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Carola van Daxx

Jenseits von Oberhessen XXL Leseprobe

Wo Handkäs' jedes Herz erweicht

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Was bisher geschah…

“Schee is’ annerster”

Der Sonne hinterher

Knaddel-Daddel

Wenn’s wieder mal endgültig aus ist

Drauß‘ am Forsthaus

NACHWORT

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ÜBER DIE AUTORIN

Was in Band I (Heiße Fleischwurst mit Kakao) geschah…

Ab Sommer 2018 im Handel:

Impressum neobooks

Was bisher geschah…

Herzlich Willkommen zur XXL-Leseprobe von "Jenseits von Oberhessen"!

Für alle LeserInnen, die den ersten Band „Heiße Fleischwurst mit Kakao“ nicht kennen, befindet sich am Ende des Romans ein kurzer Einblick, um was es in der Vorgeschichte eigentlich ging.

Man kann das lesen, es muss aber nicht zwingend sein.

So, liebe LeserInnen: Jetzt kann’s losgehen!

Viel Vergnügen wünscht Ihnen

Carola van Daxx

“Schee is’ annerster”

Friede, Freude, Eierkuchen – angerichtet an einem Hauch von zartrosa Wattewölkchen. Das wäre die passende Umschreibung für das Gefühlsmenü der beiden Liebenden gewesen. Denn zwischen Lina und Jan, dem eigentlich so ungleichen Paar, war wieder alles im grünen Bereich.

Zumindest die ersten Monate nach der spektakulären Wiedervereinigung am Schottener Stausee waren mehr als der „Siebte Himmel“ gewesen. Silvester 2012 war zum Startschuss für ein neues Liebesglück geworden. Jeder las jeden noch so kleinen Wunsch von den Lippen des jeweils anderen ab. Nahezu magisch war die ganze Szene, ein bisschen wie bei Rosamunde-Pilcher, nur ohne versagende Bremsen oder andere Unannehmlichkeiten, die die Idylle hätten stören können. Eine nimmer enden wollende Harmonie, Schmetterlinge im Bauch als Dauer-Abo.

Kein Abend verging ohne mindestens einen Gute-Nacht-Anruf, wenn Jan wieder einmal unterwegs war – auf Promotion-Tour für seine Bilder oder seinen neuesten Bestseller. Keine Minute wollte er mehr ohne sie sein – und Lina hatte das Gefühl, das müsse auf ewig so weitergehen. Es gab nicht eine einzige Woche, wo er ihr keine Blumen schenkte, und es gab keinen Rosenstrauß ohne einen herzerwärmenden Liebesbrief. So schön hätte sie sich das nicht in ihren kühnsten Träumen ausmalen können. So schön waren nicht mal ihre Kleinmädchenphantasien gewesen. Eigentlich fehlte nur noch, dass er irgendwann einmal im Prinzenkostüm auf einem Schimmel von Linas Kaffeehaus angeritten kam und sie nur noch aufspringen musste…

Doch nicht mal die Romantik kam heutzutage ohne ein Verfallsdatum aus. Und die Ewigkeit hielt auch nicht mehr, was sie doch eigentlich versprechen sollte.

„Alles hat ein Ende, nur die Worscht hat zwei?“, gab Busenfreundin Susi Lustig lapidar dazu zum Besten. Na, die musste es ja wissen, sie war ja schließlich schon mal geschieden. Aber auch das war nun schon wieder Geschichte… Doch abgesehen von persönlichen Weisheiten: Ganz sicher hatte sie über verkorkste Beziehungskisten schon die eine oder andere Reportage gemacht. Die selbst ernannte Fachfrau für Geschlechterfragen…

Aber Lina musste erfahren: Auch Ines und Marie-Anne, die anderen Mädels der eingeschworenen Vierer-Bande, waren nicht gerade pietätvoll mit ihren Kommentaren gewesen, als die ersten dunklen Wolken am Beziehungs-Himmel aufgezogen waren. „Das ist doch ganz normal, niemand kann auf Dauer verliebt sein, kein Mann ist ein Superlover für alle Zeiten, man muss der Realität eben ins Auge sehen…“ – und so weiter und so fort. Sprüche, die jeder kennt – und doch keiner hören will.

So schien es nun, als liefe der bevorstehende Jahreswechsel des On-Off-Paares eher suboptimal, zumindest für den weiblichen Teil dieser Beziehungskiste... Lina Siebenborn.

Denn wieder einmal lag sie allein in ihrem halbleeren Doppelbett. Zwar richtig herum und nicht wieder quer, wie es so ihre Angewohnheit war, wenn sie unbemannt in den Federn lag – aber mutterseelenallein. Denn Jan, der feinsinnige und übersensible Künstler mit hanseatischem Migrationshintergrund hatte erneut überhaupt keine Lust gehabt. Keinerlei Ambitionen, zu nichts. Früher hieß das NULL BOCK, aber unterm Strich kam dasselbe dabei raus: Er wollte einfach nicht zu ihr kommen, nicht runter von seinem mittlerweile über alles geliebten Vogelsberg. Da kam ihm die Wettervorhersage mit Blitzeis und so gerade recht, um auf dem Berg zu bleiben und nicht nach Bad Salzhausen kommen zu müssen. Es wäre ja zu schön gewesen, wenn er sich zur Abwechslung mal in Bewegung gesetzt hätte. Die letzten beiden Jahreswechsel hatten sie noch in trauter Zweisamkeit in Schotten verbracht, wo er seine neue Heimat gefunden hatte. Nach einigen Turbulenzen in ihrem verflixten siebten Jahr – damals war es 2012 – und beinahe wäre sogar die Welt untergegangen, genau am 22. Dezember. Doch nada, niente, nix fand statt! Dieses Finalereignis war wieder mal ausgefallen, auf Prophezeiungen war eben auch kein Verlass mehr. Das hatten diese Vorhersagen mit der Liebe wohl gemeinsam. Nein, der Weltuntergang war nicht gekommen, aber dafür gab es eine kleine Schlammschlacht am Stausee und danach die Versöhnung von Lina und Jan. Ein Happy End wie aus dem Roman…

Und: Was niemand für möglich gehalten hat, am wenigstens wohl Jan Johannsen selbst – oder irgendjemand in seinem näheren Umfeld – war eingetreten: Der vornehme Hanseat hatte sich tatsächlich zum waschechten Oberhessen gemausert. Und bekam nicht mal mehr Durchfall auf Handkäs‘ mit Musik. Dafür babbelte er schon wie die Eingeborenen: „Unn, wie?“ für „Wie geht’s?“ – „Ei Guude!“ für „Guten Tag!“ – „Es geehd de Mensche wie de Leut‘“ für „Da kann man wohl nichts machen!“ – „Obaacht!“ für eine allgemeine Warnung oder „Als druff uff die Klaane!“ für eine Empörung, die vielerlei Ursachen haben konnte.

Unglaublich, wenn das seine vornehme Hamburger Mutti hören würde, sagte sich Lina oft. Die würde glatt zu einem Gefühlsausbruch in Form von einem gekünstelten Schniefer neigen. Dass ihr hochwohlgeborener, feingeistiger Sohnemann aus bester Villa in teuerster Alsterlage sich derart in der oberhessischen Provinz integrieren würde. In dem Fall war die familiäre Stimmungslage vehement gegen Integration! Aber geschickt wie der Herr nun einmal war, benahm er sich im Beisein der Frau Mama immer ganz gediegen und hanseatisch zurückhaltend. Niemals wurde er laut oder gestikulierte wild wie sonst, nein, er war unter den Augen von Gisela Johannsen immer formvollendet und galant. Doch wehe, wenn er wieder die Oberhand hatte in seinem kleinen Fachwerkstädtchen, da fühlte er sich wie der „King von der Altstadt“ – und als hätte er das Erbe von Opa Abbel, dem vormaligen Hausbesitzer, bis ins letzte Detail angetreten, saß er von O – O (Ostern bis Oktober, wie beim Reifenwechsel) auf der alten Bank vor seinem Häuschen, rauchte Zigarillos und philosophierte mit jedermann, der sich gerne mit dem berühmtesten Sohn der Stadt austauschen wollte. Und es waren nicht gerade wenige, die sich gerne in seinem Dunstkreis bewegten. Schließlich war Jan Johannsen bekannt wie ein bunter Hund. Keine Woche verging, ohne dass man ihn auf irgendeinem Kanal im Fernsehen sehen konnte. Irgendwo tauchte er immer auf, der Vorzeige-Vogelsberger. Lina wartete insgeheim nur darauf, dass ihm irgendwann Vulkanier-Ohren wuchsen, denn er war durch und durch auf Du mit dem Vulkangestein des „Vuulsberchs“, wie Einheimische – und zu denen zählte sich der Herr ja mittlerweile – liebevoll ihr Hausgebirge auf Gut-Platt nannten. Und solche Ohren hätten sich sicher auch gewinnbringend vermarkten lassen. Wenn da nicht im Vorfeld schon die Sache mit dem verbrannten Ohr gewesen wäre…

Ja, die Marketing-Maschine ratterte seit dem Blitzschlag auf dem Keltenberg unaufhörlich – und die Hausbank hatte Jan ganz schnell wieder gewechselt, denn in der näheren Umgebung sollte doch niemand wissen, was für Summen da unglaublicherweise inzwischen auf seinem Konto aufgelaufen waren. Die Zahl war mittlerweile im höheren sechsstelligen Bereich – und immer öfter wurde der Promi aus Oberhessen zu bankinternen Veranstaltungen, hochinteressanten Vorträgen, Häppchen und Sekt oder „Meet & Greet“ mit irgendeinem Finanzguru eingeladen. Ganz intime Kreise, man war sozusagen als „Hochfinanz“ unter sich, ganz verlockende neue Anlagemöglichkeiten, ganz geheime Strategien, die man angeblich nirgendwo nachlesen konnte.

„Sichern Sie Ihr Geld außerhalb der EU, und zwar jetzt!!! Wer weiß, was noch auf uns alle zukommt, wenn Brüssel wieder Geld braucht – oder Athen, um es mal beim Namen zu nennen – und, Herrschaften, der Staat greift bei IHNEN, den Leistungsträgern der Gesellschaft, den Säulen, auf denen der Erfolg von weiten Teilen der Bevölkerung gegründet ist, sehr verehrte Damen und Herren, ZU ALLERERST ZU! Deshalb, handeln Sie sofort, und zwar jetzt!“ Das war nicht ohne Folgen geblieben. Selbst Lina war schon ganz nervös geworden und hatte in einem Anfall von Panik ihr eigens erwirtschaftetes Vermögen erst einmal in Betongold umgesetzt, sprich, sie hatte investiert. Nach all den Schauermärchen, die Jan immer erzählt hatte, wenn er gerade mal wieder von so einem Vortragsabend gekommen war…

Aber das waren für Lina heute Abend nur Sorgen von vorgestern. Erst einmal musste sie realisieren, dass es wohl ein einsamer Jahreswechsel werden würde. Welcome 2015?

Na, sie wusste nicht so recht.

Jan, Jan, Jan: Ick hör‘ dir trapsen, wa?, würde eine Berlinerin da kurzerhand kommentieren. So ganz lupenrein war die Sache nicht. Noch vor ein paar Monate wäre er bei dickstem Nebel zu ihr ins Bettchen gehechtet. Wetterwarnungen, Eis und Schnee? Die Straßen vielleicht sogar gesperrt? Ei, null Problemo, Jan ist immer zur Stelle. Wer einen Blitzschlag überlebt hat, der lässt sich doch nicht von so einer blöden Wettervorhersage aufhalten, wenn er mit seiner Liebsten zusammen sein kann? Das wäre noch der typische Satz dazu gewesen. Aber nun? Ebbe in der Liebesgrotte. Kein Engagement – nicht mal am letzten Feiertag des Jahres.

Wahrscheinlich lag er jetzt auf seinem Mega-Sofa (nagelneu, überdimensional groß und richtig teuer!), mit Asta im Schlepptau, seiner treuen Hündin, die er auch von Opa Abbel geerbt hatte. Und ziemlich wahrscheinlich zappte er wahllos durchs Programm und verkostete zeitgleich neue Weine. Multitasking á la Jan. Am Ende betrachtete er das Ganze offiziell auch noch als Arbeit… So Linas Vermutung am frühen Silvesterabend. Wie waren noch seine Worte beim Telefonat gewesen? „Du, ich bleibe lieber bei mir zuhause. Ich brauche mal ‘ne dicke Mütze Schlaf. Der viele Stress mit den Malkursen, die ganzen Auftragsarbeiten. Du weißt doch… Und dann noch die Straßenverhältnisse. Blitzeis, da ist nicht mit zu spaßen, gell? Du bist doch nicht böse???“

Ja, sie wusste. Er war ein Mimösjen geblieben – auch nach seinem überlebten Blitzschlag. Und trotz seiner Popularität als Van Gogh vom Keltenberg. Fast keine Talkshow, in der er nicht schon eingeladen war, keine Zeitung, keine Zeitschrift, die nicht über ihn berichtet hatten, das Internet hatte tausende, ach was, abertausende Einträge über ihn. Den smarten Künstler, der einst arm war, aussah wie Vincent persönlich, mit Strohhut und Staffelei auf irgendwelchen Bergen unterwegs war und den Anschein erweckt hatte, als wäre er irgendwie aus der Zeit gefallen. Das hatte den Wendepunkt in seinem armseligen, depressiven Künstlerdasein markiert. Seitdem rollte der Rubel sehr, sehr fleißig. Nur das verkokelte Ohr wollte nicht so recht, wie er es gerne gehabt hätte. Tja, alles hat eben seinen Preis.

„Schlafen kannst du doch auch hier. Bei mir!“, hatte Lina noch eingeworfen. Aber es war nichts zu machen gewesen.

Dabei hatte alles so schön angefangen. Wieder angefangen.

Mit Fleischwurst und Kakao und einem Silvester, wie es schöner kein Hollywood-Regisseur hinbekommen hätte. Hach!

Und nun schlief er immer öfter wieder in Schotten. Auch am Wochenende, nun sogar an Silvester. Der Trubel im Café war ihm zuviel. Zu viele Menschen, zu viel Kaffee (den vertrug er anscheinend nicht mehr - neuerdings), zu viel Lina. Er wollte lieber seine Ruhe. Irgendwie war die Luft heraus. Insgeheim vermutete sie schon eine Affäre mit einer seiner vielen attraktiven Malschülerinnen, die nach Schotten gepilgert kamen wie die Katholischen zu einem Wallfahrtsort.

Sie überlegte, was sie mit dem freien Silvesterabend nun anfangen sollte. Die Mädels waren sicher nicht so spontan, ein außerordentliches Flaggentreffen einzuberufen, nur weil der Basalt-Fischkopp, eine extra für Jan erfundene neue Kombination aus Fischkopp (Nordlicht) und Basaltkopp (eher unflexibler Oberhesse), mal wieder lustlos war und das Alleinsein vorzog. Obwohl, alleine war er ja nicht. Er hatte Asta zum Kuscheln – und reden konnte er jederzeit mit Tonja, sie wohnte ja direkt gegenüber im Heilpraktiker-Hexenhäuschen in Schotten, dem kleinen Vulkanstädtchen, in dem Jan nun vollends heimisch geworden war und wo er sein Atelier, die Malschule und den Weinhandel betrieb.

Und seit Frühsommer demonstrativ auch noch seinen eigenen Apfelwein (Etikett: Der Schotten-Schoppe! – Nichts für Kleinkarierte) an die Leute brachte. Geschäftstüchtig war er wirklich.

Lina war jedenfalls nie mehr in die Verlegenheit gekommen, ihm finanziell nochmals unter die Arme greifen zu müssen. Wahrscheinlich könnte sie eher ihn anpumpen, wenn es mal nicht mehr so goldgrubenmäßig lief mit dem Klatsch & Tratsch. Aber noch war das zum Glück nicht der Fall. Ihr Café im schönen Kurort Bad Salzhausen lief mehr als bombig. Über Langeweile oder Flaute konnte sie nicht klagen. Die beiden Perlen, ihre treuen Helferinnen in Dienstmädchentracht, waren auch mehr im Einsatz, als ihnen voraussichtlich lieb war. „Teilzeit“ konnte man das schon lange nicht mehr nennen. Die Chefin hoffte inständig, dass die zwei Fleißigen sie nicht eines Tages im Stich lassen und sich nur noch Heim, Herd und Kind widmen würden. Solche bezaubernden Wesen wie Anette und Amelie gab es bestimmt auf der ganzen weiten Welt nicht mehr, dessen war sich Lina sicher.

Andererseits würden ihr ein paar Gänge weniger auch nicht schaden. Seit ihrer Entlassung beim „HansaFra“-Konzern, wo man sie doch recht unhöflich vor die Tür gesetzt hatte, und der darauffolgenden Entscheidung, ein eigenes Café zu eröffnen, hatte sie keine drei Tag mehr am Stück frei gehabt. So ein Pensum war ihr sonst als Chefsekretärin eher fremd gewesen. Geregelte Arbeitszeiten, das Balsam des Angestelltendaseins… Aber davon war nun keine Rede mehr. Davon konnte sie jetzt nur noch träumen. Selbst außerhalb der Öffnungszeiten musste sie ja immer organisieren, backen, Cremes schlagen, Obst schnibbeln, die Buchhaltung vorbereiten, Termine beim Steuerberater vereinbaren, zum Steuerberater fahren, sich mit den Steuerberater persönlich treffen, in die Metro düsen, Nachschub holen, Anzeigen schalten, die Internetseite aktuell halten, und so weiter und so fort. Aber meckern wollte sie auch nicht. Ihr Kontostand hatte sich nach der Eröffnung schnell in mehr als angenehme Höhen bewegt, so dass die Entscheidung, das Kaffeehaus samt Wohnung zu kaufen, nicht lange hatte auf sich warten lassen.

Ihre Eltern, also Mama und Papa Siebenborn, hatten ihr dazu geraten. „Kind, da hast du was Eigenes!“ Alle Experten sagten zudem, kaufen Sie Immobilien. Und zwar JETZT!“ Die Zinsen waren noch immer tief, tief im Keller - und billiger konnte das Geld ja kaum noch werden.

Das sah Lina auch ziemlich schnell ein und schlug auch prompt zu, als die Besitzerin ihr ein unwiderstehliches Angebot unterbreitet hatte. Die alte Dame, die mittlerweile auf Teneriffa ihren Lebensabend verbrachte, war schlicht und ergreifend begeistert von Lina und der Art, wie sie das Traditions-Kaffeehaus in Bad Salzhausen wieder zum Leben erweckt hatte. Wahrscheinlich hatte Herr Murmelmann, der Anwalt und Notar, dem die betagte Dame vertraute, sie immer schön auf dem Laufenden gehalten.

Eines Tages lag eine Postkarte aus Puerto de la Cruz zwischen den vielen Rechnungen und Werbeblättern in Linas Briefkasten. Frau Schauer hatte in echt krakeliger Schrift geschrieben:

Meine liebe Frau Siebenborn,

ganz herzliche Grüße aus dem sonnigen Teneriffa sendet Ihnen

Frau Schauer.

P.S: Sie sollten umgehend einen Termin mit Herrn Rechtsanwalt Murmelmann vereinbaren. Die Sterne stehen gut für die Chance Ihres Lebens…“

Das war alles gewesen. Lina hatte zuerst einen Schreck bekommen. Was wollte die alte Dame ihr damit sagen? Aber dann ging alles ganz schnell. Und jetzt war Lina eine echte Kaffeehausbesitzerin. Und eine Wohnung (mit Balkon) nannte sie auch ihr Eigen. Und einen Garten, direkt angrenzend an den wunderschönen Kurpark. Plus Parkplätze, die waren auch wichtig! Naja, das war nun nicht gerade ausschlaggebend. Aber immerhin. Es gehörte alles IHR, Lina Siebenborn. Nicht schlecht für eine ehemalige „Tippse“ mit Mietwohnung in Frankfurt-Bornheim, oder?

Doch noch immer wusste sie nichts mit dem angebrochenen Silvesterabend anzufangen. Also zappte sie sich eher lustlos auch durchs Programm, vermutlich genauso wie Jan im gleichen Moment. Was für eine soziale Armut! Jeder saß allein zuhause auf der Couch, niemand wollte mehr heutzutage Kompromisse schließen, weder beim Fernsehprogramm noch beim Schlafen. Das moderne Individuum besteht zu jeder Zeit auf seinen gewohnten Komfort.

Und eigentlich musste Lina sich eingestehen: Sie war im Prinzip nicht anders als Jan. Auch sie hätte an diesem Abend nicht gerne bei ihm übernachtet. Die Zeiten wild zerrütteter Laken war ohnehin vorüber, aus den stürmischen Nächten der Vergangenheit war irgendwas Schnelllebiges geworden, eine Art bettmäßige „5-Minuten-Terrine“ – will heißen, in fünf Minuten fertig, allerdings nicht ganz so heiß. Auch deshalb wollte sie lieber in ihren vier Wänden bleiben, in ihrem eigenen Bettchen schlafen (die Matratze hatte einen speziellen Zwischenhärtegrad, extra für sie angefertigt!) und morgens wie gewohnt den ersten Blick auf den so friedlichen Kurpark werfen, der jeden Tag anders, jedoch immer gleich schön aussah.

In Schotten wäre ihr Blick stattdessen zuerst hinüber zu Tonjas Hexenhäuschen gegangen. Fachwerk am frühen Morgen und die Tatsache, dass Jan einfach lieber in ihrer Nähe sein wollte. Da konnte frau schon mal die Lust auf den oder die sonst übliche(n) Latte am Morgen verlieren. Aber das sollten wir jetzt nicht vertiefen.

Wie immer liefen im Fernsehen Wiederholungen: alte Tatorts, noch ältere Pilchers, hier und da ein Quiz (Menschen, Tiere, Gesundheit, Länder, Millionen), Reisemagazine (fast alle schon gesehen, mehrfach), Reportagen aus der Zeit vor, während oder nach dem Zweiten Weltkrieg, wissenschaftliche Szenarien von einer Erde ohne Menschen, einer Menschheit ohne Wasser oder das neueste zum Thema Fett. „Fett“ lief immer irgendwo, ein schier unerschöpfliches Thema. Aber Lina wollte mit Fett nichts mehr zu tun haben. Weder im realen Dasein, also auf ihren Hüften oder sonstwo, noch im virtuellen Bereich. Vom Fett hatte sie gründlich die Schnauze voll. Genau wie vom Fernsehprogramm.

Das Ganze war für Lina fast so etwas wie das allabendlich grüßende Murmeltier. Immer dasselbe. Da war ja der Anwalt Murmelmann noch aufregender. Und der war schon über siebzig! Dieses Programm ersetzte jede Baldrian-Pille. Mittlerweile konnte Lina diesen Reich-Ranicki gut verstehen. „Ich nehme diesen Preis nicht an!“ Jawoll, recht hat er gehabt. Jetzt hatte sie es auch begriffen.

Ein Griff ins DVD-Regal und sie tauchte ab. Nach Kenia. Mehr als hundert Jahre zurück, genau ins Jahr 1913.

Aber eigentlich begann alles Dänemark. Oh ja, Jenseits von Afrika ist einfach der beste Film aller Zeiten. Zumindest für Lina. Die konnte ihn fast schon auswendig mitsprechen. Alle Dialoge. Und zum Schluss fing sie immer an derselben Stelle an zu schniefen. „Das hätte Denis gefallen…“, als die Löwen auf seinem Grab eine Art Rastplatz gefunden hatten, von dem aus sie die Steppe und die Herden überblicken konnten… Es ging jedes Mal wie auf Knopfdruck – und musste wohl eine Art cineastische Konditionierung ihrer Tränendrüsen sein. Das rettete ihr wenigstens ein bisschen den so frustig begonnenen Abend. Doch an Jan musste sie die ganze Zeit denken. Unwillkürlich. Gerade, weil der Film ja im Grunde nicht nur ein Kolonial-Epos, sondern auch eine unbeschreiblich schön-dramatische Liebesgeschichte ist. Dagegen war ihr kleinbürgerliches Dasein geradezu farblos, von ihrer schalen Beziehungskiste ganz zu schweigen. Vonwegen zwei Männer, zwischen denen sie stehen könnte. Sie hatte nicht mal einen richtig an ihrer Seite. Und darüber war sie schon richtig sauer geworden.

Aber ging es dieser Karen Christiansen Dinesen, also der Baronin von Blixen, vor hundert Jahren nicht ähnlich wie ihr heute? Sie wollte auch nur jemanden, der zu ihr hielt, jemanden ganz für sich alleine. Aber dieser „Jemand“ hatte damals auch schon andere Interessen. Großwildjagd! Um nur ein Beispiel zu nennen.

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81 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783742752598
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Bookwire
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