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Brigitte Regitz

Heiter bis mysteriös

Kurzgeschichten

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Probefahrt

Die Erbschaft

Schneider!

Am Ball geblieben

Der Mantel

Die Wolke

Kieselsteine

Jonas

Die Bodenlose

Die Letzten werden die Ersten sein

Der Verdacht

Das Traumauto

Konsequenzen

Die Zeit dazwischen

Die Zeitreise

Ewiger Sommer

Angst

Der Weihnachtsschmaus

Impressum neobooks

Probefahrt

Die Bahn macht mobil. Alles vollautomatisch. Angelockt von dieser Werbung war Erwin zum Bahnhof gegangen, um sich genau zu informieren. Am Bahnhofseingang wurden Postkarten für eine Verlosung verteilt. Die Gewinner sollten an einer kostenlosen Probefahrt teilnehmen. Es handelte sich um einen vollautomatisierten Zug, versprachen die Postkarten. Das hörte sich spannend an, auch ein bisschen unheimlich, aber Erwin war neugierig und so warf er seine Verlosungskarte in die Sammeltonne.

Eine Woche später fand er einen roten Briefumschlag in seiner Post. Er hatte bei der Verlosung der Bahn die Teilnahme an einer Probefahrt gewonnen und sollte sich zwei Wochen später um acht Uhr auf Bahnsteig zehn am Bahnhof einfinden.

In den folgenden zwei Wochen war er kribbelig wie ein kleines Kind, das auf seinen Geburtstag wartet, und dann endlich kam das Wochenende, an dem die Probefahrt stattfinden sollte. Erwin stand in aller Herrgottsfrühe auf, damit er ja nicht zu spät zum Bahnhof kam. Und dann war er nicht einmal der Erste. Da standen mindestens zwanzig Andere, die vor ihm gekommen waren. Zehn Minuten vor acht sagte eine Lautsprecherstimme: „Der Zug zur Probefahrt fährt jetzt auf Gleis zehn ein. Bitte treten Sie zurück. Die Türen öffnen und schließen vollautomatisch. Die Bahn wünscht Ihnen eine vergnügliche Reise.“

Ein roter Zug fuhr langsam ein, kam zum Stillstand, die Türen schoben sich fast lautlos auf, die Wartenden von Bahnsteig zehn stiegen ein und da erlebten sie ihre erste Überraschung. An jeder Tür stand ein Roboter, der die Fahrkarten kontrollierte. So war gewährleistet, dass die Probefahrer alle einen Sitzplatz hatten. Ein durch blinde Passagiere überfüllter Zug sollte hier nicht abfahren.

Erwin sah sich im Inneren des Wagens um. Es war ein Großraumwagen. Darüber war er erfreut. Er mochte das Gefühl, viel Raum um sich herum zu haben. Die Sitzpolsterung war rot-beige und wirkte angenehm frisch. Er nahm auf einem Sitz am Fenster Platz. Kaum hatte er sich gesetzt, begann der Sitz zu sprechen. „Herzlich willkommen auf Platz elf B. Wenn Sie die Rückenlehne verstellen möchten, drücken Sie bitte die grüne Taste auf der rechten Sitzlehne.“

Erwin probierte die Sitzverstellung aus. Inzwischen hatten sich andere Reisende gesetzt und es herrschte ein reges Sitz-Geschnattere im Wagen. „Das wird man wohl noch ändern müssen“, dachte Erwin. „Sprechende Sitze mögen ja gut gemeint sein, nur wenn dreißig Sitze gleichzeitig sprechen, dann wird’s laut, zu laut und immer wieder den einen Satz zu hören, wird wohl auf die Dauer auch nerven.“

„Wir beginnen jetzt unsere Probefahrt“, hörte Erwin aus dem Lautsprecher im Inneren des Wagens. Dann erschien ein Roboter und verteilte Kopfhörer, die in die Armlehnen gesteckt werden konnten. „Damit empfangen Sie unser Radioprogramm“, sagte er und fragte: „wann möchten Sie im Bordrestaurant essen?“

Erwin überlegte kurz und schlug dann genau zwölf Uhr vor. Der Roboter tippte etwas in die Tastatur auf seinem linken Handrücken ein, wartete einen Moment. Dann leuchtete ein Display oberhalb dieser Tastatur auf, und er sagte zu Erwin: „Sie sitzen an Tisch drei. Bitte seien sie pünktlich. Auf Wiedersehen.“

Erwin wollte etwas erwidern, da war der Roboter schon mit dem nächsten Reisenden beschäftigt. Kurz darauf kam ein zweiter Roboter und verteilte Imbisse und Getränke. Er zeigte den Reisenden auch, wie sie einen kleinen Tisch, der in der Armlehne integriert war, ausklappen konnten. Erwin hatte sich ein Vollkornbrot mit Käse, einen Becher Tee und einen Erdbeerjoghurt ausgesucht und genoss dieses zweite Frühstück. Besonders gefallen hatte ihm der Satz: „Das ist alles umsonst“, mit dem der Roboter serviert hatte.

Eine Weile schaute sich Erwin die vorbeiziehende Landschaft an, dann nahm er den Krimi, den er sich eingesteckt hatte und begann zu lesen. Gegen elf fielen ihm die Augen zu, kurz vor zwölf wurde er aber wieder wach. Ein Vibrieren des Sitzes hatte ihn geweckt und so erschien er pünktlich im Restaurantwagen, wo ihn ein Roboter zu seinem Platz führte und bemerkte: „Auch hier ist alles umsonst“. Zu seiner Überraschung bekam er keine übliche Speisekarte, sondern eine Art elektronisches Bilderbuch. Hierin waren die angebotenen Speisen abgebildet, und auch die Getränke. Erwin musste antippen, was er haben wollte und schließlich bestätigen, dass seine Bestellung abgeschlossen war. Sofort darauf kam der Roboter, legte passendes Besteck auf und servierte den Wein, den Erwin ausgesucht hatte. Dann brachte er die dampfenden Nudeln mit Steinpilzen. Sie waren ein Gedicht! Erwin kam sich vor wie im Schlaraffenland.

Nach dem Essen begab er sich wieder zu seinem Platz und lehnte sich genüsslich zurück, schloss die Augen, hörte dem leisen Fahrgeräusch des Zuges zu. Nach einer Weile fühlte er sich erfrischt und richtete sich wieder auf. Gerade durchfuhren sie einen Bahnhof. „Wir halten ja gar nicht“, durchzuckte es ihn. „Haben wir überhaupt schon einmal angehalten? Es sind ja noch so viele Sitzplätze frei. Wir müssten doch auf jeden Fall noch weitere Reisende mitnehmen.“

Nun begann Erwin, nervös aus dem Fenster zu starren. Er wartete auf den nächsten Bahnhof. Den durchfuhr der Zug zwanzig Minuten später. Er schaute angestrengt nach draußen. Da standen Menschen auf dem Bahnsteig, die erstaunte Gesichter machten. Sie hielten rote Fahrkarten in den Händen, schienen einsteigen zu wollen. Erwin beschlich das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte.

Er sah sich im Zug um. Ob andere Reisende dasselbe Gefühl hatten wie er? Eine Frau sah verträumt aus dem Fenster. Sie wirkte vollkommen ausgeglichen. Zahlreiche Reisende waren damit beschäftigt zu lesen, einer schlief und schnarchte leise, die Kopfhörer in den Ohren. Außer ihm schien niemand beunruhigt zu sein. Ob er jemanden ansprechen sollte? Aber er wollte sich auch nicht blamieren und ausgelacht werden. Vielleicht sollte er erst einmal die Lage sondieren. Er stand auf und ging in Fahrtrichtung durch das Abteil. Die Tür zum Gang, der zum nächsten Wagen führte, öffnete sich automatisch.

Dort stand ein Roboter. „Gute Reise“, sagte er „gute Reise, gute Reise, gute Reise...“

Erwin sah ihn irritiert an. Da entdeckte er in Höhe der rechten Schulter ein Display, das fast ganz rot aussah. Darunter stand Ladezustand.

„Bei dem Roboter scheinen die Akkus leer zu sein“, dachte Erwin und ging weiter durch den nächsten Wagen. Wieder kam er in einen Gang. Wieder stand hier ein Roboter. „Alles umsonst“, sagte der, „alles umsonst, alles umsonst, alles umsonst...“ Auch hier zeigte der Ladezustand rot. Erwin bekam ein mulmiges Gefühl in der Magengegend.

Er ging durch den nächsten Wagen. Seiner Erinnerung nach musste das der Wagen sein, vor dem die Lok war. Er hatte sich nicht getäuscht. Vor der Tür zur Kabine des Lokführers stand ein weiterer Roboter. Dessen Ladezustand leuchtete aber grün.

„Wo wollen Sie hin, mein Herr?“ fragte er.

„Zum Lokführer“ erwiderte Erwin.

„Wer schickt Sie?“

„An dem komme ich nicht so leicht vorbei“, dachte Erwin. „Hoffentlich kann ich ihn überlisten.“

Dann antwortet er: „Die Bahn.“

„Worum handelt es sich?“

„ Es handelt sich um eine Geheimsache.“

„Das reicht nicht. Für eine Geheimsache brauche ich einen Passiercode“, bekam er da zu hören. „Haben Sie einen Passiercode?“

„Ja“, sagte Erwin spontan.

„Wie lautet der Passiercode?“

Erwin zögerte. Der Roboter wiederholte seine Frage. „Wie lautet der Passiercode?“

Erwin wusste, er musste nun etwas sagen.

„Die Bahn macht mobil.“

„Das ist der richtige Passiercode“, sagte der Roboter zu Erwins Überraschung und trat zur Seite. Dann drückte er einen Knopf auf seiner Uniform und die Tür zum Lokführer öffnete sich. Erwin schlüpfte schnell hinein. Lautlos schloss sich die Tür hinter ihm.

Er räusperte sich, berührte den Lockführer an der Schulter und sagte: „Entschuldigen Sie“.

„Bitte einsteigen, bitte einsteigen, bitte einsteigen...“, war die Antwort.

Erwin erstarrte. Auch der Lokführer war ein Roboter.

Panik ergriff ihn. Irgendetwas musste er tun, aber er wusste nicht, was. Eine Weile stand er regungslos da und sah nach draußen, wo die Lok die Schienen aufzufressen schien. Dann hatte er eine Idee. Er musste anrufen bei der Bahn. Es musste einen Aufsichts-Mitarbeiter geben. Er sah sich um. Nirgendwo war ein Telefon zu entdecken. Aber er hatte ja ein Handy. Er tastete danach in seiner Hemdentasche. Da war es. Er stellte es an, gab seine PIN-Nummer ein. Dann erschien auf dem Display Netzsuche. Erwin wartete. Es blieb dabei, sein Handy fand kein Netz. Er konnte nicht telefonieren.

Er trat an das Steuerpult heran und sah, dass es nicht beschriftet war. Verzweiflung schnürte ihm den Hals zu. Er sah sich noch einmal in der Kabine um. Nein, eine Notbremse war nicht zu sehen. Dann sah er wieder auf das Steuerpult. Da war eine rote Taste. Zögernd näherte er sich dieser Taste mit dem ausgestreckten Zeigefinder seiner rechten Hand.

Dann, schnell, drückte er die Taste, aber nichts geschah. Er hörte lediglich ein leises Zischen. Woher mochte das kommen? An beiden Seiten der Kabine sah er etwa zehn Quadratzentimeter große durchlöcherte Felder. Daher kam das Zischen. Er ging näher ran an eines dieser Lochfelder. Es strömte warme Luft heraus.

„Dann habe ich mit der roten Taste wohl die Heizung angeworfen“, dachte Erwin.

Er beugte sich erneut über das Steuerpult. Im selben Moment merkte er, dass der Zug wieder einen Bahnhof passierte. Auch hier sah er Menschen, die rote Fahrscheine in den Händen hielten und erstaunte Gesichter machten. Er wollte ihnen ein Zeichen geben, da war der Zug aber schon wieder aus dem Bahnhof herausgefahren. Erwin wandte sich wieder dem Steuerpult zu. Er suchte eine Hilfe-Taste, wie er sie von seinem PC kannte, fand aber keine.

„Eigentlich logisch“, dachte er. „Es ist ja kaum anzunehmen, dass ein Roboter lesen und reagieren kann, wie es ein Mensch täte.“

Da war ein Joystick. Erwin griff danach, bewegte ihn nach links und – der Zug wurde langsamer.

„Es funktioniert, es funktioniert“, frohlockte Erwin innerlich. „Ich habe herausgefunden, wie ich den Zug anhalten kann.“

Er starrte angestrengt nach draußen. Er wollte sein Bremsmanöver rechtzeitig vor der Einfahrt in den nächsten Bahnhof beginnen.

Schließlich sah er ein Schild Bf ZufallSpitze 1000 m.

„Merkwürdige Ortsbezeichnung“, dachte Erwin und bewegte den Joystick weiter nach links. Der Zug machte eine Kurve, dann fuhr er in einen kleinen Bahnhof ein. Erwin riss den Joystick nach links und der Zug hielt mit einem quietschenden Geräusch an einem Bahnsteig an. Der war menschenleer, wie alle anderen Bahnsteige.

„Gespenstisch. Weshalb ist hier niemand zu sehen? Ist der Bahnhof geräumt worden? Droht hier irgendeine Gefahr?“ fragte sich Erwin. Sein Herz schlug bis in den Hals. Angst überkam ihn.

Die Tür der Lokführerkabine öffnete sich. Davor stand der Roboter und sagte: „Sie können jetzt den Zug verlassen. Ich bringe Sie zum Ausstieg.“

Erwin folgte ihm. Mit einem Ruck öffnete sich die Tür und der Roboter ging zur Seite. Erwin stieg aus, trat auf den geriffelten Bahnsteigrand, hielt einen Moment inne, lief dann los.

Seine Schritte hallten auf dem grauen Steinboden. Er sah hinter sich. Keiner der

Mitreisenden folgte ihm. Die anderen Zugtüren hatten sich nicht geöffnet. Erwin spürte Druck auf seinen Magen. „Ganz ruhig, nur keine Panik“, versuchte er sich zu beruhigen.

Er kam an eine Rolltreppe nach unten, die sich ruckartig mit einem metallisch klingenden Geräusch in Bewegung setzte. Erwin sprang die Stufen hinunter. Das ging schneller. Er kam in die Bahnhofshalle. Sie war unbeleuchtet. Die Geschäfte waren geschlossen. Auch hier war kein Mensch zu sehen. Von weitem erkannte Erwin bereits, dass der Bahnhofsvorplatz unbelebt war.

Er lief auf die Schwingtüren zu, streckte den Arm nach einem Türgriff aus. Die Türen nach draußen ließen sich öffnen, stellte er erleichtert fest. Erwin trat aus dem Bahnhof, blieb stehen, atmete durch. Nun sah er die rotweißen Absperrbänder um den Platz herum. Dahinter stand eine Menschenansammlung. Stimmengemurmel war zu hören.

Erwin lief über den Platz, kroch unter dem rotweißen Band durch und kam neben einem Polizisten hoch. Noch bevor er sich wieder ganz aufgerichtet hatte, fragte er: „Was ist denn hier los?“

„Es sind ein paar Roboter vom Versuchsgelände der Bahn außer Kontrolle geraten“, gab der Uniformierte zur Antwort. „Außer Kontrolle geraten, außer Kontrolle geraten, außer Kontrolle...“

Die Erbschaft

„Suchen Sie meinen Neffen Alfred. Er ist mein einziger Erbe.“

Notar Norbert Ganterbein saß am Schreibtisch und las den Satz immer wieder. Sein Auftraggeber, Karl Runkel, war vor einer Woche verstorben. Wie bei Hinterlegung des Testaments verabredet, hatte der Notar den versiegelten Umschlag geöffnet und einen handschriftlichen Brief entnommen. Hierin schrieb der Verstorbene, sein Neffe sei fünfzehn Jahre zuvor verdächtigt worden, an einem Banküberfall beteiligt gewesen zu sein, bei dem eine junge Frau ums Leben gekommen war. Beweise fehlten, aber es gab eine schlüssige Indizienkette. Alfred nutzte damals einen Vernehmungstermin zur Flucht und tauchte unter. Die Ermittlungsbehörden konnten ihn nie ausfindig machen. Dem Verstorbenen hatte er drei Jahre nach seinem Verschwinden geschrieben, dass er mit dem Bankraub nichts zu tun habe. Der Brief war in São Paulo aufgegeben worden.

Norbert Ganterbein griff zum Telefonhörer und beauftragte seinen Detektiv, nach Brasilien zu fliegen und Alfred Runkel zu suchen. Die Tage verstrichen ohne Ergebnis. Der Notar wurde nervös. Sollte der Neffe nicht gefunden werden, würde das große Vermögen an das Finanzamt fallen. Bei dieser Vorstellung wurde ihm übel.

Nach mehr als drei Wochen meldete sich der Detektiv mit der Nachricht, den Gesuchten gefunden zu haben. Ganterbein machte sich Notizen, gab seinem Mitarbeiter Anweisung zurückzukommen, beauftragte ein Reisebüro mit der Buchung eines Fluges und eines Hotelzimmers für sich in São Paulo und war zwei Tage später dorthin unterwegs.

Diese riesige Stadt, das Kraftzentrum Brasiliens, verursachte ihm Beklemmungen. Wolkenkratzer, wohin das Auge schaute. Das Taxi brauchte fast drei Stunden vom Flughafen, bis es vor dem Hotel vorfuhr. Der Notar zahlte, ließ sich eine Quittung geben, stieg aus, trat durch die Drehtür in ein mit rotem Samt ausgestattetes Foyer. Die Sesselgruppen wirkten einladend und die weichen Teppiche dämpften angenehm die Geräuschkulisse. Der Portier sprach fließend Englisch und konnte sogar ein paar Brocken Deutsch. Ganterbein war zufrieden.

Am nächsten Morgen verließ der Notar nach dem Frühstück das Hotel. Er winkte sich ein Taxi heran und gab dem Fahrer einen Zettel mit der Anschrift, unter der der gesuchte Neffe wohnen sollte. Dann fuhren sie fast zwei Stunden, bis der Wagen vor einem gepflegten achtstöckigen Wohnhaus hielt. Ganterbein gab dem Taxifahrer zu verstehen, dass er warten sollte, stieg aus, ging auf das Gebäude zu, drückte gegen die Eingangstür. Sie öffnete sich, sodass er eintreten konnte, ohne klingeln zu müssen. Sein Blick fiel auf die Briefkästen. Er suchte den Namen Alfredo Ruebo, wie sich Runkels Neffe hier nannte. Als er ihn sah, holte er einen braunen Briefumschlag aus seinem Jackett und warf ihn ein. Dann wandte er sich um und ging zurück zu seinem Taxi.

In dem Kuvert befand sich ein Schreiben, mit dem sich der Notar vorstellte und mitteilte, wo er in São Paulo zu erreichen war. Hinzugefügt hatte er Kopien seines Personalausweises und des Vermächtnisses von Karl Runkel. Zurück im Hotel wartete er dann mit Spannung auf einen Anruf. Endlich! Am frühen Nachmittag klingelte das Telefon in seinem Zimmer. Der Erbe meldete sich mit seinem richtigen Namen und schlug ein Treffen in der Nähe seiner Wohnung vor. Dort gab es einen kleinen Park. Ganterbein sollte sich auf eine der Bänke setzen und als Erkennungszeichen eine Postkarte neben sich legen. Die beiden Männer verabredeten sich für den nächsten Tag gegen elf Uhr.

Der Notar nahm den Taxifahrer vom Vortag, als er den wieder vor dem Hotel stehen sah. An dem Park stieg er aus, zahlte und bat den Chauffeur, zwei Stunden später zurückzukommen. Mit einem breiten „Okay“ brauste der Mann davon.

Kaum saß Ganterbein auf einer der Parkbänke und hatte die Postkarte neben sich gelegt, erschien ein dunkelhaariger, braun gebrannter, schlanker Mann, setzte sich zu ihm und fragte: „Sind Sie der Herr aus Deutschland?“

„Ja“, rief der Notar erfreut und fuhr fort: „Und Sie sind Alfred Runkel?“

„Genau.“

„Gut. Dann unterbreite ich Ihnen jetzt meinen Vorschlag zur Abwicklung der Erbschaft, die sich insgesamt auf drei Millionen Euro beläuft, angelegt in Festgeldern, Aktien und Sparzertifikaten. Darüber hinaus gibt es noch vier Immobilien sowie das übliche Mobiliar samt Hausrat und zwei Fahrzeuge ...“

Ganterbein senkte seine Stimme, denn er kam nun zum wichtigsten Teil seiner Mitteilung. Die bestand darin, dass er fünfzig Prozent der Erbschaft beanspruchte. Dafür würde er sicherstellen, dass niemand vom Aufenthaltsort Alfred Runkels erfahren würde.

Der Erbe ließ sich bei dieser Erklärung keine Gefühlsregung anmerken. Er nickte und sagte dann: „Ich brauche Bedenkzeit. Die ganze Sache ist überhaupt sehr überraschend für mich.“

„Selbstverständlich“, rief der Notar eilfertig. „Ich wollte sowieso ein paar Ausflüge machen, wenn ich schon einmal hier bin. Morgen reise ich zu den Wasserfällen des Iguacu und werde erst in fünf Tagen wieder zurück sein.“

„Gut“, nickte der Neffe des Erblassers. „Dann treffen wir uns in einer Woche um elf Uhr in meiner Wohnung.“

„Nein, mir ist lieber, wenn wir uns in meinem Hotel treffen. Dort gibt es einen sehr angenehmen kleinen Konferenzraum. Außerdem brauche ich dann nicht wieder die lange Fahrt durch die Stadt zu machen, sondern Sie“, entgegnete der Notar augenzwinkernd, worauf der Erbe stumm nickte, sich erhob, Ganterbein die Hand reichte und förmlich sagte: „Auf Wiedersehen. Ich wünsche Ihnen eine vergnügliche Reise.“

Bis zur Rückkehr seines Taxis ging der Notar in dem kleinen Park auf und ab. Am liebsten hätte er Luftsprünge gemacht, so erleichtert war er. Nun war alles bestens arrangiert. Den gefährlichen Vorschlag, in die Wohnung des Erben zu kommen, hatte er locker und unauffällig abgewehrt. Nach dem Ausflug würde er das Hotel nicht mehr verlassen und dann vorzeitig abreisen.

Alfred Runkel kehrte in seine Wohnung zurück. Jetzt war er noch aufgewühlter als nach dem Erhalt des braunen Umschlags. Er musste weg, wieder flüchten, eine neue Identität annehmen. Er würde zunächst zu seiner langjährigen Vertrauten, Judith, in die Berge fahren und dann weitersehen. Er warf ein paar Kleidungsstücke in einen Koffer auf dem Bett. Sollte er auch die schöne Katze aus Muranoglas mitnehmen? Sie erinnerte ihn an seinen Kater, den er bei der Flucht aus Deutschland zurückgelassen hatte. Er ging zur Abstellkammer, nahm ein paar Zeitungen von einem Packen, der dort gestapelt war, kehrte zurück ins Schlafzimmer, drehte die Skulptur ein, legte sie zwischen die zusammengefalteten Kleidungsstücke, wusch sich die Druckerschwärze von den Händen, ließ sich dann aufs Bett neben den Koffer fallen und schlief vom Stress erschöpft ein.

Im Traum erlebte er seine Flucht aus Deutschland noch einmal, dann die Begegnung mit dem Notar. Wut über diesen Mann ergriff ihn, sodass er erwachte.

Er ging ins Wohnzimmer, holte zwei Bücher und packte sie in den Koffer. In dem Augenblick elektrisierte ihn ein Wort auf dem Zeitungspapier, mit dem er die Katze eingewickelt hatte. Er faltete es vorsichtig auseinander. Es war ein Teil der Rheinischen Post, die ihm ein Freund ab und zu kaufte, um ihm eine Freude zu bereiten. Alfred hatte kein Interesse an dieser Zeitung und überschlug daher immer nur die Schlagzeilen der ersten Seite. Jetzt aber las er im Lokalteil: „Banküberfall nach fünfzehn Jahren aufgeklärt. Täter geständig“.

Als er den Artikel zu Ende gelesen hatte, umfing ein Lächeln seine Lippen. Er begann, den Koffer wieder auszupacken.

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90 стр. 1 иллюстрация
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9783742755452
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