzige oder rauhe Hände, kurz, sie konnte nichts recht machen. Die Damen wunderten sich, wie Madame Mantalini solche Leute nur um sich dulden könne; wenn sie das nächste Mal herkämen, wünschten sie ein anderes junges Mädchen zu sehen, usw.
Kate vergoß bittere Tränen, als sie fort waren, und fühlte zum erstenmal so recht das Demütigende ihrer Stellung. Der Mut war ihr allerdings bei der Aussicht auf Dienenmüssen und saure Arbeit sehr gesunken, aber sie hatte nichts Herabwürdigendes in dem Gedanken, um ihren Lebensunterhalt arbeiten zu müssen, gefühlt, bis sie sich jetzt auf einmal hilflos rohestem Hochmut ausgesetzt sah. Ein bißchen Philosophie würde sie zwar gelehrt haben, daß das Erniedrigende in einem solchen Falle lediglich auf Seite derer liegt, die so ohne jede Ursache ihrer Laune die Zügel schießen lassen, aber sie war zu jung, um darin einen Trost zu finden, und sie fühlte sich tief gekränkt.
Unter solchen und ähnlichen Auftritten und Beschäftigungen rückte die Feierabendstunde heran, und Kate enteilte, ermattet und entmutigt von den Vorgängen des Tages, dem engen Raume des Arbeitszimmers, um mit ihrer Mutter, die an der Straßenecke auf sie wartete, nach Hause zu gehen. Ein schmerzlicher Abendgang, denn sie mußte ihre wahren Empfindungen verbergen und sich stellen, als teile sie alle die sanguinischen Träume ihrer Mutter.
»Mein liebes Kätchen«, plauderte Mrs. Nickleby redselig drauflos, »ich habe den ganzen Tag darüber nachgedacht, wie herrlich es wäre, wenn Madame Mantalini dich mit in Kompanie nähme. Und wie leicht wäre das möglich! Die Schwägerin eines Vetters deines armen Vaters, eine Miss Browndock, ging in Kompanie mit einer Dame, die ein Erziehungsinstitut in Hammersmith hatte, und machte in ganz kurzer Zeit ihr Glück. Ich weiß nicht mehr genau, ob diese Miss Browndock dieselbe war, die zehntausend Pfund in der Lotterie gewann, aber ich glaube beinahe nein. Halt, ich kann mich jetzt wieder ganz genau entsinnen, daß sie es doch war – Mantalini & Nickleby, wie gut das klingen würde! Und wenn Nikolas nur ein wenig Glück hat, so kann er noch als Doktor Nickleby Rektor der Westminsterschule, mit dir in derselben Straße wohnen.«
»Der liebe, gute Nikolas«, rief Kate und nahm den Brief ihres Bruders, den dieser zuletzt aus Dotheboys Hall geschrieben hatte, aus ihrem Strickbeutel. »Wie glücklich können wir nicht trotz all unserem Mißgeschick sein, Mama, wo wir hören, daß es ihm so gut geht, und aus seinem Brief entnehmen, daß er heiter und glücklich ist. Ach, wie tröstet mich das für alles!«
Arme Kate, sie ahnte nicht, auf wie schwachen Füßen dieser Trost stand und wie bald sie enttäuscht werden sollte.
18. Kapitel: Miss Knag faßt, nachdem sie drei ganze Tage in Kate Nickleby förmlich vernarrt gewesen, den Entschluß, sie für immer zu hassen
»Wirklich, Madame Mantalini«, lobte Miss Knag, als Kate am ersten Abend ihres Noviziats nach Hause gegangen war, »ich muß sagen, diese Miss Nickleby ist eine vorzügliche junge Person. In der Tat, eine ganz vorzügliche junge Person, hem, auf mein Wort, Madame Mantalini. Es macht Ihrem Scharfblick wieder einmal die größte Ehre, daß Sie ein so ausgezeichnetes, anständiges, hem, und bescheidenes junges Mädchen zur Mithilfe beim Anprobieren ausgewählt haben. Mir ist schon so manches junge Frauenzimmer untergekommen, das, wenn es Gelegenheit hatte, sich vor vornehmeren Leuten zu zeigen, sich auf eine Weise benahm – hem. Aber Sie treffen es doch immer, Madame Mantalini, ja, jedesmal, und ich sage den jungen Mädchen stets, ich kann es nicht begreifen, wie Sie es eigentlich anfangen, bei allem eine so glückliche Hand zu haben, wo doch andere Leute so oft daneben greifen.«
»Ich habe aber nicht bemerkt, daß Miss Nickleby heute etwas Besonderes geleistet hätte, außer höchstens, daß sie zwei meiner besten Kunden in üble Laune versetzt hat«, entgegnete Madame Mantalini.
»Du mein Gott«, seufzte Miss Knag, »Sie wissen ja, man muß der Unerfahrenheit viel nachsehen.«
»Und der Jugend.«
»Oh, das wollte ich nicht sagen, Madame Mantalini«, versetzte Miss Knag errötend. »Wenn Jugend ein Entschuldigungsgrund wäre, so würden Sie keine –«
»So gute Aufseherin haben, wie es der Fall ist, denken Sie«, ergänzte Madame Mantalini.
»Madame Mantalini«, erwiderte Miss Knag geschmeichelt, »wahrhaftig, Sie lesen einem die Gedanken ab, ehe man sie noch über die Lippen gebracht hat. – Köstlich – ha, ha, ha.«
»Was mich betrifft«, bemerkte Madame Mantalini, nur mit größter Mühe das Lachen verbeißend, »so habe ich noch nie ein ungeschickteres Mädchen gesehen als Miss Nickleby.«
»Das arme Ding«, entschuldigte Miss Knag gutmütig, »sie kann nichts dafür. So etwas ist angeboren, wie der Mann von dem blinden Pferde sagte. Wir müssen eben Nachsicht haben.«
»Und ihr Onkel sagte mir, sie sei hübsch. – Ich finde, sie ist eines der unbedeutendsten Mädchen, das mir je vorgekommen ist.«
»Unbedeutend!« rief Miss Knag mit vor Wonne strahlendem Gesicht. »Und ungeschickt! – Aber trotzdem, sehen Sie, Madame, bin ich ganz vernarrt in das arme Ding. Und sähe sie noch zweimal so unbedeutend aus, und wäre sie noch viel ungeschickter, als sie ist, so könnte ich mir doch nicht helfen. Hem. Ja, ja, gewiß und wahrhaftig.«
Miss Knag hatte bereits eine aufkeimende Zuneigung zu Kate Nickleby gefaßt, als sie Zeuge ihres mißlungenen Auftretens am Morgen gewesen, und die eben erwähnte kurze Unterhaltung mit ihrer Brotherrin erhöhte ihre gute Meinung von dem Mädchen außerordentlich, was um so merkwürdiger war, als ihr bei der ersten Musterung von Kates Gesicht und Figur manche böse Ahnungen aufgestiegen waren, als ob sie nicht am besten miteinander auskommen würden.
»Aber jetzt«, sagte sich Miss Knag und betrachtete sich im Spiegel, »jetzt liebe ich sie wie eine Freundin.«
Und dieses Gefühl war so überquellend und uneigennützig, daß die gutherzige Miss Knag schon am nächsten Tage Kate Nickleby unverhohlen erklärte, sie würde nie für das Geschäft passen, brauche sich aber darüber nicht im mindesten zu grämen, denn sie (Miss Knag) wolle durch vermehrte Anstrengungen so viel wie möglich die Aufmerksamkeit von ihr ablenken, so daß sie weiter nichts zu tun habe, als sich ruhig zu verhalten, wenn Kundinnen da wären, damit ihre Ungeschicklichkeit weniger ins Auge falle. Dieser Vorschlag, im Hintergrund zu bleiben, stand viel zu sehr im Einklang mit den Gefühlen und Wünschen des schüchternen jungen Mädchens, als daß es nicht ohne Bedenken versprochen hätte, dem Rat der selbstlosen alten Jungfer aufs strikteste nachzukommen, ohne auch nur einen Augenblick die Gründe, denen er entsprang, zu ahnen.
»Auf mein Wort, ich hege die wärmste Teilnahme für Sie, meine Liebe«, versicherte Miss Knag. »Eine so schwesterliche Teilnahme, daß ich es mir rein nicht zu erklären vermag.«
Es war allerdings etwas unerklärlich, daß bei dem großen Altersunterschied noch schwesterliche Sympathien rege wurden, aber Miss Knag kleidete sich nicht nur sehr jugendlich, sondern fühlte offenbar auch so.
»Mein Gott«, lachte sie und gab am Feierabend des zweiten Tages Kate einen Kuß, »wie entsetzlich ungeschickt sind Sie wieder heute den ganzen Tag über gewesen.«
»Ich fürchte, Ihre offene und wohlwollende Mitteilung hinsichtlich meiner Mängel hat mich womöglich nur noch befangener gemacht«, seufzte Kate.
»Das scheint allerdings so«, versetzte Miss Knag, ungewöhnlich gut gelaunt, »aber es ist viel besser für Sie, daß ich es Ihnen gleich am Anfang gesagt habe. Sie können sich jetzt mit mehr Ruhe vervollkommnen. – Apropos, welchen Weg gehen Sie, meine Liebe?«
»Nach der City.«
»Nach der City?« rief Miss Knag und band sich mit großer Selbstgefälligkeit den Hut vor dem Spiegel. »Himmel, Sie wohnen wirklich in der City?«
»Ist es denn etwas so Ungewöhnliches, dort zu wohnen?« fragte Kate lächelnd.
»Ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß ein junges Mädchen unter solchen Umständen auch nur drei Tage dort leben könnte.«
»Zurückgekommene – ich wollte sagen verarmte Leute«, verbesserte sich Kate rasch, um nicht hochmütig zu erscheinen, »müssen eben mit allem vorliebnehmen.«
»Ach, sehr wahr, das müssen sie«, entgegnete Miss Knag mit jener Art von halbem Seufzer, die in Verbindung mit einigen nickenden Bewegungen des Kopfes als das Kleingeld des Mitleids gilt. »Ich sagte das auch immer meinem Bruder, wenn unsere Dienstmädchen eines nach dem anderen krank entlassen werden mußten und er die Schuld auf die feuchte Kammer schob. Die Klasse Menschen, sagte ich ihm, sind froh, wenn sie überhaupt irgendwo schlafen können. Gott gibt die Bürde nach den Schultern; und ist's nicht recht gut, daß es so ist?«
»Freilich«, murmelte Kate und wandte ihr Gesicht ab.
»Ich will Sie eine Strecke weit begleiten, meine Liebe«, erbot sich Miss Knag. »Sie kommen ziemlich nahe an unserm Hause vorbei, und da es schon recht dunkel ist und unser letztes Mädchen vor einer Woche wegen Rotlaufs im Gesicht ins Spital mußte, kommt es mir recht gelegen, eine Begleitung zu haben.«
Kate hätte sich natürlich dieser Ehre gerne entschlagen, aber Miss Knag nahm, nachdem sie endlich ihren Hut zu ihrer völligen Zufriedenheit aufgesetzt, ihren Arm mit solcher Gönnermiene, daß sich nicht gut ein Wort dagegen sagen ließ.
»Ich fürchte«, stotterte Kate, »daß Mama – ich meine meine Mutter – auf mich wartet.«
»Sie brauchen sich ihretwegen nicht im geringsten zu entschuldigen, meine Liebe«, sagte Miss Knag mit süßem Lächeln, »ich bin überzeugt, daß sie eine achtbare alte Frau ist, und es wird mich sehr – hem – sehr freuen, sie kennenzulernen.«
Da wirklich Mrs. Nickleby, übrigens am ganzen Leibe fröstelnd, an der Straßenecke stand, blieb Kate keine andere Wahl, als sie Miss Knag vorzustellen, die sich dabei, die letzte in einer Equipage vorgefahrene Kundin nachahmend, mit herablassender Höflichkeit benahm. Alle drei gingen dann Arm in Arm weiter, Miss Knag, ungemein leutselig, in der Mitte.
»Sie können sich keinen Begriff davon machen, Mrs. Nickleby, wie lieb ich Ihre Tochter gewonnen habe«, fing sie nach einer Weile würdevollen Schweigens an.
»Es freut mich ungemein, das zu hören«, versetzte Mrs. Nickleby, »obschon es mir nichts Neues ist, daß selbst wildfremde Leute Kate liebgewinnen.«
»Hem«, räusperte sich Miss Knag.
»Sie werden sie übrigens noch mehr ins Herz schließen, wenn Sie erst sehen werden, wie seelengut sie ist. Es ist mir wirklich ein Trost in meinem Unglück, daß ich ein Kind habe, das weder Hochmut noch Eitelkeit kennt, obgleich es eine Erziehung genossen hat, die wohl ein bißchen von dem einen oder anderen rechtfertigen würde. – Ach, Sie wissen nicht, was es heißt, einen Mann zu verlieren, Miss!«
Da Miss Knag nicht wußte, was es heißt, einen Mann bekommen, konnte sie das natürlich schon gar nicht wissen. Sie verneinte daher mit einiger Hast und schnitt dazu ein Gesicht, als verabscheue sie das eheliche Leben aus Herzensgrund.
»Ich zweifle nicht, daß Kate schon in dieser kurzen Zeit ordentliche Fortschritte gemacht hat«, fuhr Mrs. Nickleby mit einem stolzen Blick auf ihre Tochter fort.
»Oh, natürlich«, sagte Miss Knag.
»Und sie wird sich von Tag zu Tag noch weiter vervollkommnen.«
»Selbstverständlich«, entgegnete Miss Knag und drückte Kates Arm, damit der Witz nicht verlorengehe.
»Sie war schon als kleines Kind auffallend anstellig«, fuhr die ahnungslose Mrs. Nickleby mit leuchtenden Augen fort, »ich erinnere mich, daß, als sie erst zweieinhalb Jahr alt war, ein Herr, der viel in unser Haus kam – Mr. Watkins, du erinnerst dich doch, Kate? Derselbe, für den dein armer Vater Bürgschaft leistete und der dann heimlich nach den Vereinigten Staaten fliehen mußte und uns von dort ein Paar Schneeschuhe schickte und einen so rührenden Brief schrieb, daß dein armer seliger Vater eine ganze Woche darüber weinen mußte. Du weißt doch noch? Er schrieb darin, daß es ihm sehr leid tue; die fünfzig Pfund vorderhand nicht zurückzahlen zu können, da seine Kapitalien auf feste Zinsen angelegt seien. Er arbeite Hals über Kopf, um sein Glück zu machen, hätte aber trotzdem nicht vergessen, daß du sein Patchen wärest, und er würde es sehr übelnehmen, wenn wir dir nicht ein silbergefaßtes Korallenhalsband kauften und es mit auf seine alte Rechnung schrieben. Wie, du erinnerst dich wirklich nicht mehr? Ach, wie vergeßlich du doch bist. Und er lobte noch den alten Portwein so überschwenglich, von dem er jedesmal, sooft er kam, anderthalb Flaschen bei uns zu trinken pflegte. Ach, du mußt dich noch erinnern, Kätchen!«
»Ja, ja, Mama, und was ist's mit ihm?«
»Nun, dieser Mr. Watkins, meine Liebe«, fuhr Mrs. Nickleby nachdenklich fort, »dieser Mr. Watkins – Sie dürfen nicht glauben, Miss Knag, daß er etwa ein Verwandter des Watkins war, dem das Wirtshaus zum ›Alten Wildschwein‹ im Dorfe gehörte –, doch ich weiß jetzt nicht mehr genau, ob es das ›Alte Wildschwein‹ oder ›Georg der Vierte‹ war, jedenfalls war es eins von den beiden; dieser Mr. Watkins also sagte, als du dritthalb Jahre alt warst, du seist ein solches Wunderkind, wie ihm noch nie eins im Leben vorgekommen wäre. – Ja, das sagte er, Miss Knag, obschon er sonst nichts weniger als ein Kinderfreund war und auch nicht den mindesten Grund haben konnte, zu schmeicheln. Ich weiß jetzt ganz bestimmt, daß es Mr. Watkins war, der dies sagte, denn ich erinnere mich noch so gut, als ob es erst gestern gewesen wäre, daß er unmittelbar darauf zwanzig Pfund von meinem armen Manne borgte.«
Nachdem Mrs. Nickleby dieses außerordentliche und höchst uneigennützige Zeugnis für die Vorzüge ihrer Tochter angeführt hatte, hielt sie inne, um Atem zu schöpfen, und Miss Knag benützte die Pause, ihrerseits mit einer kleinen Familienreminiszenz einzufallen.
»Ach, sprechen Sie mir nicht vom Geldausborgen, Mrs. Nickleby«, fiel sie zungengeläufig ein, »oder Sie treiben mich zur Verzweiflung. Ja – hem – vollkommen zur Verzweiflung. Meine Mama, hem, war das liebenswürdigste und schönste Geschöpf der Welt, mit der auffallendsten und vollkommensten, hem, der allervollkommensten Nase, die man, glaube ich, je in einem menschlichen Gesicht gesehen hat, Mrs. Nickleby. Die angenehmste und vollendetste Frau, die je gelebt hat, aber sie hatte den einzigen Fehler, Geld zu verborgen. Hem – Tausende von Pfunden, unser ganzes kleines Vermögen und noch mehr. Ich glaube, wir werden keinen Penny zurückerhalten, und wenn wir – hem – so alt würden – hem – wie Methusalem.«
So gingen die beiden Damen plaudernd und in vollkommenster Eintracht nebeneinander her, und der einzige Unterschied zwischen ihrer Unterhaltung bestand darin, daß Miss Knag sich gewöhnlich an Kate wendete und ungewöhnlich laut sprach, während Mrs. Nickleby monoton daherschwätzte, froh, überhaupt sprechen zu können, ohne sich sonderlich darum zu kümmern, ob ihr jemand zuhörte oder nicht.
Sie erreichten endlich Miss Knags und ihres Bruders Wohnung, der mit buntem Papier handelte und in einem Nebengäßchen der St.-Giles-Street eine kleine Leihbibliothek hielt. Miss Knag war gerade mitten in einer Erzählung ihres zweiundzwanzigsten Heiratsantrags und bestand daher darauf, daß Kate und ihre Mutter mir ihr zu Nacht essen sollten.
»Du brauchst nicht fortzulaufen, Mortimer«, sagte sie, als sie mit ihren Gästen eintrat, »es ist nur eines von unseren jungen Mädchen und ihre Mutter, Miss und Mrs. Nickleby.«
»Ach so«, entgegnete Mr. Mortimer Knag gedankenvoll und tiefsinnig.
Dann schneuzte er bedächtig die zwei Küchenkerzen auf dem Ladentisch, stellte zwei weitere an das Fenster und nahm eine Prise.
Es lag etwas so Eindruckstiefes in der gespenstigen Weise, in der alles dies getan wurde; und da Mr. Knag, ein hoher hagerer Herr mit ernsten Zügen, überdies eine Brille trug und weit weniger Haar hatte, als ein Mann um die vierzig zu haben pflegt, so flüsterte Mrs. Nickleby ihrer Tochter zu, er müsse wahrscheinlich ein großer Gelehrter sein.
»Zehn vorbei«, brummte Mr. Mortimer Knag, seine Uhr zu Rate ziehend, »Thomas, schließe das Magazin!«
Thomas war ein Knabe, beinahe halb so groß wie ein Fensterladen, und das Magazin ein Gelaß, ungefähr dreimal so groß wie eine Mietskutsche.
»Ah«, seufzte Mr. Knag wieder und stellte das Buch, in dem er gelesen, an seinem Platz zurück. – »Nun, ja, ich glaube, das Nachtessen ist fertig, liebe Schwester.«
Dann nahm er, abermals mit einem tiefen Seufzer, die Küchenkerzen vom Ladentisch und führte die Damen im Trauerschritt nach einem Hinterzimmer, wo eine Zugeherin als Ersatz für das kranke Dienstmädchen den Dienst versah und das Nachtessen auf den Tisch stellte.
»Mrs. Blockson!« sagte Miss Knag vorwurfsvoll. »Wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, Sie sollen nicht mit der Haube auf dem Kopf ins Zimmer kommen.«
»I kann mir net helfen, Fräul'n«, murrte die Zugeherin. »Man kann so in dem Haus nix recht machen. Wann's Ihna net paßt, segn S' Ihna nach jemand anders um. – Für dös bißl Kleingeld! Aufhänga kunnt mer sich.«
»Ich brauche Ihre Bemerkungen nicht!« verwies Miss Knag mit starkem Nachdruck. »Ist Feuer unter, daß man schnell heißes Wasser haben kann?«
»Na, 's is keins drunten«, brummte die Zugeherin, »damit S' es nur glei wissen.«
»Warum nicht?«
»Weil man kane Kohlen raustan hat. Wann i Kohlen machen könnt, möcht i's machen, aber aso laß i's bleiben.«
»Werden Sie nicht endlich das Maul halten, Weibsbild?« unterbrach Mr. Mortimer Knag diesen Dialog etwas ungestüm.
»Mit Erlaubnis«, fuhr die Zugeherin auf, »i bin eh froh, wann i nix z'reden brauch. Und mit Respekt zu vermelden, wann i a Weibsbild bin, was san denn nacher Sie?«
»Ein elender beklagenswerter Mensch«, rief Mr. Knag und schlug sich vor die Stirne. »Ein elender beklagenswerter Mensch!«
»Freut mich, daß S' Ihna beim rechten Namen nennen«, fuhr Mrs. Blockson fort, »und da i erst vorgestern vor sieben Wochen Zwilling g'habt hab' und mei klaner Bua g'fallen is und sich den Ellenbogen verstaucht hat, so tun S' mir den Gefallen und schicken S' mir meine neun Schillinge Wochenlohn ins Haus, eh's morgen zehne schlagt.«
So sich huldvoll verabschiedend, verließ die gute Frau mit sehr unbefangener Miene das Zimmer und ließ dabei die Türe weit offen stehen, während Mr. Knag in sein Magazin stürzte und laut aufstöhnte.
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