Читать книгу: «Die Sozialdemokratie – ab ins Museum?»

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Inhaltsverzeichnis

1. Warum wir die Sozial­demokratie mögen müssen

2. Warum wir von der ­Sozial­demokratie ­enttäuscht sein müssen

3. Das Wesen der Sozial­demokratie

4. Die Voraussetzung sozial­demokratischer Geschichts­mächtigkeit ist der Wahlerfolg

5. Der Wahlerfolg setzt die Gewinnung der ­politischen Mitte voraus

6. Die »Basis« – ein beliebig verwendbares Konstrukt

7. Warum wir die Sozial­demokratie brauchen – trotz alledem

8. Warum wir nicht sicher sein können, dass die ­Sozialdemokratie diese ­Erwartungen erfüllen kann

9. Auf der Suche nach den ­Ursachen – der Verlust der Mitte

10. Das Reiten des Tigers – die Sozialdemokratie und die Megatrends

11. Die Hindernisse, die zu überwinden wären

12. Der Mythos der eigenen Unschuld

13. Der Mythos ­der Neutralität

14. Die Sozialdemokratie braucht ein klares Profil

15. Die Sozialdemokratie ist – erstens demokratisch …

16. … und zweitens ist sie ­sozial

17. Kreisky plus Brandt plus Mitterrand plus Blair

18. Die Sozialdemokratie wird europäisch sein – oder sie wird nicht mehr sein

Prof. Dr. Anton Pelinka

Bisher sind folgende Bände erschienen:

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Diese Streitschrift ist von einem geschrieben, der sich sowohl als Insider als auch als Outsider versteht: ­Insider, weil er seit Jahrzehnten mit vielen befreundet ist, die er als SozialdemokratInnen schätzt und ­respektiert; Outsider, weil er selbst nie der Sozial­demokratischen Partei beigetreten ist; Insider, weil er vieles von dem verstehen gelernt hat, was die Sozial­demokratie bewegt; Outsider, weil er sich immer wieder ge­ärgert, ja empört hat über das, was die real existie­rende Sozialdemokratie macht – und, mehr noch, was sie unterlässt. Die Streitschrift ist somit eine Gratwanderung zwischen verschämter Liebeserklärung und kaum verborgener Kampfansage.

1. Warum wir die Sozial­demokratie mögen müssen

Welche andere Parteienfamilie Europas, welche andere Parteitradition kann es sich zugutehalten, in der schrecklichen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weder den verführerischen Neutönern à la W. I. Lenin in die »Diktatur des Proletariats« gefolgt zu sein, noch der Illusion der Personalisierung der Macht à la Benito Mussolini? Welche andere österreichische Partei als die SPÖ kann für sich beanspruchen, immer den Grundsätzen der pluralistischen, der liberalen Demokratie treu geblieben zu sein? Wer, wenn nicht die Sozialdemokratie, versteht es, einen der gesellschaftlichen Gleichheit verpflichteten ökonomischen Veränderungsanspruch mit der Garantie politischer, das heißt vor allem individueller Freiheitsrechte zu verbinden – und das über eine Zeitspanne von fast eineinhalb Jahrhunderten?

Die Sozialdemokratie ist der »dritte Weg«, ein »Weder-noch«. Sie war und ist eine klare Absage an den schrecklich gescheiterten Versuch, über die Zwischenstationen einer »Diktatur des Prole­ta­riats« und eines »real existierenden Sozialismus« eine perfekte Gesellschaft zu konstruieren. Sie ist ebenso eine Absage an einen Sozialdarwinismus, der auch in seiner liberal-demokratischen Vari­ante auf dem Recht des Stärkeren beharrt, Schwächeren diktieren zu können. Die Sozialdemokratie baut aber auch auf einem »Sowohl-als-auch«: Sozialdemokratie, das ist das Beharren auf einer »offenen Gesellschaft« und damit die Ablehnung eines latent totalitären Utopismus. Sozialdemokratie ist aber ebenso der in Politik umgesetzte Antrieb des Samariters, der überall dort hilft, wo Hilfe konkret nötig ist. Nicht zufällig nennt die SPÖ ihre karitative Vorfeldorganisation »Arbeiter-Samariter-Bund«. Das alles ist Sozialdemokratie – in ihrem Anspruch. Und auch wenn sie diesen Anspruch oft nicht erfüllt hat, hat sie ihn auch nicht prinzipiell aufgegeben. Sie ist ihm treu geblieben.

Anders als die anderen Parteienfamilien des europäischen 20. Jahrhunderts hat die Sozial­demokratie ein demokratisch »reines Gewissen«. Die kommunistischen Parteien optierten für das sowjetische Modell, das mit Gewalt und Terror den Sozialismus herbeizwingen wollte. Auch wenn einige Prominente aus den Reihen der Sozialdemokratie wie Otto Grotewohl in der Phase der Gründung der DDR, Zdenek Fierlinger in der Tschechoslowakei oder Erwin Scharf in Österreich zu Kommunisten wurden, zog die Sozialdemokratie immer einen deutlichen Trennungsstrich gegenüber solchen ÜberläuferInnen. Und sozialdemokratische PolitikerInnen wurden – wie andere DemokratInnen auch – vom kommunistischen Staats- und Parteiapparat in Ost- und Mitteleuropa rigoros verfolgt. Das verbindet die Geschichte kommunistischer Systeme mit den Systemen des faschistischen Typs – beide verfolgten, folterten und ermordeten SozialdemokratInnen. Dass die Sozialdemokratie eine solche Gemeinsamkeit von Lenin und Mussolini, von Stalin und Hitler provozierte, das ist ein Ruhmesblatt in der Geschichte der Sozialdemokratie.

Die konservativ-christdemokratischen Parteien hatten nach 1945 Probleme, ihre punktuellen Allianzen zu rechtfertigen, die sie in den 1920er und 1930er Jahren eingegangen waren: mit autoritären und mehr oder weniger faschistischen Strömungen. Sie mussten die zumindest zeitweise Unterstützung Mussolinis und Salazars und Francos und Petains und Horthys durch viele ihrer ­ParteigängerInnen rechtfertigen. Dass die Abgeordneten der katholischen Zentrumspartei 1933 im deutschen Reichstag dem Ermächtigungsgesetz (und damit dem Ende der Demokratie) zustimmten, das kann ebenso wenig vergessen werden wie das klare »Nein« der SPD zu dieser Schein-Legalisierung der Zerstörung der Wei­marer Republik. Und dass die Gründer der Österreichischen Volkspartei durchwegs Repräsentanten des autoritären, halbfaschistischen »Ständestaates« waren, der ja in seiner Gesamtheit ein Konstrukt der Führung der Christlichsozialen Partei war, das ist ein historischer Ballast, von dem die Sozialdemokratie frei ist.

Die europäische Sozialdemokratie wird zu Recht mit dem demokratischen Sozial- und Wohlfahrtsstaat britischer und schwedischer Prägung identifiziert, der nach 1945 die lebenswerteste Gesellschaftsordnung entwickelte, die Europa je erfahren hat. Und diese Ordnung hat auch einen österreichischen Akzent: Die österreichische Sozialdemokratie war eine wesentliche Akteurin beim Aufbau des Systems der Sozialpartnerschaft, das die Verteilung ökonomischer Güter auf friedlichem Weg unter Herstellung einer »Win-win«-Situation regelte. Freilich: Die Verlagerung des Klassenkampfes von der Straße auf den Verhandlungstisch konnte nicht von der SPÖ und dem unter sozialdemokratischer Führung stehenden Gewerkschaftsbund allein vorgenommen werden. Die Voraussetzung war, dass auch die »andere Seite« – die »bürgerliche« Österreichische Volkspartei und die Verbände der ArbeitgeberInnen – den Pragmatismus der kleinen Schritte, des »Social Engineering« ebenso akzeptierten. Was den einen die Absage an das Modell eines ungebremsten, eines ungebändigten Kapitalismus war, das war der Sozialdemokratie die Absage an die »sozialistische Revolution«; und zwar auch an die, die anders als im russischen Oktober gewaltfrei und parlamentarisch agieren wollte. Die Sozialdemokratie war erfolgreich, wenn sie den Fortschritt in kleinen Schritten und mühsam ausgehandelten Kompromissen zu erreichen versuchte. Und sie war erfolgreich, weil sie diesen Weg auf der Grundlage des demokratischen Rechtsstaates ging.

Die Verdienste sozialdemokratischer Parteien für den Aufbau und die Stabilisierung der Demokratie in Europa sind unbestritten. Aber unbestritten sind auch die Verdienste Athens um die Entwicklung des Demokratiemodells der »Polis«. Unbestritten sind auch die Verdienste Roms um den Aufbau eines umfassenden Rechtssystems, das in vielem als Laboratorium des modernen Rechtsstaates gelten kann. Das Athen des Perikles ist allerdings Vergangenheit wie die Römische Republik. Historische Verdienste allein sichern keine Zukunft. Sie können auch als Zeichen dafür gelten, dass es Zeit ist, eine Periode für beendet zu erklären. Ist die Sozialdemokratie – trotz oder wegen ihrer unbestreitbaren Leistungen für Gesellschaft und Politik und Kultur – reif für das Museum? Was hat die Sozialdemokratie des 21. Jahrhunderts noch an Fortschrittsperspektive zu bieten, wenn viele der sozialdemokratischen Erfolge selbstverständlich geworden sind – und vielleicht gerade deshalb der Zeitgeist nicht mehr von John Maynard Keynes’ »Weg der Mitte«, sondern von Friedrich Hayeks demokratischer, aber militant vorgetragener Absage an diesen Weg der Mitte geprägt ist? Hat die Sozialdemokratie sich selbst überflüssig gemacht – gerade durch ihre Erfolgsbilanz, die sie für die Jahrzehnte nach 1945 aufzuweisen hat?

2. Warum wir von der ­Sozial­demokratie ­enttäuscht sein müssen

Ralf Dahrendorfs Diagnose von 1983 hat viel für sich, als er vom »Ende des sozialdemokratischen Zeitalters« schrieb. Die Sozialdemokratie hat in Europa – jedenfalls im demokratischen Europa – die gesellschaftliche Richtung vorgegeben. Sie hat entscheidend dazu beigetragen, dass die pluralistische, die liberale Demokratie sich in jeder nur denkbaren Hinsicht der »Volksdemokratie« des eben nicht demokratischen Sozialismus überlegen zeigte. Die Menschen – alte und junge, ArbeiterInnen und Studierende, Frauen und Männer: Wenn sie die dafür erforderliche Freiheit hatten, zogen sie in den Jahrzehnten nach 1945 von Ost nach West – und nicht von West nach Ost. Der »Eiserne Vorhang« war nicht dazu da, »Agenten des Imperialismus« abzuwehren. Er sollte die Massenflucht in die westlichen Demokratien verhindern. Dieses eindeutige Urteil der Geschichte war auch ein Verdienst der Sozialdemokratie.

Aber deren Ära ging – so Dahrendorf – bereits dem Ende zu, als die UdSSR implodierte. Der Verlust an sozialdemokratischer Hegemonie war nicht das Produkt der Erfolglosigkeit sozialdemokratischer Parteien. Die Sozialdemokratie verlor an politischer Deutungshoheit, weil viele ihrer substantiellen Erfolge selbstverständlich geworden waren: eine fast flächendeckende soziale Sicherheit auch in Form einer umfassenden Gesundheits- und Altersvorsorge, ein zumindest bescheidener Wohlstand für fast alle und – ganz wesentlich – die Garantie der individuellen Freiheiten, die noch eine oder auch zwei, drei Generationen zuvor mühsam zu erkämpfen und zu verteidigen waren. Den meisten Menschen in den (westlichen) Demokratien Europas war es am Ende des sozialdemokratischen Zeitalters materiell besser gegangen als je zuvor, und sie hatten sich noch nie so frei und selbstbestimmt fühlen können.

Wegen dieser Erfolge der »westlichen«, der liberalen Demokratie schien die Sozialdemokratie in den 1980er Jahren die Definitionsmacht über das politische Geschehen zu verlieren: Die Ära Kreisky war Geschichte, die Ära Mitterrand neigte sich ihrem Ende zu. In Europas Demokratien wehte nach wie vor ein demokratischer Zeitgeist; aber der wehte nun von rechts. Margaret Thatcher war die Chefingenieurin dieses neuen Zeitgeistes. Die Sozialdemokratie hatte ihre Schuldigkeit getan. Und weil sie dafür (mit)verantwortlich war, dass politische Demokratie und soziale Sicherheit selbstverständlich geworden waren, schien die Sozialdemokratie überflüssig zu werden.

Was tun? Bei der Suche nach einer Antwort genügt es, daran zu erinnern, was da alles noch ausständig ist – über die Erfolge der Regierungen Attlees und Palmes, Kreiskys und Mitterrands hinaus. Die Sozialdemokratie war ja noch vieles schuldig geblieben – vor allem die Erfüllung ­einer Forderung, die in dramatischer Sprache 1848 für die »Proletarier« von Marx und Engels formuliert worden war: Die Vereinigung der arbeitenden Menschen »aller Länder«, die nichts zu ver­lieren hätten als »ihre Ketten«. Dass Ende des 20. Jahrhunderts die »Proletarier« mehr zu verlieren hatten als »ihre Ketten«, das war erreicht. Aber das andere Ziel blieb in weiter Ferne – die Überwindung nationaler Verengung.

Die Sozialdemokratie hat im 20. Jahrhundert vieles durchgesetzt. Ihre Erfolge sind vom Standpunkt einer liberalen, pluralistischen, auf Parteiwettbewerb und rechtsstaatlichen Garantien aufbauenden Ordnung nicht in Zweifel zu ziehen. Aber vieles von dem, was die Sozialdemokratie versprochen und was ihre AnhängerInnen bewegt und motiviert hat, bleibt unerfüllt. Das Glas des Fortschritts, wie ihn die Sozialdemokratie einmal definiert hat – von Karl Marx bis Victor Adler, von Leon Blum bis Olof Palme – ist halb voll, aber es ist eben auch halb leer. Nicht, weil die SPÖ und die SPD, die Labour Party und der Parti socialiste keine »klassenlose Gesellschaft« hergestellt hätten. Diese Marxsche Utopie konnte und kann niemand verwirklichen. Der Sozialdemokratie ist freilich vorzuhalten, dass sie allzu lange sich selbst und der Welt die Illusion vermittelte, sie – die SPÖ etwa – könnte das Paradies auf Erden verwirklichen; eine Gesellschaft, in der alle Menschen – wie von Marx erträumt – alle ihre Bedürfnisse befriedigen könnten und zusätzlich alle Freiheiten hätten, nur das zu tun, was ihren Fähigkeiten entspricht.

Der Abschied von dieser Illusion erfolgte spät, aber er war unvermeidlich. Nicht unvermeidlich aber war und ist, dass sich die Sozialdemokratie die Konsequenzen ihres Erfolges nicht bewusst machte. Der (zumindest bescheidene) Wohlstand und die (nicht unerhebliche) soziale Sicherheit, von sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften im 20. Jahrhundert (vor allem nach 1945) erkämpft, sind Erfolge, die auf nationaler Ebene erreicht wurden. Der demokratische Sozial- und Wohlfahrtsstaat ist ein österreichischer und ein schwedischer, ein deutscher, ein britischer und ein französischer, ein niederländischer und ein norwegischer. Aber er hat nichts mit dem zu tun, was an jedem 1. Mai unter roten Fahnen skandiert wird: »Hoch die internationale Solidarität!«

Internationale Solidarität findet statt, wenn sozialdemokratische Stadtverwaltungen Che Guevara-Büsten aufstellen. Internationale Solidarität findet nicht statt, wenn es um die Rechtsstellung von ZuwanderInnen aus der Türkei oder Marokko oder Nigeria geht. Internationale Solidarität, das war der Protest gegen den von den USA geführten Vietnam-Krieg. Von dieser Solidarität war aber nichts zu spüren, wenn es darum ging, eine sozialdemokratische Handschrift bei der Entwicklung einer europäischen Asyl- und Zuwanderungspolitik zu entwickeln. Der Grund für dieses Defizit? Die sozialdemokratischen Erfolge haben aus ProletarierInnen KleinbürgerInnen gemacht; und die haben nun einiges zu verlieren. Sie sorgen sich um Urlaubs- und Pensionsansprüche, um ihre Kranken- und Unfallversicherung, um einen gewissen Wohnkomfort: alles, was eigentlich im Sinne der marxistischen Begrifflichkeit nicht unbedingt »proletarisch« ist, sondern nach »Bourgeoisie« schmeckt; alles, was gefährdet erscheint, wenn der Zuzug der Menschen von außerhalb in den Wohlstandsregionen Europas das Lohnniveau zu drücken droht und das, was als »eigen« wahrgenommen wird – Sprache und Konsumgewohnheiten und Freizeitverhalten und die Vertrautheit des Milieus – nun durch »Fremdes« herausgefordert wird.

Dass die Sozialdemokratie »Hoch die internationale Solidarität« zwar gerufen, nicht aber verwirklicht hat, das hat eine lange Vorgeschichte. Im Vorfeld des europäischen Totentanzes von 1914, der die erste der Weltkatastrophen des 20. Jahrhunderts auslöste, versuchte die Zweite (die sozialistische) Internationale ihr bestehendes Netzwerk zu nützen, um den Kriegsausbruch zu verhindern. Der Versuch scheiterte. Bald schon schossen deutsche und französische Proletarier aufeinander, und Arbeiter und Bauern in österreichisch-ungarischer Uniform kämpften gegen serbische und russische. Schon davor war die 1889 als übernationale Partei gegründete österreichische Sozialdemokratie zerfallen – die tschechisch- und die deutschsprachigen Genossen ­fanden nicht mehr zu einer gemeinsamen Basis. Im deutschen Reichstag stimmte 1914 die SPD (mit Ausnahme von Karl Liebknecht und Otto Rühle) für die Kriegskredite (und damit für den Krieg), und in der Arbeiter-Zeitung, dem Zentralorgan der österreichischen Sozialdemokratie, feierte Friedrich Austerlitz dies als »Tag der deutschen Nation«. Nation schlug, Nation schlägt internationale Solidarität. Internationale Rhetorik ist das eine, die Wirklichkeit des Nationalen das andere.

Die Sozialdemokratie hat – und in diesem Sinn ist sie der marxistischen Einseitigkeit treu geblieben – die Tiefe und Komplexität gesellschaftlicher Bruchlinien jenseits der Klassengegensätze massiv unterschätzt. Sie hat die nationale Frage wie auch die zur »Frauenfrage« verniedlichte Geschlechterfrage als sekundäre Herausforderungen abgetan, die sich von selbst erübrigen würden, sobald die »Klassenfrage« beantwortet, das heißt gelöst wäre. Die nationale Frage ist heute so explosiv wie sie 1914 war, und die Sozialdemokratie steht der Globalisierung und der damit verbundenen globalen Migration hilflos gegenüber. Die Sozial­demokratie wurde im späteren 20. Jahrhundert von einer neuen Welle der Frauenbewegung überrollt, die sich nicht einfach parteipolitisch einordnen und der »Klassenfrage« unterordnen lässt, die vielmehr auf männerbündische, auf frauenfeindliche Affekte auch innerhalb der Sozialdemokratie stößt. Die Unterordnung der nationalen Frage und der Geschlechterfrage unter die »Klassenfrage« war Ausdruck dogmatischer Kurzsichtigkeit, die sich zu einem strategischen Fehler auswuchs und der noch nie so deutlich war wie in den Jahren um die Jahrtausendwende.

Dass die ersten Frauen, die als Resultat demokratischer Prozesse an die Spitze parlamentarischer Demokratien in (West-)Europa vorrückten, zumeist nicht aus der Sozialdemokratie kamen; dass in Österreich die 2020 gebildete konservativ-grüne Regierung das verwirklichte, was SPÖ-Regierungen nie schafften – einen Frauenanteil auf Regierungsebene von 50 Prozent, das muss die Sozialdemokratie nachdenklich stimmen; das muss sie als Beleg dafür sehen, dass sie die Zeichen der Zeit nicht früh genug erkannt hat. Die europäische Integration als ein Prozess zur Eindämmung der Nationalismen wurde zwar von der Sozialdemokratie – auch – mitgetragen, aber sozialdemokratische Parteien stellten nur eine Minderheit unter denen, die bei der Einigung Europas vorangingen. Ein Versäumnis war es auch, dass die Sozialdemokratie das Spannungsfeld zwischen einer auf ökonomisches Wachstum ausgerichteten Industriegesellschaft – die sozialdemokratische Parteien und Gewerkschaften ja in weiten Teilen mit geformt hatten – und einer diesem Wachstum skeptisch gegenüberstehenden Zeitgeistigkeit nicht früh genug wahrgenommen hatte: Die Ökologiebewegung begann außerhalb der Sozialdemokratie, und sie konnte von dieser auch nur in einem sehr begrenztem Umfang integriert werden, in Österreich und auch anderswo.

Die SPÖ hatte manche Entwicklungen einfach verschlafen. Sie reagierte allzu oft zu spät auf den gesellschaftlichen Wandel. Sie war gebremst von der Fixierung auf eine als »Basis« mythologisierte strukturkonservative Parteiorganisation. In den Sektionen wurde gelegentlich noch immer schwärmerisch vom »Proletariat« gesprochen – und dabei wurde ignoriert, dass es ein solches eigentlich nicht mehr gab. An dieser Basis wird das Erbe von Johanna Dohnal regelmäßig gewürdigt – und gleichzeitig empören sich an eben dieser Basis zumeist ältere Männer über das Diktat der »politischen Korrektheit«, die ihnen (angeblich) das »Binnen-I« aufzwingen und das Autofahren vermiesen will.

Andere österreichische Parteien – die Grünen, die NEOS – wurden bereits von Frauen geführt. Und dann schaffte die SPÖ es 2018 endlich, sich ein weibliches Gesicht zu geben. Doch die im alten Denken steckengebliebenen Männer innerhalb der Parteiführung taten (und tun) alles, um Pamela Rendi-Wagner mit männerbündischer Herablassung zu vermitteln, sie dürfe auf Zeit an der Parteispitze bleiben – solange, bis sich die im Gestern verhafteten Männer auf ein (wohl wieder) männliches Gesicht einigen könnten, das der Partei Orientierung geben würde. Eine Frau an der Parteispitze gilt in den Augen einer männlichen Oligarchie nicht als Zeichen eines Aufbruchs, sondern als Provisorium; nicht als Appell an die eine Hälfte der Gesellschaft, die viele Gründe hat, sich benachteiligt zu fühlen, sondern als kleine ­Panne im Ablauf der Parteigeschichte. Kein Wunder, wenn diese männerbündisch geprägte Altpartei oft so wirkt, wie vor Jahrzehnten der Karikaturist der »Arbeiter Zeitung« die ÖVP gezeichnet hat – als »alte Tant’«. Gäbe es ein männliches Pendant zur ÖVP-Tant’ von anno dazumal, man müsste die ihre Parteivorsitzende nicht wirklich respektierenden SPÖ-Männer so ähnlich karikieren – als »alte Opas«.

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