Als sie sich’s aber nach dem Mahle im Rauchzimmer, Frau Violet auf ihrem Lieblingsplätzchen, bequem gemacht hatten, da erteilte sie ihm sofort das Wort.
»Die Arbeit ist getan, Frau Violet«, begann er. »Meine Mission ist erfüllt. Sie werden mit diesen elenden Briefen nicht mehr behelligt werden. Und auch du, Grumbach, wirst der Unannehmlichkeit enthoben sein.«
»Was mich betrifft«, erwiderte dieser, »so hätte es mich bei meiner Methode auch weiter nicht sonderlich gestört. Jedenfalls hast du mich aber wieder einmal tief zu Danke verpflichtet, Dagobert.«
»Erzählen Sie!« drängte Frau Violet.
»Ich weiß nicht, Gnädigste, ob es nicht rätlicher wäre, dass Sie sich mit der Tatsache der Befreiung begnügten, ohne nach den einzelnen Umständen zu forschen.«
»O nein, Dagobert, ich will alles wissen!«
»Gut. Also – den Missetäter hätten wir!«
»Wer ist es?«
»Wie ich bereits bemerkt habe, ein Zigarettenraucher, der glattrasiert ist. Wie ich daraufgekommen bin, wissen Sie. Wir waren bis dahin gekommen, dass mir einer Ihrer Freunde von seinem bürgerlichen Sultan flor anbot.«
»Wer ist das?«
»Am nächsten Tage machte ich diesem Manne meinen Besuch, und zwar zu einer Zeit, wo ich bestimmt wusste, dass er nicht zu Hause sein werde. Ich konnte das wissen; denn ich hatte mich erkundigt. Er war zu jener Zeit bei einer Bühnenprobe beschäftigt. Mein Besuch war nötig und nützlich. Ich konnte meine Vorkehrungen treffen. Als ich Sie heute Morgen verließ, fuhr ich zum Kriminalkommissär Dr. Weinlich. Das ist der einzige fähige Kopf bei unserer Kriminalpolizei. Wir sind befreundet und tauschen gelegentlich unsere Erfahrungen und Beobachtungen aus. Ich darf wohl sagen, ohne unbescheiden zu sein, dass wir uns gegenseitig anregen und gegenseitig voneinander lernen. Ich trug ihm den Fall vor und fragte ihn, ob er behilflich sein wolle, die bedrohte Ehre und den Frieden eines angesehenen Hauses zu schützen. Ich verlangte nicht ein amtliches Eingreifen, erklärte dieses sogar von vornherein für ausgeschlossen. Ich brauchte nur einen sachkundigen und eindrucksvollen Zeugen zu der Verhandlung, die ich vorhatte. Er war sofort mit von der Partie, und wir fuhren zu dem Manne, den wir diesesmal – dessen hatte ich mich schon versichert – zu Hause trafen. Der Schwarze ist heute übrigens wieder ganz vorzüglich, Frau Violet, und was Ihren Kognak betrifft, so wollte ich schon längst einmal fragen –«
»Ach, Dagobert, lassen Sie jetzt doch die Kognakfrage! Erzählen Sie weiter!«
»Nein, wirklich! Für Kognak, müssen Sie wissen, bin ich Kenner, und da –«
»Dagobert!«
»Also wir trafen den Mann zu Hause.«
»So sagen Sie doch endlich um Gottes willen, wer es ist!«
»Er empfing uns großartig. Auch zu Hanse ganz – père noble.«
»Dagobert! Sie wollen doch nicht sagen – –«
»Ich will.«
»Doch nicht Walter –«
»Walter Frankenburg, der große Mime und väterliche Menschenfreund.«
»Das ist entsetzlich!«
Er empfing uns also großartig. Mich wollte er gleich nur umarme, ich winkte aber gelassen ab. Ich machte es kurz und entschieden. Ich stellte den k. k. Polizeioberkommissär Dr. Weinlich vor, den ich gleich mitgebracht habe, da wir einer ganz niederträchtigen Lumperei auf der Spur seien. Dann zog ich zwei Briefe aus der Tasche, den von vorgestern und den heutigen, beide noch uneröffnet.
»Kennen Sie diese Briefe, Herr Frankenburg?«
»Nein. Man wird doch nicht glauben –«
»Was wird man nicht glauben?«
»Dass ich sie geschrieben habe!«
»Warum sollten denn Sie sie nun nicht geschrieben haben können? Es könnte ja ihr Inhalt zufällig auch ein hochanständiger sein!«
Er merkte, dass er sich verfangen hatte, und erbleichte, immer war er aber noch ganz der Heldenvater. Er sei hier zu Hause und werde sein Hausrecht wahren. Er sei nicht gesonnen, sich in seiner Wohnung wegen einer ebenso schmählichen als unbegründeten Verdächtigung förmlich verhören zu lassen.
»Ich war der Meinung«, entgegnete ich, »dass Sie ein Verhör hier dem im Gerichtssaale vorziehen würden.«
»Im Gerichtssaale, Herr, werden Sie sich zu verantworten haben!«
»Ich fürchte nur, dass Sie mir keine Gelegenheit dazu bieten werden. Also Sie leugnen. Das ist Ihr Recht. Sie wissen aber leider nicht, dass ich Sie mit meinen Beweisen wie in einem eisernen Schraubstock halte. Sie können zappeln, so viel Sie wollen, Sie kommen nicht mehr los.«
»Die Beweise möchte ich kennen!«
»Sofort. Ich hatte mir die Ehre gegeben, gestern bei Ihnen vorzusprechen. Sie haben meine Karte doch vorgefunden?«
»Ja.«
»Haben Sie sie noch?«
»Jawohl, hier ist sie.«
»Schade. Sie hätten sie vernichten sollen. Denn sie bildet nun ein starkes, vielleicht das stärkste Beweisstück gegen Sie.«
»Was soll die Karte gegen mich beweisen? Sie schreiben mir auf ihr, ob ich nicht in der nächsten Zeit im Klub der Industriellen etwas vortragen wollte. Ich habe bis jetzt weder zugesagt, noch abgelehnt. Wie soll ich da nun etwas verbrochen haben?!«
»Sie wollen noch immer nichts zugeben. Gehen wir also methodisch vor. Zunächst wäre ich also in der Lage, Ihnen nachzuweisen, dass sich dasselbe Briefpapier, das zu diesen anonymen Sudeleien verwendet worden ist, in Ihrem Schreibtische vorfindet.«
»Wer kann das behaupten?«
»Ich. Ich bin nicht umsonst fünf Minuten an diesem Schreibtisch gesessen, wenn auch unter den sorglichen Augen Ihrer Wirtschafterin, die mir die Honneurs machte. Hier, Herr Kriminalkommissär, was für Parfüm haben diese beiden Briefe?«
»Ich glaube, es ist ein leichtes Veilchenparfüm«, erwiderte Dr. Weinlich, nachdem er die Briefe zur Nase geführt hatte.
»Einerlei, was es ist«, erklärte ich, »jedenfalls billige Sorte. Für Parfüms bin ich Kenner. Die Hauptsache ist, wollen Sie einmal, Herr Kriminalkommissär zur oberen Schreibtischlade rechts riechen.«
»Es ist in der Tat genau dasselbe Parfüm.«
»Das ist die Hauptsache. Sie wollen uns die Lade nicht aufschließen, Herr Frankenburg. Ich nötige Sie nicht, obschon ich glaube, dass wir dort einen Beweis finden könnten. Allerdings keinen genügenden. Das gebe ich Ihnen zu. Sie können auch sonst beruhigt sein. Wir haben keinen Hausdurchsuchungsbefehl mit, können Sie also auch nicht zwingen. Wir könnten uns ja schließlich einen solchen Befehl verschaffen, aber wir brauchen ihn nicht. Ich habe etwas Besseres. Als ich an diesem Tische zu sitzen die Ehre hatte, habe ich die Gelegenheit benutzt, um aus diesem Vexierring, den Sie an meinem Finger sehen, drei Tropfen in Wasser aufgelöster Bronzefarbe in Ihr Tintenfass zu träufeln. Sie konnten den kleinen Scherz nicht bemerken, Herr Frankenburg, er hat Sie aber festgemacht. Die Karte, die ich schrieb, war das letzte Dokument, das an diesem Schreibtisch mit glanzloser Tinte geschrieben wurde. Was später geschrieben wurde, musste, wenn die Tinte einmal eingetrocknet war, den verräterischen und unwiderleglichen Metallglanz aufweisen. Vergleichen Sie gütigst diese beiden Briefe, Herr Kriminalkommissär. Der eine ist vor, der andere nach meinem Besuche geschrieben worden, wie die Poststempel ausweisen.«
»Auch das ist unverkennbar«, bestätigte Dr. Weinlich.
»Tatsache ist nun, dass Sie alle Schreibtische Wiens gerichtlich durchsuchen lassen können, auf keinem wird diese absonderliche Tinte wiederzufinden sein. Glauben Sie nun, Herr Walter Frankenburg, dass ich Sie festhalte?«
»Nun, hat er gestanden?« fragte Frau Violet in höchster Spannung.
»Er war gebrochen, gab jeden Widerstand auf und alles zu. Und nun, Frau Violet, rüsten Sie sich zur großen Gerichtsverhandlung!«
»Was fällt Ihnen ein, Dagobert?! Soll ich mich vielleicht als Zeugin hinausstellen und dann in den Sensationsberichten durch alle Zeitungen schleifen lassen!!«
»Ja, was soll ich sonst mit dem Manne anfangen?«
»Schaffen Sie ihn ab aus Wien, legen Sie ihm sonst eine Buße auf, was Sie wollen, aber mich lassen Sie aus dem Spiele!«
»Merkwürdig, wie man sich täuschen kann! Ich dachte, weil Ihnen diese Art der Strafe bei der Gräfin viel zu mild schien –«
»O, das war etwas ganz anderes!«
»Ich weiß nicht, ob es etwas ganz anderes war, aber für alle Fälle habe ich auch ihn vom Fleck weg verbannt. Er wird nie mehr eine Wiener Bühne betreten, außerdem schickt er diesen Betrag für Ihren Wohltätigkeitsverein, meine Gnädigste. Den Ausweis wird er in den Zeitungen finden. Das Schlagwort wird lauten: ›Von einem überwiesenen Schurken‹, und er wird sich erkennen.«
1 Gepäck oder (fallweise) Kutsche <<<
2 beutelartige Damenhandtasche mit Zugbändern <<<
3 (frz.) hier etwa: komme, was wolle <<<
4 Frühstück <<<
5 (franz.) Heldenvater. <<<
Andreas Grumbach, seine Gattin, Frau Violet, hatten sich gerade zu Tische gesetzt, als Dagobert eintrat. War das eine Überraschung! Seit zwei Monaten hatten sie ihn mit keinem Auge gesehen. Er war förmlich verschollen gewesen.
»Es ist schön von Ihnen, Dagobert, dass Sie wenigstens noch am Leben sind!« bewillkommnete ihn Frau Violet freudig erregt, während ihm Grumbach mit Herzlichkeit die Hand schüttelte.
»Ich gebe zu, es ist ein hübscher Zug von mir, aber es hätte wahrhaftig nicht viel gefehlt –«
Er vollendete nicht, und man fragte nicht. Man wusste von früher her schon, dass er bei Tische, solange die aufwartende Dienerschaft noch ab und zu ging, nicht zum Reden zu bringen sein werde, und so fragte man sich vorderhand nur gegenseitig das Befinden ab und erging sich sonst in allgemeinen und gleichgültigen Redensarten.
Der Bediente, der gerade die Suppe servierte, hatte gar nicht erst den Wink der Hausfrau abgewartet, sondern, wie es sich für einen gutgeschulten Diener, der den Brauch des Hauses kennt, gehört, aus freien Stücken und im eignen Wirkungskreise für den Gast ein frisches Gedeck aufgelegt.
Frau Violet war aber doch riesig neugierig, und sie hatte auch allen Grund dazu. Zwei Monate sich nicht anschauen zu lassen und gar kein Lebenszeichen von sich zu geben – so etwas war überhaupt noch nicht dagewesen! Dagoberts Antlitz wies eine Blässe wie von überstandener Krankheit auf, und sein Petruskopf erschien ihr nun noch viel interessanter als schon früher. Sie kannte die große Passion Dagoberts, sich als Amateur-Detektiv um Dinge zu kümmern, in Sachen hineinzumischen und ihnen nachzugehen, die ihn eigentlich gar nichts angingen und sich dabei gelegentlich in recht bedenkliche und gefährliche Zwischenfälle verwickeln zu lassen. Sie erinnerte sich dabei dankbaren Gemütes, welch wichtige Dienste er mit seiner merkwürdigen Gabe scharfsinniger Kombinationskunst als Gentleman-Detektiv wiederholt auch ihrem Hause schon geleistet habe.
Als der Diener auf einen Augenblick das Zinnner verließ, konnte sie sich nicht enthalten, ihm die Frage zuzuflüstern: »Sie waren verreist, Dagobert?«
»Jawohl, eine kleine Reise – eigentlich eine unfreiwillige Reise.«
»Wohin?«
»Nach Pressburg.«
»Eine Stunde von Wien – das ist doch keine Reise!«
»Es sind so gegen sechzig Kilometer.«
»Man bleibt nicht zwei Monate in Pressburg, noch dazu im Winter!«
»Sehr richtig. Für die Rückfahrt musste ich allerdings einen kleinen Umweg machen so von ungefähr zweitausend Kilometern. Ich bin nämlich über Mentone1 zurückgekommen.«
Die Unterhaltung wurde unterbrochen, als der Diener wieder eintrat. Frau Violet, die ja wusste, dass Dagobert, wie er das immer gern getan hatte, nach Tisch beim schwarzen Kaffee im Rauchzimmer, seine Erlebnisse in der Zwischenzeit erzählen werde, war doch zu ungeduldig, einiges Nähere jetzt schon zu erfahren, um nicht eine neuerlich sich darbietende Gelegenheit zu einer Frage zu benützen.
»Sie waren natürlich wieder – in Geschäften fort, Dagobert?«
»Ich antworte wie Franz Liszt antwortete, als ihn ein Potentat fragte, ob er in Wien gute Geschäfte gemacht habe: Ich mache keine Geschäfte, ich mache Musik, Majestät.«
»Aber ich meinte ja – die Musik, Dagobert!«
Auch so wäre noch ein Missverständnis möglich gewesen. Denn tatsächlich hatte Dagobert die große Passion auch für die Musik, die er leidenschaftlich liebte. Auch da galt er als hingebungsvoller Amateur, und dabei hätte er es sich keineswegs gefallen lassen, bloß als Dilettant angesehen zu werden. In Wahrheit hatte Frau Violet gar nicht die Musik gemeint, sondern seine andere Liebhaberei, die für die Detektivkunst. Diese Kunstliebhaberei war ihr an ihm doch noch die interessantere.
Als dann die kleine Gesellschaft das Rauchzimmer betrat, richtete Frau Violet dem Gaste, den sie der an ihm ungewohnten Blässe halber noch immer als Patienten betrachtete und daher mit einer gewissen Mütterlichkeit betraute, seinen Sitz in der Nähe ihres Lieblingsplätzchens am Kamin her. Der Hausherr selbst nahm seinen gewohnten Platz am Ranchtischchen in der Mitte des Zimmers ein. Der Kaffee war serviert, man hatte sich mit Zucker, die Herren mit Zigarren, Frau Violet mit einer Zigarette versorgt. Man war unter sich und ungestört.
»Sie haben sich sicher wieder in irgendeine verrückte Geschichte eingelassen, Dagobert«, begann Frau Violet.
»Sehr verrückt, meine Gnädigste!«
»Sie werden einmal schlecht dabei wegkommen, Dagobert. Ich habe Sie oft genug gewarnt.«
»Man schafft sich seinen Lebensinhalt, Frau Violet. Wissen Sie, was ich eigentlich am allerliebsten täte?«
»O ja, am liebsten würden Sie – Musik machen.«
»Das tue ich so wie so. Die tiefste Sehnsucht gilt immer dem Unerreichbaren, und am liebsten möchte man gewöhnlich das tun, was man nicht kann.«
»Was möchten Sie denn also am allerliebsten tun?«
»Novellen schreiben.«
»Aber – Dagobert!«
»Da ich das aber nicht kann – leider! – so trachte ich wenigstens, meine Novellen zu erleben.«
»Erlebte Novellen – das ist auch schon etwas, vielleicht mehr und Besseres als geschriebene.«
»Ob auch Besseres – das möchte ich nicht so schroff behaupten, Frau Violet! Das Leben ist kolossal fruchtbar im Dichten, aber es dichtet nicht immer kunstgemäß. Wo nach allen Regeln der Kunst eine verfolgte Unschuld not täte, da fehlt gewöhnlich die Unschuld, und wo man den geistsprühenden Baron brauchte, wie einen Bissen Brot, dass er mit seiner wundervollen Vorurteilslosigkeit zum Schlusse alles ins richtige Geleise bringe, da ist im Leben weit und breit keine Spur von ihm zu entdecken. So sind denn meine Novellen eigentlich immer recht kunstlos gefügt, und sie geraten sehr selten zu einem allseits befriedigenden Abschluss. Die Kunstform der Novelle –«
»Mein lieber Dagobert, das alles ist sicher sehr schön und gut, was Sie mir da entwickeln wollen, aber es ist nicht das, was ich von Ihnen erwarte.«
»Verzeihung, Gnädigste. Ich weiß, dass ich verpflichtet bin, Ihnen meine Beichte abzulegen. Ich beginne also meine Novelle, die eigentlich keine ist, weil –«
»Keine Philosophie mehr, Dagobert. Ich wünsche Tatsachen.«
»Gut. Eine Tatsache war es, dass mein Arzt eines schönen Tages – es war so um die Mitte Oktober herum – an mir eine leichte Leberanschwellung und gleichzeitig eine kleine Gallenaffektion feststellte.«
»Sie waren leidend, Dagobert, und haben uns keine Mitteilung gemacht!«
»Der Esel meinte, ich hätte vielleicht ein wenig zu gut gelebt. Als ob man überhaupt zu gut leben könnte. Natürlich habe ich immer darauf gehalten, so gut als möglich zu leben, aber ich bin ein Epikuräer und habe mir immer etwas zugute getan auf meine Weisheit im Genießen.«
»Nun scheint Sie Ihre Weisheit gelegentlich doch im Stiche gelassen zu haben.«
»Meine Leber hat mich im Stiche gelassen. Ich hätte Besseres von ihr erwartet. Also nun los mit der Karlsbader Kur! Es war nicht nötig, deshalb nach Karlsbad zu fahren; sie konnte auch zu Hause erledigt werden. Der Arzt hatte es gnädig gemacht mit mir. Des Morgens vor dem Frühstück einen anständigen Becher Mühlbrunn, darauf sofort eine halbe Stunde spazieren laufen – das war alles. Die Sache war mir ungewohnt und nicht eben angenehm. Gleich in aller Gottesfrühe fortrennen und so zwecklos spazieren gehen – das ist nie mein Fall gewesen, aber es musste sein.«
»Dem Arzte muss man folgen, Dagobert!«
»Natürlich. Ich schiebe also los und hatte gleich am ersten Tage meine Novelle.«
»Sie haben immer Glück gehabt.«
»Es kommt darauf an. Wie Sie wissen, habe ich mein Junggesellenheim vor kurzem nach der Elisabeth-Promenade verlegt, die sich ja, wie Sie wissen, großartig herausgemacht hat. Früher hieß sie Rossauer Lände und unsere Stadtväter haben sie jetzt erst umgetauft. Ich finde, dass das eine recht überflüssige Wallung von Vornehmtuerei war. Ross-Au-Lände – so gut deutsche Wörter, die frische und angenehme Vorstellungen wecken. War es da unbedingt nötig –«
»Gott, Dagobert – ich warte auf Ihre Novelle!«
»Ich wollte nur sagen, das damit die Linie für meine Spaziergänge gegeben war.«
»Natürlich! Die Promenade ist sehr schön.«
»Im Gegenteil – durchaus nicht natürlich. Die Promenade – wenn Sie das kühne Bild gestatten wollen – wächst mir nämlich schon zum Halse heraus. Wenn man den Weg tagtäglich ohnedies mehrmals machen muss, dann wird man sich ihn nicht auch noch zum Spazierengehen aussuchen. Das wäre ja tödlich langweilig. Für mich war es also klar, dass ich meinen Weg über die Brigittabrücke nehmen musste, in die Brigittenau, den zwanzigsten Bezirk, in den ich früher äußerst selten gekommen war und den ich daher fast noch gar nicht kannte. Als Grillparzer in seinem ›Armen Spielmann‹ die Brigittenau schilderte, da war sie wirklich noch eine Au, jetzt ist sie eine Großstadt für sich mit einer allerdings verhältnismäßig recht armen Bevölkerung. Da konnte ich immerhin erwarten, Neues zu sehen und mancherlei Anregung zu empfangen.«
»Ich selbst bin in meinem Leben noch nicht dort gewesen, Dagobert.«
»Gleich bei der Brücke ist dort jetzt der ›Schanzel‹ der Obstmarkt, etabliert. Ein hübsches, farbiges Bild. Da hatte ich sie nun vor mir, förmlich in Reih und Glied aufgestellt, die berühmten Schanzelweiber, berühmt ob der Kolossalität ihrer Leibesformen und nicht minder ob der Kolossalität der Derbheit ihrer Ausdrucksformen, wenn sie gereizt werden oder sonst in schlechter Laune sind. Vor ihnen auf umfänglichen Gestellen Berge von Obst, das sie feilhalten; hinter ihnen der Donaukanal, die zahlreichen Obstschiffe mit ihrem schier unerschöpflichen Inhalt. Ein prachtvolles, buntes Bild! Ich schreite die Stände langsam ab, und als ich am vierten Stand vorbeigekommen war, da wusste ich, dass meine notgedrungenen Spaziergänge nun doch über die langweilige ärztliche Vorschrift hinaus eine Art Zweck und Ziel haben würden. Ich werde da am Rückweg ebenfalls vorbeikommen und morgen wieder und überhaupt alle Tage, solange noch das Martyrium der kurgemäßen Lebensweise dauern sollte.«
»Aha – cherchez la femme«
»Sehr richtig, meine Gnädigste. Sie kennen mich. Es war aber auch ganz merkwürdig.«
»Es wird doch nicht gleich eine Gräfin unter die Obstweiber gegangen sein?«
»Das allerdings nicht. Ich glaube aber, dass so manche Gräfin sich beglückwünschen könnte –«
»So schön war sie, Dagobert?«
»Nicht einfach schön. Sie war überraschend in der Umgebung. Denken Sie sich unter den wetterharten Kolossalweibern ein zierliches Figürchen, Kubikinhalt bei Weitem nicht die Hälfte von dem der übrigen Berufsgenossinnen. Die verkörperte Anmut. Nicht wesentlich eleganter gekleidet als die übrigen; ja sie trug, wie die anderen, ein weit, für meinen Geschmack zu weit ausladendes Kopftuch, sodass man förmlich Kunststücke machen musste, um ihr ins Gesicht zu sehen, aber wie sie ihr Zeug trug, das war doch etwas ganz anderes! Und auch sonst. Die anderen hatten ihre Füße in warme Filzpatschen gesteckt der Herbst hatte schon recht rau eingesetzt – sie trug ganz entzückende Stiefelchen, die unter dem geschürzten Kleid vortrefflich zur Geltung kanten. Ihre Hände waren auffallend klein und schön, aber fest von der Arbeit, und wie sie ihren Obstkram ordnete, bemerkte ich, dass sie einen Ehering trug.«
»Und von dem Gesicht, der Hauptsache, reden Sie nichts?«
»Das kommt zuletzt; das ist das merkwürdigste. Sie können sich das Feinste vorstellen, und Sie werden ihr nicht zurecht tun. Wie soll ich’s Ihnen nur anschaulich machen? Sie erinnern sich der köstlichen typisch englischen Frauenschönheiten, die Dumourier für den ›Punch‹2 zu zeichnen pflegte. Der brave Künstler ist längst tot, sonst hätte man glauben können, sie sei eines seiner beliebtesten Modelle gewesen. Wahrhaftig das Urbild eines der englischen Idealmädchen, obschon ihr Haar dunkel war. Sie trug es an der Seite gescheitelt, und so beschattete eine kunstvoll gebauschte Haarwelle die feine Stirne. Das Kinn, die Lippen, die zartgezeichnete Nase – kurz ein Gesicht, das unter den Hofdamen der Königin von England nicht überrascht hätte, das aber bei einer ›Frau Sopherl vom Naschmarkt‹ noch einigermaßen auffallen musste.«
»Ich werde hingehen und mich überzeugen, Dagobert!«
»Und Sie werden mir dann zugeben, dass ich nicht übertrieben habe. Ich kokettierte natürlich sofort scharf hinüber, aber erfolglos. Ich wurde keines Blickes gewürdigt. Auf dem Rückweg dieselbe Geschichte: sie bemerkte mich nicht. Sie begreifen, Gnädigste, dass so etwas schmerzt. Man ist es sonst gewohnt, bemerkt zu werden. Man schmeichelt sich doch –«
»Ich bin ganz unbesorgt, mein lieber Dagobert, Sie werden sich schon bemerkbar gemacht haben!«
»Ich danke für die gute Meinung, meine Gnädigste; ich fürchte aber, dass Sie mich in diesem einen Falle überschätzen. Auch an den nächsten Tagen äugelte, liebäugelte ich hin, vergeblich. Sie besorgte ihre Sachen bei ihrem Stand und sah überhaupt niemanden an. Das gab mir zu denken.«
»Natürlich! Ihr Herren der Schöpfung steht gleich vor einem unlösbaren Problem, wenn einmal ein hübsches Frauenzimmer sich nicht geneigt zeigt, euch die gebührende Aufmerksamkeit zu erweisen!«
»Ich suchte nach einer Erklärung dieser völligen Gleichgültigkeit der Flucht der Erscheinungen gegenüber und glaubte, sie in einer starken inneren Benommenheit zu finden. Diese junge Frau musste irgendetwas haben, was sie mit zwingender Ausschließlichkeit beschäftigte. Ich hatte sie mir immer genau, sehr genau angesehen, und da hatte ich auch zwei ganz feine Linien bemerkt, die sich vom Ansatz der zartgeschwungenen Nasenflügel zu den Mundwinkeln zogen. Von diesen beiden Linien schloss ich zunächst auf ein Leid oder auf ein Leiden. Das verminderte mein Interesse nicht. Ich nahm mir vor, wenn ich Obst kaufen werde – und ich werde Obst kaufen – es selbstverständlich nur bei ihr zu kaufen. Ich kaufte also, kaufte wiederholt. Sie füllte mir die Weintrauben in den Papiersack, wog, wechselte mit völligem Mangel irgendwelcher persönlicher Anteilnahme. Kein Lächeln, wenn ich wiederkam, nicht einmal das leiseste Anzeichen, dass sie mich überhaupt wiedererkenne. Auf meine Versuche, Gespräche anzuknüpfen, ging sie nicht ein. Sie antwortete einsilbig, teilnahmlos. Sie war die personifizierte Teilnahmlosigkeit. Da konnte ich hundert Jahre lang Weintrauben einkaufen, ohne ihr auch nur um einen Schritt näher zu rücken.«
»Für Ihr Geld hatten Sie auch auf mehr nicht Anspruch, Dagobert, als auf Weintrauben.«
»Das ist nicht ganz richtig, meine Gnädigste. Als Kundschaft hat man auch Anspruch auf ein freundliches Lächeln als Zugabe. Ich gestehe, mein Interesse begann abzuflauen. Die reizvolle Erscheinung übte zwar noch immer ihre Anziehungskraft, die Anmut war unleugbar und war entzückend, und doch das Ganze schien nicht beseelt. Ich begann meine psychologischen Erklärungen umzudeuten und jene feinen Linien, die dem Gesichtchen etwas Vergrämtes gaben, umzuwerten. Diese Linien sind einfach von der innerlichen Bösartigkeit eines ungezügelten Naturells gezogen.«
»Das ist wieder echter Dagobert! So sind die Männer. Weil sie ihn nicht anlächelt, muss sie gleich eine bösartige Katze sein!«
»Allerdings, sie schien mir nun mehr bösartig als vergrämt, verteufelt hübsch, aber bösartig. Meine ursprüngliche Begeisterung für die Prinzessin unter den Plebejerinnen musste noch einen weiteren Stoß erleiden. Ich stand in der Nähe, als eine Dame bei ihr Weintrauben einkaufen wollte, als Anna Burgholzer – ich brauche wohl nicht erst zu sagen, dass ich ihre Generalien längst schon ausgekundschaftet hatte – bei meinen Beziehungen zur Polizei übrigens eine sehr einfache Sache, eine Nachfrage beim Marktkommissariat – aber halten wir uns damit nicht auf –«
»Nein, Dagobert, das dürfen Sie nicht so nebensächlich behandeln. Sie war also wirklich verheiratet?«
»Jawohl. Ihr Mann war Fischer –«
»War – ist es hoffentlich noch?«
»War Fischer in Kagran, jenseits der großen Donau. Von dort aus zog er täglich in die Lobau, übrigens ein historischer Boden, auch Aspern und Wagram liegen in der Nähe, und übte dort sein Gewerbe aus.«
»Schön, und was war es mit der Dame, die Weintrauben kaufen wollte?«
»Sie hatte sich vermessen, sich selbst die Trauben auszusuchen, und sogar den sträflichen Versuch gewagt, besonders schöne Trauben von unten weg herauszuziehen, wodurch allerdings der ganze Bau leicht ins Wanken hätte geraten können. Anna Burgholzer verwies ihr das kurz und schroff, und als die Dame daraufhin, vielleicht weil sie die Mahnung überhört oder angenommen hatte, dass die scharfe Zurückweisung unmöglich ihr gegolten haben könne, nicht sofort Order parierte, da begann Anna Burgholzer eine Standrede so urkräftiger Art, dass die Dame erschreckt und wortlos davoneilte. Der Redestrom flutete aber weiter, und die entfesselte Obstmarktfrauen-Beredsamkeit brachte in schier endloser Reihe so durchaus ordinäre Beschimpfungen hervor, dass ich selbst wie angedonnert dastand. Das also war meine englische Hofdame!«
»Geschieht Ihnen schon recht, Dagobert! Ein hübsches Lärvchen genügt Ihnen, um gleich alle erdenklichen Vorzüge damit in Verbindung zu bringen. Ihr alle seid bestochene Richter!«
»Da war allerdings auch nicht der leiseste Unterschied mehr von den übrigen Marktweibern zu entdecken. Von meiner Schwärmerei war ich nun so ziemlich geheilt, und ich beschloss, mich für die Dame nicht weiter zu interessieren. Schon am nächsten Tage aber wurde mein Interesse wieder auf das lebhafteste angeregt. Als ich wieder dort in gemessener Entfernung vorbeiging – sie selbst bemerkte mich bei meinen Promenaden niemals – sah ich einen Mann bei ihr stehen, und zwar nicht vor dem Verkaufsstand, sondern hinter demselben ganz dicht neben ihr, der sofort meine volle Aufmerksamkeit herausforderte. Ich umkreiste den Schauplatz und stellte meine Beobachtungen an. Sie wissen, gnädige Frau, ich habe etwas vom Jagdhund an mir.«
»Ich weiß, Dagobert.«
»Ich hatte eine Witterung in die Nase bekommen. Das war etwas für mich. Eine famose Figur. Eine hohe, sehr kräftige Gestalt. Starker dunkler Schnurrbart. Das derbe, blatternarbige Gesicht etwas bleich. Die Kleidung funkelnagelneu, aber von ordinärer Eleganz. Lichter, rehlederfarbiger Überzieher, neuer Zylinderhut, Lackschuhe, die phänomenal großen Hände in Glacéhandschuhen steckend, die noch das kräftige rote Handgelenk sehen ließen. Ich postierte mich hinter die beiden, lehnte mich ans Ufergeländer und tat, als sei ich ganz in Anspruch genommen von dem Treiben auf den Obstschiffen. Dabei behielt ich aber den Elegant natürlich scharf im Auge.«
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