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Drittes Buch – Siebentes Kapitel
Denn ich kannte das andere nicht, was wirklich ist, und beinahe aberwitzig reizte es mich, törichten Betrügern beizupflichten, wenn sie mich fragten, woher das Böse stamme, ob Gott durch körperliche Gestalt begrenzt werde, ob er Haare und Nägel habe, ob man solche für gerecht halten könne, die Vielweiberei getrieben, Menschen getötet und Tiere geopfert hätten. Dadurch ward ich Unkundiger verwirrt, und da ich mich von der Wahrheit entfernte, rühmte ich mich, ihr näher zu treten, weil ich nicht wußte, daß das Böse nur eine Schmälerung des Guten ist, bis es zuletzt gar nicht mehr ist. Wie hätte ich dies erkennen können, ich, dessen Sehen mit leiblichen Augen nur auf den Körper, mit den Augen des Geistes nur auf Trugbilder gerichtet war? Ich wußte nicht, daß Gott ein Geist sei, der keine Glieder besitze von räumlicher Ausdehnung und keinen festen Stoff an sich habe, weil ein Teil des Stoffes kleiner ist als das Ganze und weil, gesetzt er wäre unbegrenzt, der Teil doch durch einen begrenzten Raum beschränkt, kleiner ist als das Unendliche und nicht überall ein Ganzes, wie der Geist, wie Gott. Und wer der Gottähnliche in uns sei, dem zufolge die Schrift uns „zum Bilde Gottes” geschaffen nennt, das war mir gänzlich unbekannt.
Unverstanden blieb auch die wahre innere Gerechtigkeit, die nicht nach dem Gesetz der Gewohnheit richtet, sondern nach dem untrüglichen Gesetz des allmächtigen Gottes, nach welchem sich bilden sollen die Sitten der Länder und Zeiten, wie es deren Eigentümlichkeit angemessen ist, während das göttliche Gesetz selbst überall und stets dasselbe ist und nicht nach Ort und Zeit sich wandelt; nach ihm sind Abraham, Isaak, Jakob, Moses, David und alle jene gerecht, welche Gott selbst gerechtfertigt hat. Und von den Unkundigen werden sie für ungerecht gehalten, weil diese richten nach einem menschlichen Tage und alle Sitten des Menschengeschlechts nur einseitig [70] nach ihrer Sitte beurteilen. Ist das aber nicht gerade so, wie wenn jemand, der von Waffen nichts versteht und von ihrer Benutzung nichts weiß, sein Haupt mit der Beinschiene bedecken und mit dem Helme den Fuß rüsten will und der murrt, weil sich nichts anpassen will, oder wenn für einen Nachmittag Gerichts- und Handelsferien festgesetzt sind und er dann unzufrieden wäre, daß er nachmittags nichts feilbieten könne, da es doch vormittags erlaubt gewesen; oder darüber, daß er in einem Hause irgendeinen Sklaven etwas verrichten sieht, was der Mundschenk nicht verrichten darf, oder wenn irgendetwas hinter dem Stalle geschieht, was bei Tisch nicht schicklich ist, und er darüber zürnen wollte, daß nicht allen dasselbe zuerteilt und erlaubt sei, obgleich es ein und dasselbe Haus und ein und dasselbe Gesinde ist? Solch Geistes Kinder sind diejenigen, welche unwillig sind, wenn sie vernehmen, daß in jenem Zeitalter den Gerechten von Gott etwas erlaubt gewesen sei, was jetzt denen, die gerecht sein wollen, nicht mehr gestattet ist, und daß Gott diesen und jenen verschiedene Gesetze gab nach den Zeitumständen, während sie beide derselben Gerechtigkeit dienten, wenn sie sahen, wie bei denselben Menschen an demselben Tage in demselben Hause dies dem einen Gliede und jenes dem andern schicklich ist und anders schon lange erlaubt war, was nach einer Stunde nicht mehr erlaubt ist, daß irgendetwas in einem Winkel erlaubt oder geboten sei, was in einem andern mit Recht verboten oder gestraft wird. Ist denn die Gerechtigkeit wandelbar und ausständig? O nein, nur die Zeiten, über welche die Gerechtigkeit thront, sie fließen nicht in gleichem Strome dahin. denn es sind Zeiten. Die Menschen freilich, deren Erdenleben nur eine kurze Spanne Zeit umfaßt, sie vermögen die Zustände früherer Jahrhunderte und anderer Völker, die sie nicht erlebt haben, mit den von ihnen durchlebten nicht in Einklang zu bringen in ihrem Sinn, ob sie auch an jedem Körper, Tage oder Gesuche zu erforschen wissen, was jedem Gliede schicklich sei, sowie jedem Augenblick und jedem Mitglied [71] des Hauses, diesem fügen sie sich, an jenem nehmen sie Anstoß.
Dies wußte ich damals weder, noch erkannte ich es. Überall trat es mir entgegen und ich sah es nicht. Ich trug Gedichte vor und durfte das Versmaß nicht nach Belieben feststellen, sondern mußte in einer den jeweiligen Umständen angemessenen Weise verfahren und konnte auch, wenn es das selbe Versmaß war, nicht immer denselben Versfuß setzen. Die Kunst selbst, die mir als Richtschnur diente, enthielt nicht nur diese oder jene Versart, sondern alle zugleich. Und doch sah ich nicht ein, daß die göttliche Gerechtigkeit, der gute und fromme Menschen untertan waren, in weit herrlicherer und erhabenerer Weise alle Vorschriften enthält und keinerlei Schwankung zeigt und doch zu verschiedenen Zeiten nicht alles zugleich, sondern nur das ihnen Zukommende zuerteilt und befiehlt. Ich Blinder tadelte die frommen Väter, nicht bloß, weil sie so, wie Gott ihnen befahl und eingab, die Gegenwart anwendeten, sondern auch, wenn sie so weissagten, wie Gott ihnen die Zukunft enthüllte.
Drittes Buch – Achtes Kapitel
Hat man es wohl je für ein Unrecht gehalten, Gott zu lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt und den Nächsten als sich selbst? Darum sind Schandtaten, die wider die Natur sind, immer und überall zu verabscheuen und zu bestrafen als solche, die denen Sodoms gleichkommen. Begingen alle Völker solche, so würden sie nach dem göttlichen Gesetze derselben Strafe verfallen, da sie nicht dazu geschaffen sind, um auf solche Weise Mißbrauch zu üben. Die Gemeinschaft, welche wir mit Gott haben sollen, wird verletzt, wenn die Natur, deren Schöpfer er ist, durch widernatürliche Lust befleckt wird. Die Vergehen aber, insofern sie sich nur auf die Sitten der Menschen erstrecken, sind nach der Verschiedenheit der Sitten zu meiden, damit der Brauch, welchen Gemeinde oder Volk durch Ge[72]wohnheit oder Gesetz festigte, durch keine Zügellosigkeit eines Bürgers oder Fremden verletzt wird. Denn schändlich ist jedes Glied, das nicht mit seinem Ganzen übereinstimmt. Wenn aber Gott gegen Sitte und Brauch einiger Menschen etwas verordnet, so ist sein Gebot, auch wenn es dort noch nie geschehen ist, doch zu vollführen, doch zu erneuern, wenn es bisher unterlassen, und einzuführen, wenn es bisher noch nicht eingeführt war. Wenn schon ein König die Macht hat, in dem Staate, über den er herrscht, Befehle zu erteilen, die vorher weder ein anderer noch er selbst erteilt hat, und es nicht gegen das Staatsrecht ist, Gehorsam zu leisten, im Gegenteil eine Verweigerung des Gehorsams Rechtsverletzung wäre – denn Gehorsam gegen den König ist der Kardinalpunkt des bürgerlichen Rechtes –, um wie viel mehr gebührt Gott, dem König der gesamten Schöpfung, zweifellos Gehorsam allen seinen Befehlen gegenüber. Denn wie bei den Mächten der menschlichen Gesellschaft die größere Macht Gehorsam von der kleineren verlangt, so verlangt Gott von allen Gehorsam.
Ebenso ist es bei den Freveltaten, deren Ausgangspunkt Schadenfreude ist; sei es, daß man dem andern Schmach oder Unrecht zuzufügen sucht, oder beides, wo Rachsucht vorhanden, wie der Feind dem Feinde; oder um sich der andern Hab und Gut anzueignen, wie der Räuber, wenn er den Wanderer beraubt, oder auch um ein Übel abzuwenden, wie einer, der Furcht empfindet; oder wenn Neid die Triebfeder ist, wie der Unglückliche aus diesem Grunde dem Glücklichen zu schaden sucht; oder bei glücklichem Fortgang einer Sache aus Furcht und Ärger über den Wetteifer eines anderen; oder auch aus reinem Vergnügen an fremdem Leid wie der Zuschauer gegenüber den Gladiatoren bei den Fechterspielen oder wie der Schöker und andere hämische Leute. Dies sind die hauptsächlichsten Sünden, die hervorgehen aus der Fleischeslust und der Augenlust und hoffärtigem Leben, entweder aus einem oder aus zweien oder auch aus allen zugleich; so [73] wird gesündigt wider drei und sieben derlei Gebote, wider deinen Psalter mit den zehn Seiten, gegen dein Gesetz, du höchster und herrlichster Gott! Können wir dich denn alle durch Freveltaten beleidigen, der du doch nicht verletzt wirst, oder welche Verbrechen können wir gegen dich verüben, dem zu schaden unmöglich? Du aber strafst die Sünden der Menschen, weil sie im Sündigen gegen dich auch gegen ihre eigenen Seelen sündigen und ihre Bosheit sich selbst belügt durch Verderben und Verkehrung ihrer Natur, welche du geschaffen und geordnet hast, oder durch unmäßigen Gebrauch des Erlaubten oder durch entflammte Lust nach dem Unerlaubten, das wider die Natur ist, oder sie laden Schuld auf sich, wenn sie mit Herz und Worten gegen dich wüten und wider den Stachel löcken. Oder sie durchbrechen die Schranke der menschlichen Gesellschaftssatzungen und freuen sich in ihrer Frechheit an Sonderverbänden und Trennungen, je nachdem sie etwas ergötzt oder ihren Ärger erregt. Das entspringt daraus, wenn dich die Menschen verlassen, o Quelle alles Lebens, der du bist alleiniger und wahrer Schöpfer und Regierer des Weltalls, und wenn sie in selbstsüchtigem Hochmute einzelnes heben, das trüglich ist. Und in kindlich demütiger Liebe können wir zurückkehren zu dir; du reinigst uns von bösen Lüsten und schenkst deine Gnade denen, die ihre Sünde reuig bekennen, und erhörst das Seufzen der Gefangenen und erlösest uns von den Banden, die wir uns selbst geschmiedet, wenn wir nicht mehr gegen dich falsche Freiheitsgelüste hegen und ablassen von der Gier, mehr zu besitzen, die uns Gefahr schafft, alles einzubüßen, wenn wir unser Eigentum mehr lieben, denn dich, Gut aller Güter.
Drittes Buch – Neuntes Kapitel
Unter den Freveltaten aber und Verbrechen und so vielen anderen Unbilden sind auch noch die Sünden der in der Heiligung Fortschreitenden, die von gerecht Urteilenden nach dem Maße der erreichten Vollkommenheit getadelt und nach [74] der Hoffnung auf gute Frucht, wie die aufgrünende Saat gelobt werden. Auch sieht gar manches einer Sünde und einem Verbrechen ähnlich und ist es doch gar nicht, weil es weder dich, den Herrn unsern Gott, verletzt noch die menschliche Gesellschaft. So wird z. B. etwas zu Nutz und Frommen des Lebens in günstiger Zeit erworben, und ist es ungewiß, ob es nicht nur aus Habsucht geschieht, oder es wird manches von der dazu verordneten Macht in der Absicht, Besserung zu bewirken, bestraft, und ist unsicher, ob es nicht nur aus Schadenfreude geschah. Vieles, was die Menschen verworfen, ist doch nach deinem Zeugnisse gebilligt; über vieles aber dagegen, was die Menschen lobenswert finden, hast du dein Verdammungsurteil ausgesprochen. Denn oft ist das Äußere einer Tat ganz anders als Sinn und Absicht des Handelnden und die den Menschen in ihrer Eigentümlichkeit verborgenen Zeitumstände. Wenn du aber irgendetwas völlig Ungewohntes oder Unerwartetes gebietest, auch wenn du es einstmals verboten hättest, so müßte doch jedenfalls dein Befehl befolgt werden, selbst wenn du die Ursache deines Gebotes zur Zeit noch verborgen hieltest und es gegen gesellschaftlichen Brauch der Menschen wäre, wenn jene menschliche Gesellschaft gerecht ist, welche dir dient. Glücklich sind die, welche wissen, was du ihnen befahlst, denn alles, was deine Diener tun, geschieht entweder zum Heile der Gegenwart oder auf die Zukunft hin.
Drittes Buch – Zehntes Kapitel
In meiner Unkenntnis der Dinge verlachte ich deine heiligen Knechte und deine Propheten. Aber da ich sie verlachte, was tat ich anders, als daß ich selbst ward ein Spott vor dir? Allmählich kam ich so weit in den Torheiten der Manichäer, daß ich glaubte, die Feige mitsamt ihrem mütterlichen Bäume vergieße milchweiße Tränen, wenn man sie pflücke. Wenn jedoch ein Auserwählter eine solche durch fremdes, nicht durch eigenes Vergehen abgepflückte Feige gegessen hätte, so [75] würde er, wenn er sie verdaue, Engel, ja sogar Teilchen Gottes aushauchen, während er bete oder wenn es ihn aufstoße. Diese Teilchen des höchsten und wahren Gottes wären – so hatte man mir gesagt – an jene Frucht gebunden geblieben, wenn sie nicht die Auserwählten mit ihren Zähnen und ihrem Magen befreit hätten. Und ich Elender glaubte, man müsse den Früchten der Erde mehr Barmherzigkeit zollen als den Menschen, um derentwillen sie erschaffen; denn wenn ein Nichtmanichäer hungernd nach Speise begehrte, so wäre der Bissen gleichsam verdammt gewesen, den man ihm gereicht hätte.
Drittes Buch – Elftes Kapitel
Und du sandtest deine Hand von der Höhe und errettetest meine Seele aus der Tiefe der Hölle, da für mich meine Mutter in treuem Glauben zu dir weinte, mehr Wohl, als eine Mutter sonst den leiblichen Tod ihres Kindes beweint. Denn sie sah, daß ich tot war, kraft des Glaubens und Geistes, den sie von dir hatte, und du hast sie erhört, o Herr! Ja, du erhörtest sie und verachtetest nicht ihre Tränen, damit ihr Auge die Erde netzte, denn sie flehte zu dir; du hast sie erhört. Denn woher kam ihr sonst jener tröstliche Traum, der sie aufrichtete, so daß sie mir wieder gestattete, bei ihr zu leben und mit ihr den Tisch zu teilen, was sie mir verweigert hatte in tiefer Abscheu vor den Lästerungen meines Irrtums? Sie träumte, ich stände auf einem hölzernen Richtscheit; da trete zu ihr ein Jüngling von glänzender Erscheinung, heiter und fröhlich, während sie traurig und schier vom Gram erdrückt war; der fragte sie, warum sie denn so traurig sei, und nach der Ursache ihrer täglichen Tränen, nicht aus Neugierde, sondern, wie gewöhnlich bei solchen Erscheinungen, um seine Belehrung daranzuknüpfen. Und als sie ihm nun antwortete, mein Verderben beklage sie, da gebot er ihr, sich zu beruhigen, und ermahnte sie aufzuachten und aufzusehen, denn wo sie wäre, da sei auch ich. Und da sie [76] nun aufblickte, da sah sie mich neben sich stehen auf demselbigen Richtscheit. Woher kam dieser Traum, wenn nicht von dir, der du dein Ohr neigtest zu ihrem Herzen? O du Allmächtiger, Gütiger, der du für einen jeden von uns also sorgst, als hättest du nur für ihn allein zu sorgen, und dich aller so annimmst wie jedes einzelnen.
Da sie mir nun ihr Gesicht erzählt hatte und ich es gewaltsam dahin zu deuten mich unterfing, daß sie vielmehr nicht daran verzweifeln möchte, das zu vergessen, was ich war, da sagte sie rasch ohne alles Bedenken: „Mit nichten, denn es ist mir nicht verkündet worden: ‚Wo jener, da auch du,’ sondern: ‚Wo du, da auch jener.’” Dir, o Herr, bekenne ich – soweit meine Erinnerung mich zurückgehen läßt –, was ich auch sonst nicht verschwieg, daß ich mehr durch die Antwort, welche du mir durch die sorgende Mutter gabst, bewegt wurde, weil sie durch meine falsche, so naheliegende Auslegung nicht in Verwirrung gebracht wurde und so schnell das Richtige erkannte, was ich, bevor sie es aussprach, wahrlich nicht erkannt hatte, als durch den Traum, durch den dem frommen Weibe die erst viel später eintretende Freude zum Trost in ihrem gegenwärtigen Kummer vorausgesagt wurde. Denn neun lange Jahre folgten auch dieser Zeit, in welcher ich in der Tiefe des Sündenschlammes in der Nacht des Wahnes mich umherwand und der ich, sooft ich mich erheben wollte, doch nur um so heftiger hineingestoßen wurde. Währenddessen jedoch hörte jene züchtige fromme und weise Witwe – wie du sie liebst – nicht auf, in all ihren Gebeten zu dir klagend zu flehen um mein Heil. Schon war ihre Hoffnung lebendiger, doch ward sie trotzdem nicht lässiger in ihrem Weinen und Seufzen. Und es kam ihr Gebet vor dich, aber noch ließest du mich wälzen in jener Finsternis und von ihr eingehüllt werden.
Drittes Buch – Zwölftes Kapitel
Noch eine andere Antwort gabst du meiner Mutter, deren ich mich erinnere. Denn vieles übergehe ich, deshalb einer[77]seits, weil ich zu dem eile, was mir dringender erscheint, es dir zu gestehen, andererseits, weil ich vieles vergaß. Jene andere Antwort gabst du ihr durch einen deiner Priester, einen frommen Bischof, in deinem Dienst erwachsen und in deiner Schrift wohlerfahren. Als ihn nun jenes Weib bat, mich einer Unterredung zu würdigen, um meine Irrtümer zu zerstreuen, mich vom Bösen abzubringen, das Gute aber mir beizubringen – so tat sie es, wenn sie glaubte, einen geeigneten Mann gefunden zu haben –, da verweigerte er es ihr und tat klug daran, wie ich später erst erkannte. Denn er antwortete ihr, daß ich noch keiner Belehrung zugänglich sei, weil ich noch allzusehr von jener neuen Irrlehre erfüllt sei und viele Unerfahrene schon mit verfänglichen Fragen beunruhigt hätte, wie sie ihm ja selbst anvertraut habe. „Laß ihn dort,” so sagte er, „und bete für ihn zum Herrn; er selbst wird durch Lesen schon finden, was sein Irrtum ist und wie groß seine Gottlosigkeit.” Dabei erzählte er, wie er, als er noch ein kleiner Knabe war, von seiner verführten Mutter den Manichäern übergeben worden sei, fast alle ihre Schriften gelesen und sogar oftmals abgeschrieben habe; wie er dann selbst ohne jemandes Überlegung und Überführung erkannt habe, wie verderblich jene Sekte sei und wie er sich von ihr losgemacht habe. Als sie nach diesen seinen Worten sich noch nicht beruhigen wollte, sondern unter strömenden Tränen ihn inständig bat, mich zu sehen und mit mir zu sprechen, da rief er in scheinbarem Unwillen: „Gehe, denn so wahr du lebst, es ist nicht möglich, daß ein Sohn solcher Tränen verlorengehe.” Und oft sagte mir meine Mutter, wenn wir in unserem Gespräch darauf kamen, das Wort habe sie ergriffen, als sei es vom Himmel gekommen.
Viertes Buch – Erstes Kapitel
In jenem Zeitraume von neun Jahren, vom neunzehnten Jahre meines Lebens ab bis zum achtundzwanzigsten, ward ich irregeführt und führte andere irre, betrogen und betrügend durch mancherlei Mittel und Wege, öffentlich durch die Künste, welche man freie nennt, und heimlich durch den falschen Trugnamen: Religion. Dort war ich stolz, hier abergläubisch, nichtig aber in allem. Dort suchte ich den eitlen Ruhm vor dem Volke bis zu theatralischem Beifalle, Preisgedichten und welken Heukronen, Schauspielpossen bis zur Zügellosigkeit der Lüste; hier strebte ich mich wieder von diesem Unrat zu reinigen, indem ich denen, welche Auserwählte und Heilige genannt wurden, Speise darbrachte, um daraus in der Werkstatt ihres Magens Engel und Götter zuzubereiten, mittels deren wir befreit würden. Ich hing solchen an und trieb es mit meinen Freunden, die durch mich und mit mir in die Irre geführt waren. Mögen mich die Hochmütigen verlachen und alle, die von dir, o mein Gott, noch nicht zu ihrem Heile gebeugt und niedergeworfen sind; ich aber will dir meine Freveltaten zu deinem Lobe bekennen. Laß mich, ich flehe dich an, laß mich meine Irrwege, die ich vordem gewandelt bin, jetzt in meiner Erinnerung noch einmal verfolgen und dir bringen das Opfer jubelnden Dankes. Denn was bin ich mir selbst ohne dich, als mein Führer in das Verderben, oder was bin ich, selbst wenn es mir wohlgeht, wenn ich nicht trinke deine Milch, oder nicht dich genieße, eine Speise, die nicht vergänglich ist? Wie ist doch ein jeglicher Mensch geartet, insofern er ein Mensch ist? Mögen uns verlachen, die da haben die Stärke und die Gewalt; wir aber, wir, die Armen und Elenden, rühmen deinen Namen. [79]
Viertes Buch – Zweites Kapitel
In jenem Jahre lehrte ich auch die Redekünste und bot, von meiner Lehrbegierde gefesselt, die überwindende Geschwätzigkeit feil. Doch wünschte ich mir, du weißt es, o Herr, nur gute Schüler, was man so gute nennt, und ohne Trug lehrte ich ihnen Trugkünste, nicht um damit gegen einen Unschuldigen auftreten zu können, wohl aber zugunsten der Schuldigen. Und du, o Gott, sahest von ferne meinen auf schlüpfrigem Wege dahingleitenden und unter großem Rauche schwach dahinglimmenden Glauben, den ich bei meinem Unterrichte ihnen, die das Eitle so lieb und die Lüge so gern hatten, als ihr Genosse darbot. In jener Zeit hatte ich auch ein Weib bei mir, zwar nicht in gesetzlicher Ehe von mir erkannt, sondern eine unstete Brunst war es, die sie leichtsinnig ausgeschürt hatte. Aber doch nur sie allein war es, zu der ich hielt und ihr treu blieb. An ihr aber und mir bewies sich deutlich, was doch für ein Unterschied ist zwischen dem Bund der Ehe, der geschlossen wird, um Kinder zu zeugen, und einem Übereinkommen in sündlicher Liebe, wo Kinder geboren werden wider Wunsch und das geborene Kind uns gleichsam erst zur elterlichen Liebe zwingt.
Auch erinnere ich mich, daß mich ein Zeichendeuter, als ich einen dichterischen Zweikampf eingehen wollte, fragen ließ, was ich ihm geben würde, wenn er mir den Sieg verschaffte; mit Abscheu vor jenen schändlichen Zaubereien erwiderte ich aber: „Und wenn der goldene Siegeskranz Unsterblichkeit verliehe, so wollte ich dennoch nicht, daß für meinen Sieg auch nur eine Fliege getötet würde.” Jener wollte nämlich bei seinen Opfern Tiere töten, und mir schien es, als ob er dadurch mir die bösen Geister geneigt machen wollte. Aber auch diese Sünde verwarf ich nicht mit der Reinheit, die aus dir stammt, o Gott meines Herzens, denn ich verstand dich ja noch nicht zu lieben, da ich statt deiner nur gleißende Scheinbilder zu erkennen vermochte. Eine Seele aber, die sich sehnt [80] nach solcherlei Trugbildern, ist sie dir gegenüber nicht untreu und setzt ihr Vertrauen auf Trug und treibt sie nicht Winde auf die Weide? Wollte ich auch nicht, daß man für mich den bösen Geistern opfern sollte, so opferte ich mich doch ihnen selbst durch jenen Aberglauben. Denn was ist Winde weiden anderes als jene bösen Geister weiden, das heißt ihnen durch Verirrungen zur Lust und zum Hohn werden?