Charles Dickens
David Copperfield
Vollständige Fassung in zwei Bänden
Charles Dickens
David Copperfield
Vollständige Fassung in zwei Bänden
(The Personal History, Adventures, Experience & Observation of David Copperfield, the Younger)
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2020
Übersetzung: Gustav Meyer
EV: Albert Langen Verlag, München, 1910
1. Auflage, ISBN 978-3-954183-50-0
www.null-papier.de/dickens
null-papier.de/katalog
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Autor und Werk
Band 1
1. Kapitel – Ich komme zur Welt
2. Kapitel – Ich beobachte
3. Kapitel – Eine Veränderung
4. Kapitel – Ich falle in Ungnade
5. Kapitel – Man schickt mich fort
6. Kapitel – Ich erweitere den Kreis meiner Bekanntschaft
7. Kapitel – Mein erstes Semester in Salemhaus
8. Kapitel – Meine Ferien – Ein glücklicher Nachmittag
9. Kapitel – Ein denkwürdiger Geburtstag
10. Kapitel – Ich werde vernachlässigt, und man – bringt mich unter
11. Kapitel – Ich beginne ein Leben auf eigne Faust und finde keinen Gefallen daran
12. Kapitel – Da mir das Leben auf eigne Faust nicht gefällt, fasse ich einen großen Entschluss
13. Kapitel – Die Folgen meines Entschlusses
14. Kapitel – Meine Tante kommt zu einem Entschluss über mich
15. Kapitel – Ich fange wieder von vorn an
16. Kapitel – In mehr als einer Hinsicht bin ich ein Neuling in der Schule
17. Kapitel – Ein Mann taucht auf
18. Kapitel – Ein Rückblick
19. Kapitel – Ich halte die Augen offen und mache eine Entdeckung
20. Kapitel – Bei Steerforth
21. Kapitel – Die kleine Emly
22. Kapitel – Alte Umgebungen und neue Menschen
23. Kapitel – Ich sehe, dass Mr. Dick recht hatte, und wähle einen Beruf
24. Kapitel – Meine erste Ausschweifung
25. Kapitel – Gute und böse Engel
26. Kapitel – Ich gerate in Gefangenschaft
27. Kapitel – Tommy Traddles
28. Kapitel – Mr. Micawber wirft seinen Fehdehandschuh hin
29. Kapitel – Mein zweiter Besuch in Steerforths Haus
30. Kapitel – Ein Verlust
31. Kapitel – Ein noch größerer Verlust
Band 2
32. Kapitel – Der Anfang einer langen Reise
33. Kapitel – Wonne
34. Kapitel – Eine große Überraschung
35. Kapitel – Niedergeschlagenheit
36. Kapitel – Enthusiasmus
37. Kapitel – Eine kalte Dusche
38. Kapitel – Eine Trennung
39. Kapitel – Wickfield und Heep
40. Kapitel – Der Wanderer
41. Kapitel – Doras Tanten
42. Kapitel – Unheil
43. Kapitel – Wieder ein Rückblick
44. Kapitel – Unser Haushalt
45. Kapitel – Mr. Dick erfüllt die Prophezeiung meiner Tante
46. Kapitel – Nachricht
47. Kapitel – Marta
48. Kapitel – Häusliches
49. Kapitel – Ein Geheimnis hält mich in Atem
50. Kapitel – Mr. Peggottys Traum geht in Erfüllung
51. Kapitel – Der Anfang einer langen Reise
52. Kapitel – Ich wohne einer Explosion bei
53. Kapitel – Wieder ein Rückblick
54. Kapitel – Mr. Micawbers Geschäfte
55. Kapitel – Sturm
56. Kapitel – Die neue Wunde und die alte
57. Kapitel – Die Auswanderer
58. Kapitel – Unterwegs
59. Kapitel – Rückkehr
60. Kapitel – Agnes
61. Kapitel – Zwei interessante Reuige werden vorgeführt
62. Kapitel – Ein Lichtstrahl fällt auf meinen Weg
63. Kapitel – Ein Besuch
64. Kapitel – Ein letzter Rückblick
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Jürgen Schulze
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»David Copperfield« ist einer der bekanntesten Bildungsromane überhaupt. Viele Elemente der Geschichte folgen Ereignissen aus Dickens’ eigenem Leben, »David Copperfield« gilt daher als der am stärksten autobiografisch geprägte Roman seines Gesamtwerkes. Dickens selbst bezeichnete »David Copperfield« als seine Lieblingsgeschichte.
Erzählt wird die Lebensgeschichte von David Copperfield. Man erfährt von seinem Werdegang und langsamem Erwachsenwerden. Nach dem frühen Tod der Eltern wächst David bei seinem brutalen Stiefvater auf, schon mit 10 Jahren wird er zum Arbeiten in die Fabrik geschickt (auch hier Parallelen zu Dickens’ Leben). Er flieht, um den unerträglichen Bedingungen zu entkommen.
Die Erzählung lebt von den zahlreichen (berühmt gewordenen) Figuren, die seinen Weg kreuzen, ihn eine Zeit lang begleiten, verschwinden und wieder auftauchen.
In bekannter Dickens-Manier – mit viel Witz in den Nebensätzen – bekommen die Hauptfiguren schließlich, was sie verdienen. Nur wenige Erzählfäden bleiben unaufgelöst. In diesen Zeilen zeigt sich Dickens’ großartiges Können um die Schilderung von Erlebnissen und Gefühlen der Kindheit.
Wie die meisten Werke Dickens’ wurde auch »David Copperfield« zunächst als mehrteilige, monatliche Fortsetzungsgeschichte verfasst und später vom Autor überarbeitet.
Dickens ist der trotz aller gelegentlichen Rührsamkeit königlichste englische Erzähler mit seinem gütigen Herzen und seiner prachtvollen Laune, von ihm müssen wir mindestens die Pichwickier und den Copperfield haben. [Quelle: Bibliothek der Weltliteratur]
Charles John Huffam Dickens (als Pseudonym auch Boz; geb. 7. Februar 1812 in Landport bei Portsmouth, England; gest. 9. Juni 1870 auf Gad’s Hill Place bei Rochester, England) ist ein englischer Schriftsteller und Journalist.
Er gilt als einer der herausragendsten Autoren seiner Zeit und als einer der Ersten, die in realistischen Schilderungen das Leid einer unterprivilegierten Bevölkerung aufzeichneten.
Zu seinen bekanntesten Werken gehören »Oliver Twist«, »David Copperfield«, »Eine Geschichte aus zwei Städten«, »Große Erwartungen« sowie »Eine Weihnachtsgeschichte«. Dickens verwendet einen blumigen und poetischen Stil, der viele humoristische Elemente besitzt. Besonders seine Seitenhiebe auf die Britische Aristokratie sind weit verbreitet und beliebt.
Dickens ist das Zweite von acht Kindern von John Dickens (1786–1851), einem mittellosen Marineschreiber. 1823 kann der Vater die hungrige Familie nicht mehr ernähren und kommt ins Schuldgefängnis von London. Eine Tragödie, die den Jungen Charles Dickens fürs Leben prägt - nicht umsonst kritisiert er in seinen Schriften den ungerechten Umgang mit schuldlos Verschuldeten. Charles muss schon mit 12 Jahren als Lager- und Fabrikarbeiter seine Familie unterstützen; auch diese Erfahrung fließt in sein Werk um »David Copperfield« ein.
Als sein Vater 1824 aus dem Gefängnis entlassen wird, geht Charles bis 1826 zurück in die Schule und wird 1827 als Schreiber bei einem Rechtsanwalt angestellt. Er arbeitet sich bis zum Parlamentsstenografen hoch (1929).
1836 heiratet Dickens Catherine Hogarth (1816–1879), von der er sich 1858 trennt. Das Ehepaar hat zehn Kinder.
Ab 1831 verdient Dickens seinen Lebensunterhalt als Journalist für verschiedene Zeitungen. 1836–37 erscheinen in monatlichen Heften die »Pickwick Papers«, durch die Dickens rasch Bekanntheit als Schriftsteller erlangt. Ebenso seine folgenden Romane entstehen als Fortsetzungsgeschichten in Zeitungen. Oft schreibt er an mehreren gleichzeitig.
Aber Dickens will nicht nur literarischen Erfolg, sondern auch auf gesellschaftliche Missstände hinweisen und den Weg für soziale Reformen ebnen. 1838 erscheint »Oliver Twist« und Dickens wird Herausgeber der liberalen Tageszeitung »Daily News«.
Auf einer erfolgreichen Lesereise in die Vereinigten Staaten bringt Dickens, der unter nicht autorisierten Veröffentlichungen auf dem amerikanischen Kontinent leidet, die Idee eines weltweiten Urheberrechtes auf, aber erntet dafür keine Unterstützung.
1843 veröffentlicht Dickens seine bekannte »Weihnachtsgeschichte«, in der er eine fantastische Handlung mit der moralischen Idee von Solidarität und Nächstenliebe verknüpft.
1856 erlauben ihm seine Einkünfte, den Landsitz Gad‘s Hill Place in Rochester zu erwerben. Am 9. Juni 1865 überlebt Dickens den schweren Eisenbahnunfall von Staplehurst. Diesen übersteht er körperlich unversehrt, wird aber zeitlebens an den Erinnerungen leiden.
1869 macht er eine letzte Lesereise durch Großbritannien, auf der er während einer Lesung einen Schlaganfall erleidet. Am 9. Juni 1870 stirbt Charles Dickens auf seinem Landsitz an einem zweiten Schlaganfall. Er wird am 14. Juni in der Westminster Abbey beigesetzt.
Dickens ist einer der meistgelesenen Schriftsteller der englischen Literatur. Der als Kind Mittelose hinterlässt bei seinem Tode ein stattliches Vermögen.
Charles Dickens bei Null Papier:
Ob ich mich in diesem Buche zum Helden meiner eignen Leidensgeschichte entwickeln werde oder ob jemand anders diese Stelle ausfüllen soll, wird sich zeigen.
Um mit dem Beginn meines Lebens anzufangen, bemerke ich, dass ich, wie man mir mitgeteilt hat und wie ich auch glaube, an einem Freitag um Mitternacht zur Welt kam. Es heißt, dass die Uhr zu schlagen begann, gerade als ich zu schreien anfing.
Was den Tag und die Stunde meiner Geburt betrifft, so behaupteten die Kindsfrau und einige weise Frauen in der Nachbarschaft, die schon Monate zuvor, ehe wir noch einander persönlich vorgestellt werden konnten, eine lebhafte Teilnahme für mich gezeigt hatten…
erstens: Dass es mir vorausbestimmt sei, nie im Leben Glück zu haben, und
zweitens: Dass ich die Gabe besitzen würde, Geister und Gespenster sehen zu können. Wie sie glaubten, hingen diese beiden Eigenschaften unvermeidlich all den unglücklichen Kindern beiderlei Geschlechts an, die in der Mitternachtsstunde eines Freitags geboren sind.
Über den ersten Punkt brauche ich nichts weiter zu sagen, weil ja meine Geschichte am besten zeigen wird, ob er eingetroffen ist oder nicht.
Was den zweiten anbelangt, will ich nur feststellen, dass ich bisher noch nichts bemerkt habe. – Vielleicht habe ich schon als ganz kleines Kind diesen Teil meiner Erbschaft angetreten und aufgebraucht. Ich beklage mich auch durchaus nicht, falls mir diese schöne Gabe vorenthalten bleiben sollte. Und wenn sich irgendjemand anders ihrer vielleicht bemächtigt hat, mag er sie in Gottesnamen behalten.
Ich kam in einem Hautnetz zur Welt, das später um den niedrigen Preis von fünfzehn Guineen in den Zeitungen zum Verkauf ausgeschrieben wurde. Ob damals die Seereisenden gerade knapp bei Kasse waren oder schwach im Glauben und daher Korkjacken vorzogen, weiß ich nicht; ich weiß bloß so viel, dass nur ein einziges Angebot einlief, und zwar von einem Anwalt, der zugleich Wechselagent war und zwei Pfund bar und den Rest in Sherry geben wollte und es entschieden ablehnte, um einen höhern Preis diese Garantie gegen das Ertrinken zu erwerben. Die Annonce wurde zurückgezogen – denn was Sherry anbelangte, so wurde meiner armen lieben Mutter eigner Sherry gerade damals versteigert.
Das Hautnetz wurde zehn Jahre später in unserer Gegend in einer Lotterie unter fünfzig Personen ausgeknobelt; je fünfzig Bewerber zahlten eine halbe Krone per Kopf, und der Gewinner hatte noch fünf Schillinge daraufzulegen. Ich selbst war gegenwärtig und erinnere mich, wie unbehaglich und verlegen mir zu Mute war, als ein Teil meines eignen Selbsts auf diese Weise veräußert wurde. Ich weiß noch, dass eine alte Dame mit einem Handkorb das Netz gewann und die ausgemachten fünf Schillinge in lauter Halfpennystücken zögernd herausholte.
Es fehlten damals noch zwei und ein halber Penny, was man ihr nur mit einem großen Aufwand an Zeit und Arithmetik begreiflich machen konnte. Tatsache ist, dass die alte Dame wirklich nie ertrank, sondern triumphierend im Bette starb; zweiundneunzig Jahre alt.
Ich ließ mir erzählen, dass sie sich bis an ihr Ende außerordentlich damit brüstete, in ihrem ganzen Leben niemals auf dem Wasser gewesen zu sein, höchstens auf einer Brücke, und dass sie bei ihrem Tee, dem sie sehr zugetan war, stets ihre Entrüstung über die Gottlosigkeit der Seeleute aussprach, die sich auf dem Meere »herumtrieben«.
Es war vergebens, ihr vorzustellen, wie viele Annehmlichkeiten wir, den Tee zum Beispiel mit inbegriffen, dieser Unsitte verdanken. Stets erwiderte sie mit noch größerm Nachdruck und mit instinktivem Bewusstsein von der Gewalt ihres Einwandes: »Man hat sich trotzdem nicht herumzutreiben.«
Um mich aber nicht selbst herumzutreiben und abzuschweifen, will ich wieder zu meiner Geburt zurückkehren.
Ich erblickte in Blunderstone in Suffolk oder daherum, wie man in Schottland sagt, das Licht der Welt. Ich bin ein nachgebornes Kind. Meines Vaters Augen schlossen sich sechs Monate früher, als die meinigen sich öffneten.
Es liegt etwas Seltsames für mich in dem Gedanken, dass mein Vater mich niemals gesehen hat, und noch Seltsameres in der schattenhaften Erinnerung aus meiner ersten Kinderzeit an den weißen Grabstein auf dem Kirchhof. Ich empfand unsäglichen Kummer, dass er dort draußen allein liegen musste in der dunklen Nacht, während unser kleines Wohnzimmer warm und hell war von Feuer und Licht und das Tor unseres Hauses – fast grausam kam es mir manchmal vor – für ihn verriegelt und verschlossen.
Eine Tante meines Vaters, folglich eine Großtante von mir, von der ich bald mehr zu erzählen haben werde, galt als die angesehenste Person in unserer Familie. Miss Trotwood oder Miss Betsey, wie meine arme Mutter sie immer nannte, wenn sie ihre Angst vor dieser schrecklichen Persönlichkeit so weit überwand, sie überhaupt zu erwähnen, war verheiratet gewesen mit einem Manne, der jünger als sie selbst und sehr hübsch war. Allerdings nicht in dem Sinn des Sprichworts, »hübsch ist, wer sich hübsch beträgt«, – denn er stand stark in dem Verdacht, dass er Miss Betsey durchzuprügeln pflegte und einmal sogar wegen einer strittigen Unterstützungsfrage schnelle, aber entschlossene Vorbereitungen getroffen hätte, sie aus einem Fenster im zweiten Stock hinauszuwerfen.
Diese offenkundigen Beweise unverträglicher Gemütsart bewogen schließlich Miss Betsey, ihn mit Geld abzufertigen und eine Scheidung auf gegenseitige Übereinkunft durchzusetzen.
Er ging mit dem Kapital nach Indien und wurde dort nach einer wilden Legende in unserer Familie einmal auf einem Elefanten reiten gesehen in Gesellschaft eines Babu. Es wird wohl ein Pavian gewesen sein – oder eine Begum! Wie dem auch sei, ehe zehn Jahre um waren, kam aus Indien die Kunde von seinem Tod.
Wie meine Tante es aufgenommen hat, weiß niemand. Gleich nach der Scheidung nahm sie ihren Mädchennamen wieder an, kaufte sich ein Häuschen in einem Weiler weit draußen an der Seeküste und lebte dort mit einer einzigen Dienerin in unerbittlicher Zurückgezogenheit.
Mein Vater musste einst ihr Liebling gewesen sein, aber seine Heirat hatte sie tödlich beleidigt, da meine Mutter nach ihrer Ansicht nur eine »Wachspuppe« war. Sie hatte meine Mutter wohl nie gesehen, wusste aber, dass sie sehr jung war – noch nicht zwanzig.
Mein Vater und Miss Betsey sahen einander nie wieder. Er war doppelt so alt als meine Mutter, als er sie heiratete, und von zarter Gesundheit. Ein Jahr darauf starb er; wie ich schon gesagt habe, sechs Monate, ehe ich zur Welt kam.
So lagen die Dinge an jenem, wie ich wohl sagen darf, ereignisvollen und wichtigen Freitag. Ich weiß natürlich über sie nichts aus eigner Anschauung und stütze meine Erinnerungen auch nicht auf eigne Sinneswahrnehmung.
Meine Mutter saß am Feuer, körperlich schwach und geistig sehr niedergedrückt, schaute, die Augen voll Tränen, in das Feuer und sann trübe nach über das Schicksal des vor der Geburt verwaisten Kindes, dessen Ankunft binnen kurzem erwartet wurde, und über ihre eigene Zukunft.
Es war ein heller, windiger Herbstnachmittag, und sie saß betrübt und niedergeschlagen da und von bangen Zweifeln erfüllt, ob sie wohl glücklich die zu erwartende schwere Stunde überstehen werde, als sie, ihre Augen trocknend, aufblickte und durch das gegenüberliegende Fenster eine fremde Dame in den Garten hereinkommen sah.
Beim zweiten Blick hatte meine Mutter schon die sichere Ahnung, dass es Miss Betsey wäre. Die untergehende Sonne schien über den Gartenzaun auf die fremde Dame, und diese schritt auf die Türe zu mit einer so unbeugsamen Strenge in Gesicht und Haltung, dass es niemand anders sein konnte.
Als sie das Haus erreichte, lieferte sie noch einen anderen Beweis ihrer Identität. Mein Vater hatte oft erwähnt, dass sie sich selten wie ein gewöhnlicher Christenmensch benehme; und nun trat sie wirklich, anstatt die Glocke zu ziehen, an das nächste Fenster und drückte ihre Nase mit solcher Energie gegen das Glas, dass diese im Augenblick ganz platt und weiß wurde, wie meine Mutter oft erzählte.
Sie bekam darüber einen solchen Schrecken, dass ich es meiner Überzeugung nach nur Miss Betsey zu danken habe, wenn ich an einem Freitag zur Welt kam.
Meine Mutter war in ihrer Aufregung aufgestanden und hinter den Stuhl in eine Ecke getreten. Miss Betsey sah sich durch die Scheiben langsam und forschend im Zimmer um, wobei sie am anderen Ende der Stube anfing, und wendete automatenhaft wie ein Türkenkopf auf einer Schwarzwälderwanduhr das Gesicht, bis ihre Blicke auf meiner Mutter haften blieben. Dann zog sie die Brauen zusammen und winkte wie jemand, der zu befehlen gewohnt ist, dass man ihr die Türe aufmachen solle. Meine Mutter gehorchte.
»Mrs. David Copperfield vermutlich«, sagte Miss Betsey mit einer Emphase, die sich wahrscheinlich auf die Trauerkleider meiner Mutter und auf ihren Zustand bezog.
»Ja«, antwortete meine Mutter schüchtern.
»Haben Sie schon von Miss Trotwood gehört?« fragte die Dame.
Meine Mutter entgegnete, sie habe das Vergnügen gehabt, hatte aber dabei das unangenehme Gefühl, nicht danach auszusehen, als ob es ein überwältigendes Vergnügen gewesen wäre.
»Jetzt steht sie vor Ihnen«, sagte Miss Betsey. Meine Mutter verbeugte sich und bat die Dame, einzutreten.
Sie gingen in das Wohnzimmer, aus dem meine Mutter gekommen, denn das Besuchzimmer auf der anderen Seite des Ganges war nicht geheizt und nicht geheizt gewesen seit meines Vaters Leichenbegängnis. Als sie beide Platz genommen hatten, Miss Betsey aber nichts sprach, fing meine Mutter, nach einem vergeblichen Bemühen sich zu fassen, zu weinen an.
»O still, still, still!« sagte Miss Betsey hastig. »Nur das nicht. Lass das, lass das!«
Meine Mutter aber konnte sich nicht helfen, und ihre Tränen flossen, bis sie sich ausgeweint hatte.
»Nimm deine Haube ab, Kind«, sagte Miss Betsey, »damit ich dich sehen kann.«
Meine Mutter war viel zu sehr eingeschüchtert, um dieses seltsame Verlangen abzuschlagen, selbst wenn sie gewollt hätte. Daher entsprach sie dem Wunsche und tat es mit so zitternden Händen, dass ihr Haar, das sehr reich und schön war, sich löste und auf ihre Schultern herabfiel.
»Gott bewahre!« rief Miss Betsey, »du bist ja noch ein wahres Wickelkind.«
Allerdings sah meine Mutter selbst für ihre Jahre noch sehr jugendlich aus. Sie ließ den Kopf hängen, als ob es ihre Schuld wäre, und sagte schluchzend, dass sie auch fürchte, sie sei ein wahres Kind von einer Witwe und werde auch ein Kind von einer Mutter sein, wenn sie am Leben bliebe.
In der kurzen Pause, die darauf folgte, kam es ihr fast vor, als ob Miss Betsey ihr Haar berührte, und zwar nicht mit unsanfter Hand; aber wie sie schüchtern hoffend aufblickte, hatte sich die Dame mit aufgeschürztem Kleid bereits hingesetzt, die Hände über ein Knie gefaltet, die Füße auf das Kamingitter gestützt, und starrte grimmig ins Feuer.
»Um Gotteswillen?« fragte Miss Betsey plötzlich. »Warum eigentlich Krähenhorst?«
»Sie meinen das Haus, Madame?«
»Warum Krähenhorst?« fragte Miss Betsey. »Hühnerhof wäre passender gewesen, wenn ihr beide einen Begriff vom praktischen Leben gehabt hättet.«
»Mr. Copperfield hat ihm den Namen gegeben«, erwiderte meine Mutter. »Als er das Haus kaufte, meinte er, es müsste hübsch sein, wenn Krähen darin nisten würden.«
Der Abendwind fegte in diesem Augenblick so gewaltig durch die alten hohen Ulmen im Garten, dass sowohl meine Mutter wie Miss Betsey unwillkürlich hinaussahen. Als sich die Bäume zueinander neigten wie Riesen, die sich Geheimnisse zuflüsterten, und gleich darauf in heftige Bewegung gerieten und mit ihren zackigen Armen wild in der Luft herumfuhren, als ob diese Geheimnisse zu grässlich für ihre Seelenruhe wären, wurden ein paar alte, vom Sturm zerzauste Krähennester auf den höchsten Zweigen wie Wracks auf stürmischer See hin und hergeworfen.
»Wo sind die Vögel?« verhörte Miss Betsey.
»Was?« Meine Mutter hatte an etwas anderes gedacht.
»Die Krähen – wo sie hingekommen sind?«
»Es waren überhaupt nie welche da, seit wir hier gelebt haben«, sagte meine Mutter. »Wir dachten – Mr. Copperfield dachte, es sei ein großer Krähenhorst, aber die Nester waren alt und von den Vögeln längst verlassen.«
»Echt David Copperfield«, rief Miss Betsey. »David Copperfield, wie er leibt und lebt! Nennt das Haus Krähenhorst, wo gar keine Krähe da ist, und nimmt die Vögel auf guten Glauben, weil er die Nester sieht.«
»Mr. Copperfield ist tot«, gab meine Mutter zur Antwort, »und wenn Sie sich unterstehen, unfreundlich über ihn zu sprechen –«
Ich glaube, meine arme, liebe Mutter hatte einen Augenblick die Absicht, sich an der Tante tätlich zu vergreifen. Diese hätte sie wohl leicht mit einer Hand bezwungen, selbst wenn meine Mutter in einer bessern Verfassung für einen solchen Kampf gewesen wäre als an diesem Abend. Aber es blieb bei einem schüchternen Aufstehen. Dann setzte sich meine Mutter wieder schwach nieder und fiel in Ohnmacht.
Als sie wieder zu sich kam, sah sie Miss Betsey am Fenster stehen. Es war mittlerweile ganz dunkel geworden, und so undeutlich sie einander unterschieden, hätten sie doch auch das nicht ohne den Schein des Feuers können.
»Nun?« fragte Miss Betsey und trat wieder zu dem Stuhl, als hätte sie bloß einen Blick aus dem Fenster geworfen, »und wann erwartest du –?«
»Ich zittere am ganzen Leibe«, stammelte meine Mutter. »Ich weiß nicht, was es ist, ich sterbe sicherlich.«
»Nein, nein, nein«, sagte Miss Betsey; »trink eine Tasse Tee!«
»Ach Gott, ach Gott, meinen Sie, dass mir das guttun wird?« rief meine Mutter in hilflosem Tone.
»Selbstverständlich!« sagte Miss Betsey. »Es ist alles bloß Einbildung. Wie heißt denn das Mädchen?«
»Ich weiß doch nicht, ob es ein Mädchen sein wird, Madame«, sagte meine Mutter unschuldsvoll.
»Gott segne dieses Kind!« rief Miss Betsey aus, unbewusst den Sinnspruch auf dem Nadelkissen in der Schublade des oberen Stocks anführend, aber nicht mit Anwendung auf mich, sondern auf meine Mutter. »Das meine ich doch nicht. Ich meine doch das Dienstmädchen.«
»Peggotty«, sagte meine Mutter.
»Peggotty!« wiederholte Miss Betsey entrüstet. »Willst du damit sagen, Kind, dass ein menschliches Geschöpf in eine christliche Kirche gegangen ist und sich hat Peggotty taufen lassen?«
»Es ist ihr Familienname«, sagte meine Mutter schüchtern. »Mr. Copperfield nannte sie so, weil ihr Taufname derselbe ist wie meiner.«
»Heda, Peggotty!« rief Miss Betsey und öffnete die Zimmertür. »Tee! Deine Herrschaft ist ein bisschen unwohl, aber rasch!«
Nachdem sie diesen Befehl so gebieterisch ausgesprochen, als wäre sie von jeher Herrin dieses Hauses, und aus dem Zimmer hinausgespäht hatte, um nach der erstaunten Peggotty zu sehen, die bei dem Klang einer fremden Stimme mit einem Licht den Gang entlangkam, schloss sie die Tür wieder und setzte sich nieder wie zuvor, die Füße am Kamingitter, das Kleid aufgeschürzt und die Hände über ein Knie gefaltet.
»Du meintest, es werde ein Mädchen werden«, sagte Miss Betsey. »Ich zweifle keinen Augenblick daran. Ich habe ein Vorgefühl, dass es ein Mädchen wird. Nun, Kind! Von dem Moment der Geburt dieses Mädchens an –«
»Vielleicht ists ein Knabe«, erlaubte sich meine Mutter, sie zu unterbrechen.
»Ich sagte dir bereits, ich habe das Vorgefühl, dass es ein Mädchen ist«, entgegnete Miss Betsey. »Widersprich mir nicht immer. Also von dem Augenblick der Geburt dieses Mädchens an werde ich seine Freundin sein, Kind. Ich will seine Patin sein, und sie hat Betsey Trotwood-Copperfield zu heißen. Mit dieser Betsey Trotwood-Copperfield soll es im Leben glattgehen. Mit ihren Gefühlen darf nicht gespielt werden. Armes Kleines. Sie muss gut erzogen und in acht genommen werden, dass sie ihr Vertrauen nicht auf törichte Weise jemand schenkt, der es nicht verdient. Das lass meine Sorge sein.«
Bei jedem dieser Sätze zuckte Miss Betsey mit dem Kopf, als ob das erlittene Unrecht vergangener Zeiten in ihr wieder lebendig würde und sie einen deutlicheren Hinweis darauf nur mit Überwindung unterdrückte. So vermutete wenigstens meine Mutter, als sie sie beim schwachen Schimmer des Feuers beobachtete, aber zu sehr von ihrem Wesen erschreckt war und innerlich viel zu unruhig und zu verwirrt, um überhaupt irgendetwas klar beobachten zu können.
»Und war David gut gegen dich, Kind?« fragte Miss Betsey, nachdem sie eine Weile geschwiegen und die Bewegung ihres Kopfs allmählich aufgehört hatte. »Habt ihr euch gut vertragen?«
»Wir waren sehr glücklich«, sagte meine Mutter. »Mr. Copperfield war viel zu gut zu mir.«
»Er hat dich also verzogen?«
»Allein und verlassen zu sein und ohne Stütze in dieser rauen Welt dazustehen«, schluchzte meine Mutter, »dazu hat er mich wohl nicht erzogen.«
»Gut. Weine nicht«, sagte Miss Betsey. »Ihr passtet eben nicht zusammen, Kind, – zwei Menschen können überhaupt nicht zusammenpassen – deshalb fragte ich. Du warst eine Waise, nicht wahr?«
»Ja.«
»Und Gouvernante?«
»Ich war Bonne in einer Familie, die Mr. Copperfield häufig besuchte. Mr. Copperfield war sehr freundlich und aufmerksam gegen mich und machte mir zuletzt einen Heiratsantrag. Und ich sagte ja. Und so wurden wir Mann und Frau«, sagte meine Mutter einfach.