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Zauber des Herzens

Barbara Cartland

Barbara Cartland E-Books Ltd.

Vorliegende Ausgabe ©2016

Copyright Cartland Promotions 1985

Gestaltung M-Y Books

www.m-ybooks.co.uk

Zauber des Herzens

Der Marquis von Alton war schlecht gelaunt, und das gesamte Personal in Alton Park, vom Kammerdiener bis zum Küchenmädchen, hatte unter seiner Stimmung zu leiden. Spät in der Nacht war er unerwartet aus London zurückgekommen, und in seinem Ärger hatte er an allem etwas auszusetzen. Der Küchenchef wurde aus dem Schlaf gerissen und vollbrachte ein kleines Wunder. In weniger als fünfzig Minuten richtete er ein kaltes Abendessen, doch seine Lordschaft schaute nur mürrisch, kostete ein wenig und ließ das meiste stehen.

Schon beim Betreten des herrschaftlichen Speisesaals hatte der Lord kritisch das funkelnde Silbergeschirr gemustert, das in Windeseile aus den grünen Schutzhüllen gewickelt worden war.

Dann hatte er ärgerlich gefragt: „Wo ist denn die ganze Dienerschaft, Westham?“

Der alte Butler, der schon dem Vater des Lords gedient hatte, antwortete: „Da ich nicht wußte, daß Eure Lordschaft schon heute zurückkommen würden, habe ich vier von den jüngeren Männern erlaubt, an den Übungen der Freiwilligen im Dorf teilzunehmen. Sie waren davon begeistert, und ich hielt es für meine Pflicht als Patriot, sie zu ermuntern.“

Darauf konnte der Lord nichts erwidern.

Nach einer Weile wagte Westham die Frage: „Hört man etwas Neues vom Krieg, Mylord? Die wenigen Nachrichten, die bis zu uns dringen, klingen ziemlich beunruhigend. Es heißt, das Jahr 1803 soll als Jahr der großen Invasion in die Geschichte eingehen.“

„Falls es überhaupt zu einer Invasion kommt“, entgegnete der Lord mit harter Stimme, „dann versichere ich dir, Westham, daß wir Bonaparte mit allen erdenklichen Waffen zurückschlagen werden.“

Dann schwieg er wieder und blickte gelangweilt auf einen mit Pfirsichen garnierten Eberkopf.

Der Butler fuhr fort: „Die Freiwilligen sind unzufrieden, weil sie mit Piken kämpfen sollen.“

Ärgerlich schob der Lord seinen Teller zurück.

„Wir haben nicht genug Gewehre für alle, und Piken können fürchterliche Waffen sein, Westham, wenn man mit ihnen umzugehen weiß.“

Er glaubte selbst nicht, was er sagte, und daß auch seine eigenen Männer bei den Freiwilligen so vorsintflutlich ausgerüstet waren, brachte ihn noch mehr auf. Doch diesen Gedanken behielt er besser für sich. Alles, was er tun konnte, war, auf die neue Regierung unter Addington zu schimpfen, wie er es in letzter Zeit schon so oft getan hatte. Er wies die übrigen Gänge zurück und verließ den Speisesaal.

„Ein Glas Portwein?“ fragte Westham bedrückt.

Seine Lordschaft antwortete nicht. Nachdenklich verließ er den Raum und begab sich in sein Schlafzimmer.

Nach einer schlaflosen Nacht mußte er sich am nächsten Morgen eingestehen, daß er zuviel getrunken hatte. Beim Abendessen mit dem Prinzen von Wales hatte der ganze Ärger angefangen. Der Prinz hatte seine Gäste in noch größerem Rahmen als gewöhnlich bewirtet, und viele von ihnen schwankten ein wenig, als sie den Speisesaal verließen. Der Marquis stand noch fest auf seinen Beinen, fühlte sich aber auch leicht angeheitert und war bester Laune. Er hatte schon immer den Ruf eines Draufgängers besessen. Viele Damen der Gesellschaft waren oft nur allzu bereit, ihm in die Arme zu sinken. Ein Blick genügte, und schon standen ihm alle Herzen und Schlafzimmertüren offen.

Plötzlich hatte er sich danach gesehnt, aus London wegzukommen, fort von den nachgiebigen Frauen, statt Parfumduft frische Landluft zu atmen und wieder einmal allein zu sein. Bei seiner Ankunft in Alton Park war er zu wütend gewesen, um dies alles zu genießen. Doch nun klärte sich sein Kopf.

„Was war ich doch für ein Narr!“ sagte der Marquis laut, und Westham, der diensteifrig hinter ihm stand, fragte: „Wie bitte, Mylord?“

„Ich habe nur mit mir selbst gesprochen“, entgegnete der Marquis unwirsch.

Der alte Butler seufzte. Er kannte den Marquis schon sehr lange und wußte, wenn dessen mürrische Anwandlungen eine ganze Nacht überdauerten, mußte es einen Grund dafür geben. Zum Glück kam dies bei Mr. Justin, wie er seinen Herren im Stillen immer noch nannte, selten vor.

Westham war klug genug, ihn in Ruhe zu lassen. Er servierte nur das Frühstück, das fast unberührt wieder hinausgeschickt wurde. Leicht beunruhigt sah er, wie der Marquis einen doppelten Brandy trank, bevor er durch die großen Fenstertüren auf die Terrasse hinausging. Es war sonst nicht die Art Seiner Lordschaft, schon so früh am Tag zu trinken.

Barhäuptig schlenderte der Marquis im Sonnenschein durch den Garten. Die Blumenbeete hatte noch seine Mutter anlegen lassen. Doch er bemerkte weder die farbenprächtigen Rabatten, noch die flammenden Azaleen neben dem zarten Violett, Purpur und Weiß der Lilien. Die Gärten von Alton Park waren wegen ihrer Schönheit berühmt, doch der Marquis ging umher, ohne etwas zu sehen. Er war verwirrt, besorgt und so niedergeschlagen wie damals, als er nach den Ferien nach Eton zurück mußte. Bei jedem Schritt murmelte er ein „Verdammt!“ vor sich hin, aber das Fluchen verschaffte ihm keine Erleichterung. Tief in Gedanken versunken wanderte er weiter, bis ein Schrei ihn plötzlich aufschreckte. Unwillkürlich blieb er stehen. Der Schrei ertönte wieder, und erst jetzt entdeckte er, wie weit er sich vom Haus entfernt hatte. Ein Mädchen rannte aus dem Wald heraus.

„Hilfe, zu Hilfe!“ rief sie.

Dann erblickte sie den Marquis und lief auf ihn zu.

„Helfen Sie mir. Oh, helfen Sie mir“, bat sie atemlos. „Mein Hund, er ist in eine Falle getreten, und ich kann ihn nicht befreien. Bitte, kommen Sie!“

„Sofort“, sagte der Marquis schnell.

Eine kleine Hand ergriff die seine und zog ihn mit fort. So schnell war er schon seit Jahren nicht mehr gelaufen.

„Hier ist es“, sagte das Mädchen atemlos, als sie eine kleine Lichtung erreichten. Mehr brauchte sie auch nicht zu sagen. Ein kleiner schwarzweißer Spaniel war in eine rostige Falle geraten. Der Hund war außer sich vor Angst. Er bellte, jaulte und zerrte an seiner Pfote, die stark blutete.

Das Mädchen wollte auf das Tier zulaufen, doch der Marquis hielt sie zurück.

„Rühren Sie ihn nicht an“, sagte er mit strenger Stimme. „Der Hund ist verängstigt und könnte Sie beißen. Im Augenblick kann er nicht zwischen Freund und Feind unterscheiden.“

„Machen Sie ihn los. Bitte, befreien Sie ihn“, flehte das Mädchen.

Geschickt hielt der Marquis den Hund fest und löste mit dem Fuß den Sperrmechanismus der Falle, so daß das rostige Eisen aufsprang.

„Danke! Vielen Dank“, rief das Mädchen und streckte die Arme nach dem Hund aus. Doch der Marquis gab ihr das Tier nicht. Stattdessen untersuchte er sorgfältig das verletzte Bein. Als ob das Tier begriffen hätte, wer sein Retter war, drehte es den Kopf und wollte ihm die Hand lecken.

„Ist das Bein gebrochen?“ fragte das Mädchen.

„Ich weiß es nicht genau“, antwortete der Marquis. „Er braucht so schnell wie möglich sachkundige Hilfe. Die Wunde muß ausgewaschen werden. Sie sehen ja selbst, die Falle ist alt und rostig.“

„Wie können Menschen so niederträchtig sein und so etwas überhaupt im Wald aufstellen! Kein Tier sollte auf diese Weise gefangen werden.“

„Ich glaube, in diesen Wäldern gibt es nicht mehr viele Fallen“, erwiderte der Marquis. Ihm fiel ein, daß er schon vor fünf Jahren das Fallenstellen auf seinem Besitz verboten hatte.

„Das hoffe ich“, sagte das Mädchen. „Ich war so glücklich, und Columbus auch, bis das hier passierte.“

„Columbus?“ fragte der Marquis und betrachtete den Hund in seinen Armen.

„Ich habe ihn so genannt, weil er furchtbar neugierig ist“, erklärte die Besitzerin. „Da sehen Sie, wohin ihn seine Neugier gebracht hat.“

Sie seufzte leise, zog ein Taschentuch aus ihrem hellgrünen Kleid und begann, sich die Tränen abzuwischen.

„Sie lesen griechisch?“ fragte der Marquis erstaunt. „Oder hat Ihnen jemand erzählt, daß ,columbus’ neugierig heißt?“

„Ich kann ein bißchen griechisch“, entgegnete sie bescheiden. „Aber wie soll ich Ihnen dafür danken, daß Sie Columbus gerettet haben?“

„Wir haben ihn noch nicht gerettet“, erwiderte der Marquis. „Wie ich schon sagte, müssen wir ihn zu jemanden bringen, der etwas von Hunden versteht und ihn behandeln kann.“

„Ach“, rief das Mädchen hilflos. „Ich glaube nicht, daß es im Dorf einen Tierarzt gibt. Wo kann ich mich erkundigen?“

„Da habe ich einen besseren Vorschlag“, meinte der Marquis. „Ich kenne einen Mann, der sich in solchen Dingen genauso gut auskennt. Er wohnt nicht weit von hier. Sollen wir Columbus zu ihm bringen?“

„Ich möchte Sie nicht noch mehr belästigen“, erwiderte das Mädchen. „Sie waren schon so hilfsbereit.“

„Das macht mir gar nichts aus“, antwortete er.

Der Marquis sah hinunter zu ihr und war überrascht von ihrer eigenartigen Schönheit. Hellblondes Haar umgab ihren Kopf in eigenwilligen Locken. Die großen, auffallend grünen Augen ließen sie wie eine Elfe erscheinen.

„Sie sind sehr nett“, sagte sie. „Wenn Sie nicht gekommen wären, hätte ich nicht gewußt, was ich tun soll.“

„Ein Wildhüter hätte Sie bestimmt wegen unbefugten Betretens festgenommen.“

Ihre Augen weiteten sich erstaunt.

„Ist das hier Privatbesitz?“ fragte sie. „Das wußte ich nicht. Die Wälder um Wien, in denen ich immer mit meinem Vater spazieren ging, waren jedem zugänglich. Ich vergaß, daß ich wieder in England bin.“

„Demnach hat es Ihnen hier im Wald gefallen, bevor das Unglück passierte?“ erkundigte sich der Marquis.

„Oh ja, sehr sogar. Sie können sich nicht vorstellen, was es für mich bedeutet, wieder unter Bäumen zu gehen, zu vergessen, daß ...“ Sie stockte und fuhr dann fort: „Und mich an die Geschichten aus meiner Jugend zu erinnern. Damals waren die Wälder für mich voll von Feen, Drachen und Rittern.“

Sie blieb mitten auf dem Waldweg stehen.

„Natürlich, das sind Sie auch“, rief sie aus, „ein Ritter, der mich gerettet hat - oder vielmehr Columbus. Wie herrlich! Es ist fast wie ein Märchen. Ich hatte solche Angst um Columbus, und plötzlich waren Sie da, der Retter in der Not! Eigentlich hätten Sie auf einem Pferd kommen müssen.“

„Ich bedaure das Versäumnis zutiefst“, erwiderte der Marquis, „aber mein Pferd fühlt sich heute nicht ganz wohl.“

„Und in der Eile konnten Sie sich kein neues besorgen. Jedenfalls sind Sie mir zu Hilfe geeilt, in einer Rüstung wäre das schwierig gewesen.“

„Und außerdem ziemlich laut“, bemerkte der Marquis trocken.

Sie lachten beide. Auf den Wangen des jungen Mädchens erschienen zwei entzückende Grübchen, und ein schelmischer Schimmer trat in ihre Augen.

„Ich verbiete Ihnen, mein Märchen kaputt zu machen.“

„Das möchte ich auf gar keinen Fall“, antwortete er.

„Aber sagen Sie, warum haben Sie so eine Vorliebe für den Wald?“

Sie legte den Kopf ein wenig zur Seite, als wolle sie über seine Frage angestrengt nachdenken.

Nach einer Weile fuhr sie fort: „Ich habe mich im Wald schon immer heimisch gefühlt. Irgendwie scheine ich zu den Bäumen zu gehören, und hier ist es außerdem besonders schön.“

Der Marquis sah sich um. Das frische Grün der Birken wölbte sich über ihren Köpfen, und die einfallenden Sonnenstrahlen warfen ein flirrendes Goldmuster auf den bemoosten Waldweg.

„Sie könnten selbst eine Fee sein“, sagte er. „In Ihrem grünen Kleid wirken Sie wie ein Teil des Waldes.“

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht und ließ sie atemberaubend schön aussehen.

„Vielleicht haben meine Eltern das geahnt, als sie mich tauften“, meinte sie.

„Wie heißen Sie denn?“ fragte der Marquis.

„Sylvina“, gab sie zur Antwort. „Wissen Sie, was das bedeutet?“

Der Marquis schien zu überlegen.

„Ist es griechisch?“

„Nein.“

„Latein?“ fragte er.

Sie nickte.

„Sie sind klug. Können Sie auch noch den Rest raten?“

„Das ist nicht schwer“, meinte er lächelnd. „Waldmädchen?“

Sie lachte wie ein Kind.

„Ich glaube, Sie haben es von Anfang an gewußt, oder Sie sind zu gut im Raten.“

„Und wie heißen Sie noch?“ fragte er.

Zu seiner Überraschung wandte sie das Gesicht ab und schwieg.

Nach einer Weile sagte sie zögernd: „Bitte fragen Sie mich nicht. Heute will ich das alles einmal vergessen. Ich möchte nicht daran denken, warum ich hier bin und woher ich komme, ich möchte nur Sylvina sein.“

„Dann soll es auch so sein“, sagte der Marquis. „Hier im Märchenwald sind Höflichkeitsfloskeln überflüssig. Falls es Sie interessiert, ich heiße Justin.“

Sie drehte sich zu ihm um, und ihre Augen strahlten.

„Das ist wundervoll!“ rief sie. „Nur ein echter Ritter kann Justin heißen. Jetzt kann ich endlich sagen: Vielen Dank, Sir Justin, daß Sie Columbus gerettet haben.“

Sie gingen weiter, bis die Bäume zurücktraten und der Weg an einem Feld endete. Vor ihnen im Tal lag Alton Park. Inmitten von Teichen und farbenprächtigen Blumengärten erhob sich das große Herrenhaus. Tiefgrüne Wälder umgaben es wie ein natürlicher Schutzwall. In der Morgensonne glitzerten die Fenster wie Diamanten.

Stolz betrachtete der Marquis seinen Besitz, als er neben sich eine ängstliche Stimme vernahm: „Das ist bestimmt Alton Park.“

„Ja, sieht es nicht schön aus?“ fragte er.

„Und hier wohnt der Marquis von Alton?“

„Das ist sein Haus“, erwiderte der Marquis.

Nach einer kleinen Pause sagte sie: „Ich kann dort nicht hingehen. Bitte verstehen Sie. Ich möchte nicht nach Alton Park.“

„Ich wollte Sie nur zu jemandem bringen, der im Wirtschaftsgebäude wohnt“, sagte der Marquis und fügte hinzu: „Warum wollen Sie sich ein so schönes Haus nicht einmal von der Nähe ansehen?“

„Der Marquis ist nicht zu Hause, ich weiß“, erwiderte Sylvina. „Bestimmt kommt er nur selten hierher. Ich kann Ihnen den Grund für meine Weigerung nicht nennen. Geben Sie mir bitte Columbus und zeigen Sie mir den Weg ins Dorf.“

Der Marquis war verblüfft.

„Hören Sie, Sylvina“, sagte er, „in Alton Park wird Ihnen bestimmt nichts geschehen. Was haben Sie gegen den Marquis? Kennen Sie ihn denn?“

„Nein, ich habe noch nicht seine Bekanntschaft gemacht“, entgegnete Sylvina förmlich.

„Was haben Sie dann über ihn gehört?“ fragte er weiter.

Er hätte gern gewußt, welches seiner Abenteuer diesem bezaubernden Geschöpf zu Ohren gekommen war. Sie sah nicht so aus, als verkehre sie in höheren Gesellschaftskreisen. Ihr Kleid war hübsch, aber schlicht. Ihre Frisur entsprach nicht der letzten Mode.

„Was wissen Sie von dem Marquis?“ fragte er noch einmal.

Schließlich sagte Sylvina ganz leise, als spräche sie mit sich selbst: „Er soll ein sehr harter Mann sein, alt, furchterregend und unerbittlich.“

„Wer hat Ihnen denn das erzählt?“ wollte der Marquis wissen.

„Oh, ich hätte es nicht sagen sollen“, rief sie. „Sicher ist es ungehörig, so vom Marquis zu sprechen. Aber ich glaube, er ist alt und furchterregend und deshalb ...“ Ihre Lippen zitterten. „Ich kann wirklich nicht nach Alton Park gehen.“

„Da wüßte ich einen Ausweg“, schlug der Marquis vor. „Ich zeige Ihnen eine Stelle, wo Sie auf mich warten können. Inzwischen lasse ich Columbus verarzten und komme dann wieder hierher.“ Als sie zögerte, fügte er hinzu: „Wenn wir nicht schnell etwas unternehmen, wird der arme Kerl eine Blutvergiftung bekommen.“

„Ich weiß“, sagte Sylvina. „Würden Sie das wirklich für mich tun? Ist es nicht zuviel verlangt?“

„Keineswegs“, antwortete der Marquis. „Habe ich mich nicht Ihrem Dienst geweiht? Das tut ein Ritter doch gewöhnlich, wenn er jemandem helfen will.“

Eine liebliche Röte stieg in ihre Wangen, und sie schlug die Augen nieder.

„Ich werde auf Sie warten.“

Er führte sie zu einem umgestürzten Stamm. Der Baum war sehr alt und halb von Efeu überwuchert.

„Ich werde nicht länger wegbleiben, als unbedingt nötig“, versprach er.

Der Marquis entfernte sich. Der Hund in seinen Armen winselte nur manchmal, wenn das verletzte Bein ihm weh tat.

Fast eine Stunde war vergangen, als er wieder zurückkehrte. Ob das Waldmädchen immer noch auf ihn wartete? Das Ganze kam ihm so unwirklich vor. Nur ein kleiner Blutfleck auf seinem Ärmel zeigte, daß es kein Traum war. Leise ging er zwischen den Bäumen hindurch. Da sah er sie.

Mit großen Augen schaute sie zu den Baumkronen hinauf. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, als errege sie der Gedanke, mitten im Wald und ein Teil davon zu sein. Ihm fiel auf, wie zierlich sie war. Wenn sie neben ihm stand, reichte sie ihm gerade bis zur Brust. Die Bewegungen ihrer kleinen, schlanken Figur erinnerten ihn in ihrer Anmut an den Flug des Eisvogels. Als ob sie spürte, daß sie beobachtet wurde, wandte sie den Kopf, und es schien, als finge sich der Sonnenschein in ihren Augen.

„Sie sind wieder da!“ Sylvina sprang auf und lief ihm entgegen.

Erst als sie vor ihm stand, merkte sie, daß er allein war.

„Columbus!“ rief sie. „Was ist mit ihm geschehen?“

„Es geht ihm gut“, beruhigte der Marquis sie. „Nur der Muskel ist verletzt, der Knochen ist nicht gebrochen. Der Mann hat die Wunde verbunden und dem Hund ein schmerzstillendes Mittel eingeflößt. Darum soll Columbus noch ein wenig Ruhe haben. Später können Sie ihn wieder mitnehmen.“

„Er wird doch wieder gesund werden?“

„Ich versichere Ihnen, daß er nicht ernsthaft verletzt ist. Columbus hat Glück gehabt. Die Falle hätte ihn schwerer verwunden können. In zwei oder drei Wochen wird er wieder ganz wohlauf sein.“

„Dann bin ich beruhigt“, rief Sylvina. „Wie kann ich Ihnen nur danken?“

„Indem Sie mir erlauben, Ihnen Gesellschaft zu leisten, bis Columbus transportfähig ist. Darf ich Ihnen einen kleinen Weiher zeigen, wo das Wild abends zur Tränke geht? Ich bin ganz sicher, daß Pan dort manchmal auf seiner Flöte spielt. Doch nicht alle Menschen können ihn hören.“

Sylvina schlug vor Freude die Hände zusammen.

„Haben Sie das Pansflöten schon einmal vernommen? Das habe ich mir schon immer gewünscht. Nur einen Zaubervogel möchte ich noch lieber sehen.“

„Einen Zaubervogel?“ rief der Marquis.

„Ja. Meine Mutter erzählte mir immer, wenn Menschen sehr glücklich sind, dann schicken ihnen die Götter einen Zaubervogel. Der singt ihnen von himmlischen Freuden, wie man sie auf Erden gar nicht kennt. Nur er weiß das richtige Lied für Menschen, die sich wahrhaft lieben.“

„Und Sie glauben wirklich, wir würden heute vielleicht einen hören?“ fragte der Marquis.

Verwirrt errötete sie.

„So habe ich es nicht gemeint“, erwiderte sie. „Ich wollte damit nur ausdrücken, daß es ein einmaliges Erlebnis für mich wäre.“

„Sie haben nichts Falsches gesagt“, antwortete der Marquis schnell. „Ich wollte Sie nur necken. Stört Sie das?“

„Aber nein“, meinte Sylvina, „mein Bruder neckt mich oft. In den letzten Jahren war ich nur viel allein und habe mir angewöhnt auszusprechen, was mir durch den Kopf geht.“

„Ich freue mich“, sagte der Marquis, „endlich jemanden zu treffen, der offen und ehrlich sagt, was er denkt.“

„Das würde ich gerne glauben“, erwiderte Sylvina, „aber Mr. Cu ...“ Sie stockte. „Es gibt Leute, die sagen, ich müßte versuchen, mich wie eine Dame zu benehmen. Aber ich hasse die vornehme Welt und möchte nichts mit ihr zu tun haben.“

„In der Gesellschaft hätten Sie viel Erfolg“, meinte der Marquis. „Sie sind schön, und schöne Frauen sind dort sehr beliebt.“

„Jetzt necken Sie mich schon wieder“, beklagte sich Sylvina. „Ich weiß, daß ich nicht schön bin. Das Kleid hier habe ich selbst genäht. Wenn mich die Damen in London so sähen, würden sie mich auslachen. Doch ich habe nicht die geringste Lust, mich so anzuziehen, wie manche Leute es von mir verlangen.“

Der Marquis war bestürzt, wie unglücklich ihre Stimme klang.

„Warum sollte jemand so etwas von Ihnen verlangen?“

Sie zögerte und sagte dann: „Wir haben doch beschlossen, heute alles Traurige und Böse zu vergessen.“

„Das stimmt“, sagte der Marquis und lächelte.

„Nur für eine kurze Weile möchte ich nicht daran denken, daß ich wieder zurück muß, Sir Justin“, bat Sylvina. „Wir wollen so tun, als gäbe es nur den Wald, und wir könnten für immer hierbleiben.“

„Für immer?“ fragte der Marquis erstaunt.

„Für immer“, antwortete Sylvina fast heftig. „Ich möchte mir vorstellen, daß es außerhalb des Waldes keine Welt gibt. Dann liege ich hier im Moos unter den Bäumen, die Zeit vergeht, und eines Tages wache ich auf und bin alt und grau. Dann wäre ich glücklich.“

„Aber es muß doch auch eine weniger dramatische Lösung für Ihr Problem geben“, meinte er.

Sie schüttelte den Kopf.

„Manchmal meinen wir alle, wir wären wie Columbus in einer Falle gefangen, doch wenn man sich bemüht, gibt es immer einen Ausweg.“

„Für mich nicht“, antwortete Sylvina niedergeschlagen.

„Sind Sie ganz sicher?“ fragte der Marquis. „Soll ich einmal für Sie nachdenken? Im Lösen von Rätseln bin ich ziemlich geschickt.“

Sie sah ihn an und sagte mit unendlich trauriger Stimme: „Es wäre schön, wenn Sie mein Problem lösen könnten, aber es ist nicht allein meines. Also kann ich es nur selbst versuchen, und leider gibt es keinen Ausweg.“

„Darf ich dann wenigstens…“begann er, doch sie unterbrach ihn.

„Oh, schauen Sie!“ flüsterte sie.

Während ihres Gesprächs hatten sie den Weiher erreicht. Die Sonne warf ihre schimmernden Strahlen durch die Bäume und ließ das Wasser glitzern. Goldgelbe Butterblumen säumten in verschwenderischer Fülle die Ufer. Der ganze Platz schien verzaubert zu sein.

Der Marquis spürte, wie eine kleine Hand aufgeregt in seine schlüpfte und eine leise Stimme sagte: „Danke, vielen Dank, lieber, guter Sir Justin, daß Sie mich hierhergeführt haben.“

Ein sanft geneigter Abhang reichte bis zum Ufer hinunter. Sylvina setzte sich auf ein Moospolster und zog den Rock über ihre Knöchel.

„Bleiben wir einen Augenblick“, schlug sie vor. „Vielleicht sehen wir ein paar Tiere, die zur Tränke kommen.“

Er ließ sich neben ihr nieder. Seine Stiefel glänzten in der Sonne. Nach einem kurzen Blick auf ihn sah sie zum Wasser hinunter. Sie war aufgeregt wie ein Kind, das man zum ersten Mal zu einer Kirmes mitnimmt.

Der Marquis betrachtete sie mit einem Gesichtsausdruck, den seine Freunde nicht an ihm kannten. Aller Zynismus war daraus verschwunden, auch der harte Zug um seinen Mund. In seinen Augen zeigte sich keine Langeweile. Der Wind fuhr durch die Baumwipfel. Es klang, als sängen die Blätter eine leise Melodie. In der Ferne schrie ein Kuckuck, und Waldtauben gurrten verliebt.

Auf einmal trat ein Reh vorsichtig zwischen den Bäumen hervor. Es blieb einen Moment stehen, als spüre es ihre Nähe. Dann neigte es den Kopf und trank. Nach einer Weile richtete es sich wieder auf, setzte mit müheloser Leichtigkeit über einen Busch hinweg und war im nächsten Augenblick verschwunden.

Sylvina schrie leise auf vor Entzücken.

„War das nicht wunderschön?“ fragte sie.

„Wunderschön“, stimmte ihr der Marquis zu.

Doch dabei sah er nur, wie ein Sonnenstrahl ihr Haar vergoldete, das ihr herzförmiges Gesicht umrahmte wie ein Heiligenschein.

Sie fühlte seinen Blick.

„Wir sollten umkehren“, sagte sie schüchtern, als wäre ihr plötzlich bewußt geworden, daß sie mit einem Mann allein war.

„Wir brauchen uns nicht zu beeilen“, erwiderte er. „Je länger Columbus sich ausruhen kann, desto besser ist es für sein Bein.“

Sylvina stand auf.

„Trotzdem möchte ich jetzt zurück“, sagte sie langsam.

„Haben Sie Angst vor mir?“ forschte der Marquis.

Sie hob das Kinn, als wäre diese Frage eine Beleidigung.

Dann sagte sie: „Vor Ihnen nicht, aber vor dem, was die Leute sagen würden, wenn sie wüßten, daß ich hier bin.“

„Wie sollen sie es erfahren?“ fragte er. „Haben wir nicht beschlossen, daß dies ein paar verzauberte Stunden sein sollen, die wir der Ewigkeit entreißen? Wir kennen einander nicht, und weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Wer weiß? Vielleicht sind wir sogar unsichtbar.“

Da lachte sie, und er konnte sehen, wie ihre Anspannung nachließ.

„Kommen Sie“, befahl er. „Ich möchte Ihnen noch etwas zeigen.“

Zögernd folgte sie ihm tiefer in den Wald. Der Pfad schlängelte sich zwischen den Bäumen hindurch. Er sah aus, als hätte ihn noch nie eines Menschen Fuß betreten.

Bald lichtete sich der Wald, und ein Meer von Rhododendronbüschen mit roten und weißen Blüten breitete sich vor ihnen aus. Sylvina sagte kein Wort, aber der Marquis wußte, daß sie die Schönheit jedes einzelnen Strauches in sich aufnahm. Als sie zwischen den Büschen hindurchwanderten, fragte sie: „Wohin bringen Sie mich?“

„Können Sie sich etwas Schöneres vorstellen, als diese Blumenpracht?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Ich glaube, ich träume und bin im Himmel.“

„Oh, ich vergaß, mich Ihnen vorzustellen“, antwortete er. „Ich bin ein Hexenmeister und habe einen Zauber vorbereitet, an dem Sie hoffentlich Gefallen finden werden. Machen Sie die Augen zu und geben Sie mir die Hand.“

„Was ist das für ein Zauber?“ fragte sie erfreut und tat, wie er gesagt hatte.

Ihre langen, dunklen Wimpern lagen wie Schmetterlingsflügel auf der hellen, fast durchsichtigen Haut. Der Marquis spürte, wie ihre kühlen, schlanken Finger in seiner starken, warmen Hand zitterten. Er zog sie weiter.

„Machen Sie die Augen nicht auf, bevor ich es sage“, mahnte er. Kurz darauf drehte er sie nach links und ließ ihre Hand los.

„Abrakadabra!“ rief er. „Jetzt dürfen Sie schauen.“

Erwartungsvoll öffnete sie die Augen und erblickte einen griechischen Tempel. Wie eine weiße Perle schimmerte er zwischen dem flammenden Purpur des Rhododendrons hindurch.

Entzückt verharrte sie eine Weile in stummer Betrachtung.

Dann fragte sie ehrfürchtig: „Kommt er wirklich aus Griechenland?“

„Aber ja“, erwiderte der Marquis. „Mein Großvater brachte ihn vor hundert Jahren nach England. Meinen Sie nicht auch, daß sogar Götter sich hier wohl fühlen würden?“

„Er ist vollkommen“, erwiderte sie.

„Das ist noch nicht alles“, fuhr der Marquis fort. „Sehen Sie ihn sich erst einmal von innen an.“

Durch den weißen Säulenvorbau betraten sie den kühlen Innenraum. Da stand ein weißgedeckter Tisch, beladen mit allen möglichen Delikatessen, Kristallgläsern und Weinflaschen in silbernen Eiskübeln. Sylvina staunte und sah den Marquis fragend an.

„Ich dachte, wir könnten eine Erfrischung gebrauchen“, erklärte dieser. „Wollen wir hoffen, daß sich das Essen der Umgebung würdig erweist. Wenigstens der Wein sollte wie Nektar schmecken.“

„Wie kommt das alles hierher?“ fragte sie.

„Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich ein Zauberer bin“, meinte der Marquis lächelnd.

„Das haben Sie veranlaßt, als Sie Columbus wegbrachten.“

„Für so realistisch hätte ich Sie nicht gehalten“, sagte der Marquis vorwurfsvoll. „Könnten Sie nicht wenigstens so tun, als sei es ein Geschenk der Götter?“

Zwei Grübchen erschienen auf ihren Wangen.

„Vielleicht kommt es Ihnen allzu menschlich vor, aber ich bin entsetzlich hungrig.“

„Warum setzen wir uns nicht?“ schlug der Marquis vor.

Sylvina ging auf den Tisch zu. Doch plötzlich verhielt sie den Schritt und fragte mißtrauisch: „Der Tempel und das Essen, das gehört doch nicht etwa dem Marquis von Alton?“

Der Marquis überlegte einen Moment, dann erwiderte er wahrheitsgemäß: „Es gehört alles mir.“

„Da bin ich aber froh“, rief sie. „Ich möchte nicht das Geringste mit ihm zu tun haben.“

„Was haben Sie eigentlich gegen ihn?“

„Bitte, ich möchte nicht über Seine Lordschaft sprechen. Schon der Gedanke an ihn macht mir Angst.“

„Angst?“ fragte er.

„Ich kann Ihnen nicht sagen warum“, antwortete sie. „Bitte, Sir Justin, lassen Sie mich meine Furcht wenigstens für eine kurze Weile vergessen. In der letzten Stunde fühlte ich mich so frei und unbeschwert, als hätten Sie wirklich den Drachen getötet, der mich bedroht.“

In ihren Augen lag Angst, die Angst eines wehrlosen Tiers, das von einer Hundemeute verfolgt wird. Er beugte sich vor und legte seine Hand auf die ihre.

„Wie kann ich Ihnen helfen, Sylvina?“ fragte er eindringlich.

Sie sah ihn an. Sein Blick hielt dem ihren fest, und eine Zeitlang sprachen sie kein Wort. Es schien dem Marquis, als wären sie von einem magischen Bann umfangen. Etwas Unerklärliches und doch tief Lebendiges ereignete sich zwischen ihnen. '

Dann drehte Sylvina den Kopf zur Seite, und der Zauber war gebrochen.

„Sie können mir nicht helfen. Niemand kann es.“

Der Marquis bemerkte, daß sie nahe daran war, in Tränen auszubrechen. Er zog einen Silberkübel heran, wickelte eine weiße Damastserviette um die Flasche und füllte die Gläser mit dem goldenen Wein.

„Essen wir etwas. Ich hoffe nur, daß Sie mit dem bescheidenen Imbiß zufrieden sind.“

„Bescheiden?“ Sylvina bemühte sich, zu einem normalen Gesprächston zurückzufinden. „Es ist so viel da, daß ein Dutzend hungriger Männer davon satt würden.“

„Was darf ich Ihnen davon anbieten?“ fragte er. „Sollen wir mit dieser Gänseleberpastete anfangen? Zugegeben, für den Olymp ist das etwas sehr Prosaisches. Zumindest sollten es Nachtigallenzungen oder Adlerherzen sein.“

„Ich glaube nicht, daß die Götter so grausam sind“, »antwortete Sylvina.

Sie merkte kaum, was sie aß, nur daß jeder Bissen köstlich schmeckte. Als sie an dem Wein nippte, spürte sie, daß er ziemlich schwer war, denn die ganze Welt erschien ihr auf einmal wie in Gold getaucht. Es lag nicht nur an der verschwenderischen Blütenpracht, an der erlesenen Schönheit des Tempels oder an dem vielstimmigen Konzert der Vögel, auch der Mann neben ihr schien einen seltsamen Zauber auf sie auszuüben.

„Erzählen Sie mir, warum Sie das Landleben lieben“, bat der Marquis.

„Bedeutet es Ihnen nicht auch soviel? Sonst wären Sie wohl kaum ohne Hut und Stock durch den Wald spaziert. Sie wären nicht einmal gelaufen, sondern geritten. Die Herren in London unternehmen fast nichts ohne Pferd. Sie fahren in Kutschen, Zwei- und Vierspännern, oder reiten im Hyde Park aus. Die Pferde sind meist sehr schön, aber ich stelle mir immer vor, daß sie wahrscheinlich lieber über Felder und Wiesen galoppieren und sich frei und unbeschwert fühlen würden, so wie wir im Augenblick.“

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9781782138792
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