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Anno Dazumal
Was zum Lesen
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Der Gläubige(r)
Führer’s coming home
Aus dem Tagebuch eines künftigen Amokläufers
Über Ich
Impressum neobooks
Der Gläubige(r)
Ich war mal wieder am Ende und jener altbekannte, unheimlich vertraute Zustand, rief nostalgische Gefühle in mir hervor. Im Grunde war doch alles gleich geblieben: Ich bekam nie etwas auf die Reihe, war völlig überfordert und überhaupt nicht überlebensfähig. Klar war, daß es so nicht weitergehen konnte und deswegen machte ich mir so meine Gedanken über meine Zukunft. Eigentlich war ich überzeugt davon, daß ich nicht dazu geboren war, unter der Brücke zu leben, doch die letzten Jahre hatten mich eines Besseren belehrt und nachdem der Konkurrenzkampf um die besten Plätze dort immer härter geworden war, hatte ich den Beschluß gefaßt, meine phänomenale Vergangenheit hinter mir zu lassen und ein neues Leben zu beginnen. Doch zunächst hatte ich mich von meinem besten Freund zu verabschieden und das fiel mir wahnsinnig schwer, denn er war mir sehr ans Herz gewachsen und ich hatte viele schöne, wärmende Stunden mit ihm verbracht. Aber es half alles nichts und so schenkte ich meine letzte Schnapsflasche einem Passanten, der zufällig des Weges kam und sich darüber sichtlich freute. Jeden Tag eine gute Tat. Der Weg zum Arbeitsamt fiel mir schwer, denn dort verdrehten die Leute immer die Augen, wenn Gestalten wie ich das Berufsverzeichnis durchblätterten, doch davon ließ ich mich nicht beeindrucken. Allerdings schaffte ich es nicht mal bis ins Arbeitsamt hinein, denn der glatzköpfige Türsteher verhinderte das mit grimmiger Miene, entschlossenem Blick und abweisenden Handbewegungen. Nachdem ich erfolglos versucht hatte, mit ihm in der Gebärdensprache zu kommunizieren, woraufhin er mich verprügelt hatte, suchte ich das Weite. Ich hatte meine Lektion gelernt. Der deutsche Staat wollte nicht, daß ich arbeitete und das rechnete ich ihm hoch an. Auf einmal bemerkte ich in der Fußgängerzone, daß mich ein Mann mit einer Schnapsflasche in der Hand verfolgte. Ich wurde immer schneller, aber er ließ sich nicht abschütteln. Irgendwann gab ich es auf, blieb stehen und drehte mich um. Da stand ein strahlender Mann vor mir und lächelte mir ins Gesicht. Ich erkannte ihn wieder, denn die Flasche hatte er von mir.
„Hallo, ich bin Ansgar und Du bist der beste Mensch, der mir jemals begegnet ist“, ließ er glückselig verlauten. Ich verstand die Welt nicht mehr, doch um ehrlich zu sein, eigentlich hatte ich sie noch nie verstanden, so daß der Satz lauten hätte müssen: Ich verstand die Welt nicht. Alles wie immer. „Was willst Du mir mit Deiner Übertreibung, die jedes Maß überschreitet, sagen?“ forschte ich und er wäre beinahe vor mir auf die Knie gefallen, nur weil ich mit ihm gesprochen hatte. „Jemand wie Du, der gar nichts hat und trotzdem seine letzte Flasche Schnaps verschenkt, ist nicht von dieser Welt. Du bist ein Auserwählter“, stellte Ansgar fest. Zugegeben, das war insgeheim auch meine Meinung, aber das hätte ich niemals laut gesagt. „Na toll. Und was jetzt?“ erkundigte ich mich vorsichtig. „Ich würde mich sehr darüber freuen, wenn Du die unermeßliche Güte hättest, mich in mein bescheidenes Heim zu begleiten.“ Ich schluckte, denn ich hatte keine Ahnung wohin das noch führen sollte. Das war auch besser so, denn deswegen ging ich einfach mit. Wir marschierten zu einem Parkplatz, wo ein Chauffeur auf uns wartete, der mich merkwürdig ansah. „Egbert, das ist der Auserwählte. Endlich, nach so vielen Jahren der vergeblichen Suche, habe ich ihn gefunden.“ Nach jenen Worten Ansgars war Egbert plötzlich wie verwandelt. Er küßte mir die Hand und deutete einen Knicks an. Die ersten Passanten blieben bereits stehen und schauten uns irritiert oder belustigt zu. Wir stiegen ein und ließen die staubige Stadt hinter uns. Nach einer 20minütigen Fahrt waren wir am Ziel angekommen. Ansgars „bescheidenes Heim“ war eine riesige Villa auf einem Anwesen von gigantischen Ausmaßen und sowohl der große Swimmingpool als auch der stattliche Tümpel für die schwimmsportbegeisterten Tiere stachen mir sofort ins Auge. Dasselbe versuchte eine Wespe, doch Egbert rettete mich, indem er mir ins Gesicht schlug, woraufhin das Tier davonflog. „Egbert, hör bitte damit auf, den Auserwählten zu schlagen“, wies Ansgar ihn zurecht, doch ich klopfte dem Chauffeur anerkennend auf die Schulter und so war alles wieder in Butter. Danach gingen wir zur Villa und traten schließlich sogar ein.
Ich konnte nicht glauben was da geschah, aber es war Realität und das merkte sogar ich. Zugegeben, mein neues Zuhause war kein Palast und es stand kein Harem für mich bereit, aber das dort war schon mal ein vielversprechender Anfang. Sogar eine Frau kam auf uns zu, doch sie fiel nicht mir, sondern Ansgar um den Hals. „Schatz, ich habe den Auserwählten mitgebracht“, bemerkte Ansgar und sie schien zu erstarren. Da erst fiel mir langsam auf, daß ich für jenen Ort vielleicht etwas unpassend gekleidet sein könnte, denn nach wie vor trug ich meine bequeme, aber nicht mehr ganz frische Pennerkluft. Die Frau starrte mich immer noch an, dann wurde sie bewußtlos. Während ich noch darüber nachdachte, ob das mit meinem furchteinflößenden Aussehen zu tun hatte, oder an dem schrecklichen Gestank, den ich verbreitete, lag, verkündete Ansgar feierlich: „Damit ist der letzte Zweifel beseitigt. Dieser Übermensch ist der Auserwählte, denn Dolores ist noch nie zuvor bewußtlos geworden.“ Auf einmal tauchte noch eine Frau auf, die irgendwie zu Egbert zu gehören schien, was mir in den Sinn kam, nachdem sie jenen leidenschaftlich geküßt hatte. „Der da ist der Auserwählte“, flüsterte Egbert ihr ins Ohr und jene Worte schienen ihr Spaß zu machen, denn sie kicherte vergnügt und meinte dann: „Ich glaube, zunächst mal ist er dazu auserwählt, in die Wanne zu steigen.“ Jene Worte wiederum machten mir Angst und ich schaute Ansgar unsicher an. Der jedoch war mir keine große Hilfe, da er mir freundlich zunickte und mir damit zu bedeuten schien, daß er die Worte der Frau durchaus guthieß. Nun ja, mir war im Grunde schon klar gewesen, daß auch ich Opfer würde bringen müssen, aber daß das Ganze gleich mit einer Menschenrechtsverletzung beginnen sollte, stimmte mich nicht unbedingt hoffnungsfroh. Tief in mir drin trug ich die Überzeugung, daß wir als Fische geboren worden wären, wenn wir uns mit dem Wasser beschäftigen hätten sollen, doch jene gut gekleideten und angenehm riechenden Menschen schienen mich in einen der Ihren verwandeln zu wollen. Wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, folgte ich meiner Henkerin, die sich mir als Anneke vorstellte, bevor sie mich allein im Badezimmer zurückließ.
Ich begann am ganzen Körper zu zittern, denn ich hatte große Angst vor dem, was nun kommen würde. Zunächst betrachtete ich mich eine Weile im Spiegel und die Wahrheit öffnete mir die Augen und verschaffte mir beängstigende Klarheit: Ich sah aus wie der letzte Penner. Nein, noch schlimmer: Ich war der letzte Penner! Deswegen das ganze Auserwählten-Gequatsche, nun begriff ich endlich, was da gespielt wurde. Die Reichen hatten die Armut besiegt und nun wollten sie ihren Triumph feiern, indem sie mich in einen gesellschaftsfähigen Menschen verwandelten. Dann waren meine Brüder unter der Brücke also nur hochbezahlte Schauspieler und damit Lock-, aber leider keine Gossenvögel gewesen. Ich war am Boden zerstört, eine Welt brach für mich zusammen. Nur gut, daß ich sie gerade noch rechtzeitig verlassen hatte. Nun galt es, der nackten Wahrheit ins Gesicht zu sehen und das tat ich dann auch. Seit meiner Kleinkindheit hatte ich mich nicht mehr ohne Klamotten gesehen und da sie sehr an mir hingen, war es ein langer und harter Kampf, bis ich sie endlich dort hatte, wo sie hingehörten, nämlich auf den Boden der Tatsachen. So stand ich nackt vor dem Spiegel und konnte nicht glauben, was ich da sah. Ein Skelett, das nicht gerade ein erfreulicher Anblick war. Meine gebückte Haltung hatte ich mir hart erarbeitet und ansonsten sah ich wie der Alptraummann des Jahrhunderts aus. Nur gut, daß ich meine Augen schließen konnte, denn auf die Art und Weise ersparte ich mir den schrecklichen Anblick. Auf einmal nahm ich wahr, daß im Hintergrund Wasser lief und das erinnerte mich an die nächste Grausamkeit, die mir bevorstand. Beim Bade des Proleten! Ich spürte meine inneren Widerstände, doch ich bemerkte auch, daß der Dreck auf meiner Haut bereits eine beachtliche Dicke erreicht hatte. Das sah nach körperlicher Schwerstarbeit aus und davor war ich schon immer zurückgeschreckt. Vorsichtig stieg ich in das warme Wasser und jene ganze absurde Szene kam mir vor wie der symbolische Eintritt in ein neues Leben. Nun gab es kein Zurück mehr. Es kam mir vor wie eine Taufszene aus der Bibel, doch ich ahnte noch nicht, wozu ich bestimmt sein sollte.
Keine Ahnung wie ich das Bad überlebte, aber irgendwie hatte ich die Demütigung überstanden. Als ich in feine Kleidung gewandet zu meinen Bekannten zurückkehrte, schienen die mich fast nicht wiederzuerkennen, bis Egbert rief: „Tatsächlich, er ist der Auserwählte! Seht nur, wie gut ihm die Klamotten stehen!“ Alle nickten, nur ich kam mir verkleidet vor und glaubte, im falschen Film zu sein. „Jetzt erzählt mir doch bitte mal, wovon Ihr die ganze Zeit redet!“ verlangte ich und nach jenen Worten schauten sie mich verwundert an. Wir setzten uns alle Fünf um einen runden Tisch und ich blickte nervös auf die große Uhr, die da traurig an der Wand hing und sich nichts sehnlicher wünschte, als endlich in ein Antiquitätengeschäft zu kommen. Ansgar kapierte plötzlich, daß meine Worte ernst gemeint waren und so begann er mit seiner Erläuterung: „Zugegeben, ich hatte eigentlich gedacht, daß der Auserwählte weiß wer er ist und was für eine Aufgabe er hat, aber ich bin ja schließlich flexibel. Wir hier sind die Mitglieder der Mohn-Sekte. Vor einem Jahr haben wir sie gegründet und seitdem warten wir auf die Ankunft des Auserwählten. Wir glauben an ein Leben vor dem Tod und unterscheiden uns damit von vielen anderen Religionen, die uns auf das Jenseits vertrösten. Außerdem sind wir überzeugt davon, daß alles eins ist. Diese Welt ist ein galaktischer Unfall, denn durch den Urknall ist alles auseinandergerissen worden, was einst zusammen war. Das ganze Wissen wurde verschüttet und Leute wie Einstein, Newton und Kant sind nichts Anderes als Ausgräber von Dingen, die wir alle entdecken hätten können. Wir mußten auf Dich, den Auserwählten, warten, denn Du wirst uns in eine glorreiche Zukunft führen und die Mohn-Sekte wird wegen Dir weltberühmt werden. Wir erwarten Deine Anweisungen, Du Auserwählter.“ Na toll, das war ja eine schöne Scheiße, in die ich da geraten war. Daß immer mir so etwas passieren mußte. Wahrscheinlich zog ich die skurrilen Leute förmlich an. Fieberhaft überlegte ich mir, wie ich aus der ganzen Sache unauffällig aussteigen konnte, doch sie schauten mich ehrfürchtig an.
Ich merkte sofort, daß mir jene Blicke genauso unangenehm wie die mitleidsvollen Blicke waren, denen ich früher immer ausgesetzt gewesen war. Was nun? Ich dachte nicht lange nach und redete einfach drauflos: „Ihr verwechselt mich mit jemandem, ich bin nicht der Auserwählte, den Ihr erwartet. Ich bin nur ein einfacher Penner, der Ansgar zufällig eine Flasche Schnaps geschenkt hat.“ „Deine Bescheidenheit ist göttlich. Nur der Auserwählte selbst würde sich so erniedrigen und sein Dasein verleugnen. Du bist es, denn als Du Ansgar begegnetest, da hast Du genau das getan, was in der Prophezeiung gestanden hat: Du hast ihm eine Flasche mit heiligem, geweihtem Wasser überreicht“, machte Dolores deutlich und da begriff ich, daß jene Leute immer nur das hörten, was sie hören wollten. Das machte die Sache nicht gerade einfacher und so beschloß ich halt, das Spiel für eine Weile mitzuspielen, denn was sollte schon passieren? Immerhin hatte ich ein Dach über dem Kopf, genug zu essen und zu trinken, sowie meinen eigenen Fanclub. Nicht schlecht für einen arbeitslosen Obdachlosen, der es in seinem bisherigen Leben nicht einmal auf die Zugspitze geschafft hatte. „Das ist die Chance meines Lebens. Wenn die sich so hartnäckig einbilden, daß ich ihr Auserwählter bin, dann bin ich es halt. Immer noch besser als wenn ich ihr Haussklave wäre“, dachte ich mir und lehnte mich beruhigt zurück. Es wurde ein unterhaltsamer Abend und ich bemerkte, daß die vier Menschen irgendwie zusammengehörten, auch wenn Egbert und Anneke als Chauffeur und Haushälterin von der Hierarchie her betrachtet unter Ansgar und Dolores standen. Allerdings schien das keine große Rolle zu spielen, denn sie duzten sich und benahmen sich wie gute alte Freunde, die allen Grund zum Feiern hatten. Ich hielt mich zurück, doch das schien sie nicht zu stören. Wir aßen und tranken, sie erzählten unterhaltsame Geschichten und ich nickte hin und wieder huldvoll, worüber sich meine Gastgeber sehr freuten. Irgendwann wurde ich müde und ging schlafen. Mit glänzenden Augen schauten sie mir hinterher, doch das war ihr Problem. Sie wollten betrogen werden.
Den darauffolgenden Tag verbrachte ich im Bett, denn ich hatte keine Lust etwas zu tun und meine Anhänger fanden das auch nicht weiter schlimm. So lag ich faul herum und ließ die Zeit verstreichen und das tat sie mit Wonne. Ich schaute ihr dabei zu und ihr gefiel es, daß ich sie dabei beobachtete. Doch mit der Zeit wurde sogar mir das Nichtstun zu langweilig und so stand ich am dritten Tag wieder auf, was die vier Anhänger der Mohn-Sekte dazu brachte, meine Wiederauferstehung von den Schlafenden zu feiern, was ich dann doch ein kleines bißchen übertrieben fand. Aber sie hatten Spaß dabei und freuten sich wie kleine Kinder, so daß ich sie gewähren ließ. Aber die Tage vergingen und ich wurde immer launischer und unzufriedener, denn alles wurde für mich getan und ich selbst brauchte keinen Finger zu rühren. Nun konnte ich langsam verstehen, wie schwer es die Könige damals gehabt hatten und daß es wahrlich kein Vergnügen war, immer nur rumzusitzen und zu befehlen. Eigentlich wollte ich nur meine Ruhe haben, doch davon hielten meine Fans immer weniger. Ganz im Gegenteil. Sie hatten bereits ein Fernsehinterview für mich arrangiert und davon war ich im Gegensatz zu ihnen ganz und gar nicht angetan. Andererseits konnte ich die Sache natürlich auch nicht platzen lassen und so versuchte ich, mich auf das anstehende Gespräch bei dem kleinen Nachrichtensender vorzubereiten. Ich hatte Angst vor dem Interviewer, doch seit er nicht mehr kokste, war er ziemlich handzahm geworden. Nichtsdestotrotz konnte ich in der Nacht vor meinem Auftritt nicht schlafen. Schließlich hatte ich keine Ahnung von der Mohn-Sekte, ihren Zielen, Vorstellungen und Idealen, was auf der anderen Seite aber auch ein Vorteil sein konnte. Als ich am nächsten Morgen nach zwei Stunden Halbschlaf aufwachte, stellte ich zu meiner unangenehmen Überraschung fest, daß ich ins Bett gemacht hatte. Der Tag fing ja gut an, es konnte nur besser und hoffentlich nicht nässer werden. Meine Anhänger empfingen mich erwartungsvoll, denn es war ein entscheidender Tag für unsere kleine, elitäre Sekte und meine Fans hofften, daß daraus nach meinem Interview eine Massenbewegung werden würde.
Der Ex-Koksmichel namens Kriegan behandelte mich überaus freundlich und zuvorkommend, doch davon ließ ich mich nicht beeindrucken, denn ich kannte seine Art, einen in die Enge zu treiben, aber ich war vorbereitet. Nun ja, um deutlich zu machen, was danach abging, bleibt mir nichts Anderes übrig, als das peinliche Interview im Wortlaut zu wiederholen. Mein Gegenüber begann: „Liebe Zuschauer, ich habe heute einen Mann bei mir, der so etwas wie die religiöse Hoffnung der Atheisten darstellt oder so ähnlich. Leider will er mir seinen Namen nicht verraten, er behauptet er hätte keinen. Aber egal, ich fange jetzt einfach mal an: Guter Mann, was haben Sie und Ihre Sekte vor?“ „Wir wollen ein neues Bewußtsein kreieren, eine Mischung aus Handeln, Wandeln und Glauben. Wir von der Mohn-Sekte verfügen über das Wissen und die Kapazitäten, um die Menschheit von sich selbst zu befreien. Wir können alles und gemeinsam werden wir es schaffen. Möge die Nacht mit Euch sein.“ „Das ist ja alles schön und gut, was Sie mir da einreden wollen, aber worum geht es Ihrer Vereinigung eigentlich, jetzt von der Weltherrschaft mal abgesehen?“ „Um die Freiheit, um die Gerechtigkeit, um die geistige Sauberkeit, um die Wahrheit, kurz und gut: Um alles was wichtig ist.“ „Sie bleiben immer noch sehr schwammig, mein Lieber. Stimmt es, daß Sie bis vor Kurzem ein obdachloser Penner gewesen sind, der sein ganzes Leben verpfuscht hat?“ „Wenn Sie bis vor Kurzem der waren, der seine Gäste immer befummelt und an die Wand geschnieft hat, dann schon.“ Daraufhin schwieg der Ex-Koksmichel beleidigt und stellte keine einzige Frage mehr. Ich hatte auch keine Lust mehr, mit jenem Lackaffen zu reden und so schwiegen wir uns minutenlang an, bis ich irgendwann aufstand und ging. Ich wußte, daß ich es vermasselt hatte und wollte deswegen gleich wieder unter meine Brücke gehen, doch Anneke fiel mir um den Hals, drückte mich ganz fest an sich und rief: „Danke! Wir haben es geschafft! Jetzt sind wir das Gesprächsthema im ganzen Land!“ Ich verstand überhaupt nichts mehr und wollte auch nicht darüber nachdenken. Egbert fuhr mich nach Hause.
Es hörte sich unglaublich an, aber mein Interview war in aller Munde. Aber nicht wegen dem, was ich gesagt hatte, sondern nur deswegen, weil ich nichts gesagt hatte. Fast alle Fernsehsender zeigten die Ausschnitte vom schweigenden Ex-Koksmichel und mir, wie wir uns minutenlang nichts zu sagen hatten. Mit einem Mal war ich berühmt und bekannt im ganzen Land und ich wußte nicht, was ich davon halten sollte. Ständig klingelte das Telefon, alle möglichen Leute wollten mit mir schweigen, aber es gab auch Anspruchsvollere, die mit mir reden wollten. Durch mein demonstratives Schweigen hatte ich den Eindruck erweckt, ich hätte etwas zu verbergen und wüßte mehr als die Anderen. Dem war zwar überhaupt nicht so, aber es kam nur darauf an, was die Leute glaubten. Plötzlich war die Mohn-Sekte ein überall bekannter Name und alle möglichen Personen wollten unserer Vereinigung beitreten, obwohl sie, genauso wie ich, keinen blassen Schimmer davon hatten, worum es bei uns eigentlich ging. Na ja, Ansgar und die drei Anderen waren jedenfalls schwer beschäftigt und ich wurde beauftragt, meine Rede für die in zwei Tagen stattfindende Mitgliederversammlung zu entwerfen. Das konnte ja heiter werden! Ich haßte es, mir etwas aus den Fingern zu saugen zu müssen, aber mir blieb nichts Anderes übrig, denn ich war der Kopf der Bewegung und die Sekte wurde mit meinem Gesicht verbunden. Tja, das hatte ich nun davon, doch es war zu spät um auszusteigen und außerdem fing es schön langsam an, richtig interessant zu werden. Ich war sehr gespannt darauf, ob es mir gelingen würde, die Neuen zu begeistern, doch ich wußte, daß ich dazu der absolut falsche Mann war. Andererseits spielte das womöglich gar keine Rolle, denn solange alle glaubten, daß ich den Mist für richtig hielt, den ich verzapfte, war alles in Butter. Natürlich war ich ein bißchen aufgeregt, aber im Grunde hatte ich mich schon damit abgefunden, der Auserwählte zu sein und mich mit meinem Schicksal arrangiert. So feilte ich stundenlang an meiner Rede und als ich dann zwei Tage später vor fast 500 Leuten in einem Festzelt stand, da war mir schon ganz schön mulmig zumute, denn aller Augen ruhten auf mir und das bedeutete leider Verantwortung.
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