Читать книгу: «Der Filigranschmuck», страница 2
Mein erster Blick ließ mich wenig mehr erkennen als die schweren Umrisse eines alten Sessels, der an der einen Ecke des Kamins stand und zur Hälfte schräg in das Zimmer vorsprang. Da es augenscheinlich dieser Stuhl war, auf dem die Menschen, die man hier von Zeit zu Zeit tot aufgefunden hatte, von ihrem Schicksal ereilt worden waren, so fühlte ich, wie mich ein eisiger Schauer durchrieselte, als ich seine massige Form und den tiefen Schatten gewahrte, den er auf den Fußboden warf. Um den gespenstischen Erinnerungen, die er hervorrief, zu entgehen und auch um mich zu überzeugen, daß das Zimmer völlig leer sei, wie es den Anschein hatte, tat ich einen Schritt vorwärts. Die Folge davon war, daß das Licht der Laterne, die ich trug, über den Punkt hinausdrang, auf dem es sich bis dahin in so effektvoller Weise konzentriert hatte, aber eben dadurch uns die trostlose Oede des weiten Raumes noch fühlbarer zum Bewußtsein brachte. Der Stuhl war an den Fußboden angeschraubt, wie ich später feststellte, und beinahe das einzige Möbel in der ganzen Ausdehnung des Zimmers, auf dessen Fußboden kein Teppich lag. Am anderen Ende standen tief im Schatten ein oder zwei Tische und möglicherweise auch ein paar Stühle; aber der allgemeine Eindruck, den ich erhielt, war der eines vollständig verwahrlosten, den Motten und dem Roste zur Beute überlassenen Raumes.
Die Wände muß ich allerdings ausschließen. Sie waren nicht kahl wie der Fußboden, sondern von unten bis hinauf zur Decke mit Büchern bedeckt. Es waren keine modernen Bücher, sie hatten so lange an ihrem Platze gestanden, daß sie die Farbe und den Geruch des Schimmels angenommen hatten – nun, ich brauche hier dem Gemälde keinen weiteren Zug hinzuzufügen. Jedermann kennt den Geist gesundheitsschädlicher Verödung, der in Räumen herrscht, die seit undenkbaren Zeiten von Licht und Luft abgeschlossen gewesen sind.
Die Schönheit der mit schweren Stuckornamenten verzierten Decke, von der man zugeben mußte, daß sie zu den prächtigsten ihrer Art in Washington gehörte, sowie die reichen Skulpturen, die den aus weißem Marmor gehauenen Kamin schmückten, dienten nur dazu, die äußerste Verwahrlosung, der die übrigen Teile des Zimmers anheimgefallen waren, noch greifbarer zu machen. Da ich nichts weniger als Lust hatte, den beklemmenden Eindruck, den das Ganze auf mich gemacht hatte, noch weiter auf mich wirken zu lassen, und außerdem überzeugt war, daß der Raum in der Tat so leer war, wie es den Anschein hatte, wandte ich mich zum Gehen, als meine Augen mit einem Male auf etwas so Unerwartetes und Ungewöhnliches fielen, daß ich noch unter dem Eindrucke der früheren Tragödien stehend, von denen mein Geist naturgemäß noch erfüllt war, stutzte und zurückfuhr, ungewiß, ob ich einen wirklichen Gegenstand vor mir habe oder ob mich ein Spiel meiner wild aufgeregten Phantasie äffe.
Vor mir lag eine Gestalt auf dem Fußboden, und zwar in einer Ecke, die meinen Augen bisher durch die halb offene Tür entzogen gewesen war – eine weibliche Gestalt, die, wie ich sofort beim ersten Blick erkannte, von ätherischer Zartheit und ausnehmender Feinheit war, und diese Gestalt lag so da, wie sonst nur Tote daliegen – Tote! Und ich hatte soeben erwartet, auf dem Lehnsessel genau demselben Anblick zu begegnen! Nein, es war nicht genau derselbe Anblick, denn diese Frau lag am Boden, das Gesicht nach oben gekehrt, und auf der Diele neben ihr zeigten sich Blutspuren –
Eine Hand hatte meinen Arm gepackt. Es war die Hibbards. Befremdet von meiner Unbeweglichkeit und Schweigsamkeit war er mit schlotternden Gliedern eingetreten, kaum wissend, was er sich denken sollte. Sobald aber seine Augen auf die ausgestreckte Gestalt fielen, die meine Blicke mit magischer Gewalt gefesselt hielt, vollzog sich in ihm eine unerwartete Veränderung. Was mir alle Kraft und Fassung geraubt hatte, gab ihm seine volle Selbstbeherrschung zurück. Der Tod in dieser Gestalt war ihm vertraut. Vor Blut fürchtete er sich nicht. Er zeigte auch keine Ueberraschung bei der Entdeckung der Blutspuren, wohl aber, als er die Wirkung bemerkte, die diese auf mich auszuüben schienen.
Erschossen! lautete seine lakonische Erklärung, als er sich über die Leiche beugte. Durch das Herz geschossen! Sie muß tot gewesen sein, ehe sie zu Boden stürzte.
Erschossen!
Dies war eine für dies Zimmer ganz neue Erfahrung! Bisher hatte noch keine Wunde die Opfer, die hier gefallen waren, entstellt, auch war keiner von den Toten in einer anderen Stellung gefunden worden als in den Armsessel zurückgelehnt. Während diese Gedanken durch meinen Kopf schossen, blickte ich unwillkürlich nach jenem Sessel hin, denn ich wollte es beinahe nicht glauben, daß die Leiche diesmal hier ausgestreckt zu meinen Füßen lag. Als ich aber dort nichts bemerkte als den leeren Sessel unseligen Andenkens, überlief mich abermals ein Schauer, der mich einigermaßen auf den Ruf vorbereitete, den Hibbard jetzt ausstieß.
Sehen Sie her! Wie erklären Sie sich dies?
Er deutete auf etwas, was sich bei näherer Besichtigung als ein Stück weißen Seidenbandes herausstellte, das von einem der zarten Handknöchel der Frau vor uns bis zu dem Griff einer Pistole lief, die nicht allzuweit von ihr entfernt auf dem Fußboden lag. Es sieht aus, als sei die Pistole an ihr festgebunden worden. Etwas Derartiges ist mir in meiner Praxis noch nicht vorgekommen. Was, meinen Sie, bedeutet dies?
Ach, es konnte nur eine Bedeutung haben. Der Schuß, der ihrem Leben ein Ziel gesetzt hatte, war von ihrer eigenen Hand abgefeuert worden. Dieses feine, zarte Geschöpf war eine Selbstmörderin!
Aber ein Selbstmord in diesem Raume! Welche Erklärung konnten wir dafür finden? Hatten die Erzählungen, die über dieses berüchtigte Zimmer im Umlauf waren, hypnotisch auf sie eingewirkt, oder war sie zufällig auf die offene Haustür gestoßen und froh gewesen, einen Zufluchtsort zu finden, an dem sie ihrem Elend ungestört ein Ende machen konnte? Ich blickte ihr scharf in das emporgerichtete Antlitz, um eine Antwort auf diese Frage zu finden, und während ich dies tat, durchzuckte mich eine neue schreckensvolle Vermutung, die ich nicht zauderte, meinem jetzt nicht mehr allzu schwachnervigen Gefährten mitzuteilen.
Sehen Sie sich diese Züge an, rief ich. Ich glaube sie zu kennen, Sie auch?
Er murmelte etwas, was wie eine Weigerung klang, beugte sich aber schließlich doch auf meine Bitte über die Leiche und richtete einen langen, forschenden Blick auf das junge Antlitz der bedauernswerten Frau. Als er wieder aufsah, hatte er die Augenbrauen nachdenklich zusammengezogen.
Ich habe sie sicher schon irgendwo gesehen, gab er zögernd zu, indem er sich langsam der Tür näherte. Vielleicht in den Zeitungen. Gleicht sie nicht –?
Ja, unterbrach ich ihn, es ist Veronika Moore selbst, die Besitzerin dieses Hauses, die vor vierzehn Tagen hier mit Herrn Jeffrey getraut wurde. Augenscheinlich hat ihr Geist unter dem schrecklichen Vorfall gelitten, der einen so düsteren Schatten über ihre Hochzeit warf.
Drittes Kapitel
Nicht einen Augenblick war ich über die Richtigkeit dieser Identifikation im Zweifel. Alle Bilder, die ich von dieser in der Gesellschaft wohlbekannten Schönheit gesehen hatte, zeigten einen ganz eigenartigen Ausdruck, der ihr Gesicht nicht wieder aus dem Gedächtnis schwinden ließ und den ich jetzt von neuem in den leblosen Zügen vor mir erkannte.
Im höchsten Grade betroffen über meine Entdeckung, aber vollkommen überzeugt, daß dieser Selbstmord nur die furchtbare Fortsetzung einer schon zur Genüge schauerlichen Tragödie war, unternahm ich zunächst die Schritte, die in solchen Fällen selbstverständlich sind. Nachdem ich den nur allzu bereitwilligen Hibbard mit der Meldung an die Polizeiwache beauftragt hatte, wollte ich mir eben die Einzelheiten, die mir von Bedeutung erschienen, aufzeichnen, als mit einem Male meine Laterne verlöschte und mich in vollständiger Finsternis ließ.
Dies war nichts weniger als angenehm, aber der dadurch hervorgebrachte Eindruck blieb nicht ergebnislos. Denn kaum fand ich mich allein in dieser dichten Finsternis und in diesem gruftähnlichen Raume, so war ich davon überzeugt, daß keine Frau, so geistesgestört sie auch sein mag, den Sprung in eine unbekannte Welt in tiefer Dunkelheit wagen wird, die ihr den Gedanken an das Grab, dem sie entgegeneilt, nur allzu nahelegt. Dies wäre unnatürlich, unter allen Umständen unnatürlich für eine Frau. Entweder hatte sie den Schlußakt herbeigeführt, ehe der schwache Tagesschimmer, der durch die geschlossenen Fensterläden eindringen konnte, gänzlich verschwunden war – eine Annahme, die aber sofort durch die Wärme widerlegt wurde, die an einzelnen Stellen ihres Körpers noch zu fühlen war – oder aber das Licht, das gebrannt hatte, während sie den verhängnisvollen Schuß abgab, war seitdem anderswohin gebracht oder gelöscht worden.
In Erinnerung an den unbestimmten Schimmer, den wir an einem der oberen Fenster bemerkt hatten, war ich geneigt, die erstere Annahme für richtig zu halten, wollte aber beiden gerecht werden. Nachdem ich daher meine Laterne wieder angezündet hatte, drehte ich an einem der Gashähne des massiven Kronleuchters, der über mir hing, und hielt ein brennendes Streichholz daran. Das Ergebnis war das vorausgesehene; es war kein Gas in den Röhren. Ein Gasometer war für die Hochzeit nicht aufgestellt worden. Dies hatten die Zeitungen wiederholt hervorgehoben, als sie von der zauberhaften Wirkung des Tageslichtes auf die eleganten Toiletten der Damen sprachen. Nicht einmal für Kerzen hatte man gesorgt – ah, Kerzen! Was war denn das, was ich auf einem kleinen Tische an der gegenüberliegenden Wand des Zimmers bemerkte? Ohne Frage ein Leuchter oder vielmehr ein altmodischer Armleuchter mit einer halbverbrannten Kerze in einer von seinen Tüllen. Rasch ging ich hin und fühlte nach dem Docht. Er war ganz hart und steif. Da ich dies aber nicht als genügenden Beweis dafür betrachtete, daß er nicht vor kurzer Zeit gebrannt habe – die Spitze eines Dochtes trocknet bald, nachdem die Flamme ausgelöscht ist – zog ich mein Taschenmesser hervor und untersuchte den Docht an seiner Wurzel; dabei fand ich, daß dort, wo das Stearin die Fäden geschützt hatte, sie verhältnismäßig weich und biegsam waren.
Die daraus zu ziehende Folgerung lag auf der Hand. Wie ich instinktiv gefühlt hatte, war die Waffe von der Frau nicht im Dunkeln abgefeuert worden; diese Kerze hatte dabei gebrannt. Hier stockten meine Gedanken jedoch von neuem. Wenn sie gebrannt hatte, von wem war sie dann gelöscht worden? Auf keinen Fall von der Dame selbst; die Kugel hatte hierfür ihr Ziel allzugut getroffen. Also hatte jemand anders – jemand, dessen Atem noch in der mich umgebenden Luft schwebte – diese Kerze nach dem Fallen des Schusses gelöscht, und die Tote zu meinen Füßen war keine Selbstmörderin, sondern sie war ermordet worden.
Die Erregung, die mir bei dieser Entdeckung durch jeden Nerv zitterte, hatte ihren Ursprung in meinem Ehrgeize, von dem ich am Eingange dieser Erzählung gesprochen habe. Ich glaubte, die langersehnte Gelegenheit sei endlich für mich gekommen, und hoffte, es werde mir gelingen, von der soeben gemachten Wahrnehmung ausgehend, so viel Anhaltspunkte zu finden und Tatsachen festzustellen, daß sie mit Notwendigkeit zur Anerkennung dieser neuen Auffassung anstatt der von Hibbard gewonnenen, daß ein Selbstmord vorliege, führen müßten; diese letztere Annahme würde natürlich auch auf sämtlichen Polizeiwachen geteilt werden, da mein Kollege ja dabei war, seine Nachricht überall zu verbreiten. Drang ich mit meiner Ansicht durch, welch ein Triumph würde dann meiner harren, und welchen Dank würde ich dem grämlichen alten Herrn schulden, dessen anscheinend phantastische Befürchtungen mich zuerst in dieses Haus geführt hatten!
Während ich diese verheißungsvolle Aussicht überdachte, die sich mir in den wenigen Minuten, die es mir vergönnt gewesen war, allein an dem Schauplatz des Verbrechens zuzubringen, eröffnet hatte, machte ich mich mit jenem methodischen Zielbewußtsein, das, wie ich mir stets gelobt hatte, meinen ersten Erfolg im Detektivberufe kennzeichnen sollte, an die Lösung meiner Aufgabe.
Zunächst also noch einen Blick auf das schöne junge Opfer selbst! Welch ein Leidenszug um die Braue! Welch tiefe Höhlen entstellten die Wangen, die im übrigen so zart waren wie die Blütenblätter einer Rose! Das interessante, wenn auch nicht im strengsten Sinne schöne Antlitz erzählte mir manches, was ich kaum in Worte fassen konnte, sodaß ich den Eindruck gewann, als lasse die Tote ein anziehendes, aber unergründliches Geheimnis hinter sich; von dem Gesicht wandte ich mich zum Studium der Hände, von denen jede ein besonderes Problem darbot. Das von dem rechten Knöchel dargebotene kennt der Leser bereits – das lange weiße Band, an dem die abgeschossene Pistole hing. Die linke enthüllte ein zwar weniger schreckliches, aber vielleicht ebenso bedeutungsvolles Geheimnis. Sämtliche Ringe waren verschwunden, selbst der Trauring, der vor so kurzer Zeit hierher gesteckt worden war. Hatte man sie beraubt? Ich konnte keine Anzeichen von Gewalt, ja nicht einmal von jener Unordnung bemerken, die die Beraubung durch Verbrecherhand zu begleiten pflegt. Die Krause von köstlichen schwarzen Spitzen, die ihren Hals umgab, befand sich in tadellosem Zustande, und die schweren Falten ihres Kleides aus feinem Tuch deuteten in keinerlei Weise darauf hin, daß irgend eine fremde Hand die Tote nach ihrem Hinstürzen berührt hätte. Wenn ein Schmuck an ihrem Halse geglänzt oder Ringe ihre Ohren geschmückt hatten, so waren sie von einer sorgsamen, wenn nicht gar liebenden Hand entfernt worden. Aber ich neigte eher zu der Ansicht, daß sie den Schauplatz ihres Todes ohne Schmucksachen betreten hatte – eine solch strenge Einfachheit sprach aus ihrem ganzen Anzuge.
Ihr Hut, der ebenso einfach und elegant war wie ihre sonstige Kleidung, lag neben ihr auf dem Fußboden. Augenscheinlich hatte ihn eine ungeduldige Hand abgenommen und weggeworfen. Daß diese Hand ihre eigene gewesen war, ging aus einem kleinen, aber sehr bedeutsamen Umstande hervor. Die Nadel, die den Hut auf ihrem Haar festgehalten hatte, war wieder in ihn hineingesteckt worden. Keine Hand außer der ihrigen würde so ordnungsliebend gewesen sein. Ein Mann würde sie ebenso heftig zur Seite geschleudert haben, wie er dies mit dem Hute getan hätte.
Es erhob sich nun die Frage: deutete dies auf ihre selbstverständliche Absicht hin, den Hut wieder aufzusetzen? Oder war die Handlung die Folge einer zur zweiten Natur gewordenen Gewohnheit?
Nachdem ich nun alles notiert hatte, was möglicherweise von Bedeutung sein konnte, ohne den Rechten des Coroners In Amerika und England der Beamte, der bei verdächtigen Todesfällen die Untersuchung zu leiten hat. vorzugreifen, machte ich mich zunächst daran, Anhaltspunkte für die Feststellung der Person zu suchen, die ich für das Löschen der Kerze verantwortlich machen zu müssen glaubte. In dieser Hinsicht wartete meiner jedoch eine große Enttäuschung. Ich konnte nichts finden, was auf die Gegenwart einer zweiten Person hätte schließen lassen können, außer einem Häufchen Zigarrenasche in der Nähe eines gewöhnlichen Küchenstuhls, der vor den Bücherbrettern in dem Teile des Zimmers stand, in dem sich der kleine Tisch mit dem Armleuchter befand. Aber diese Asche sah alt aus, und ich konnte in der dumpfen Atmosphäre, die im ganzen Zimmer herrschte, auch keine Spur von Tabaksgeruch entdecken. Rührte diese Asche von dem Manne her, der vor vierzehn Tagen hier gestorben war? War dies der Fall, so mußte seine nicht zu Ende gerauchte Zigarre irgendwo zu bemerken sein. Sollte ich nach ihr suchen? Nein, zu diesem Zwecke hätte ich mich zu dem Sessel begeben müssen, und dies war mir denn doch eine zu gefährliche Stelle, als daß ich mich ihr ohne besondere Vorsichtsmaßregel hätte nähern mögen.
Außerdem war ich mit meiner Untersuchung des Fleckes, auf dem ich stand, noch nicht zu Ende. Konnte ich zu keinem befriedigenden Resultat hinsichtlich der Asche gelangen, so war dies doch vielleicht in bezug auf den Stuhl oder die Bücherreihen, vor denen er stand, möglich. Es hatte jemand hier gesessen, der sich für Bücher interessierte, jemand, der für jene alten Bände genügend Zeit übrig zu haben glaubte, um das Bedürfnis nach einem Stuhle zu empfinden. War dieses Interesse ein allgemeines gewesen, oder hatte es sich auf einen bestimmten Band konzentriert? Ich ließ mein Auge über die Bücher gleiten, soweit es reichte, möglicherweise in der Absicht, diese Frage zu stellen, und obgleich ich nur eine beschränkte Kenntnis von Büchern besitze, sah ich doch sofort, daß man diese hier sehr wohl als Seltenheiten bezeichnen konnte. Einige von ihnen enthielten Proben von altgotischer Schrift und waren mit Moder und Staub bedeckt, andere waren Inkunabeln, die das Entzücken eines jeden Sammlers bilden mußten. Aber an keinem konnte man eine Spur davon entdecken, daß es in jüngster Zeit zur Hand genommen worden war, und um keine Zeit mit nichtigen Einzelheiten zu vergeuden, entfernte ich mich rasch von dem Stuhle und war im Begriff, meine Aufmerksamkeit nach einer anderen Richtung zu lenken, als ich auf einem der oberen Fächer ein Buch bemerkte, das etwas vor den übrigen hervorragte. Im Nu war ich auf dem Stuhle und ergriff das Buch. Fand ich es interessant? Jawohl, aber nicht hinsichtlich seines Inhaltes, denn der war mir völlig unverständlich, sondern weil der Staub am oberen Rande abgewischt war, der doch jeden anderen Band, den ich zur Hand genommen hatte, bedeckte. Dieses Buch also war es, das den Unbekannten an die Bücherfächer gelockt hatte – diese – ich will sehen, ob ich mich an seinen Titel erinnern kann – Untersuchung über alte Küstenlinien. Pah! Ich hatte meine Zeit verloren. Was hatte ein solch trockenes Lehrbuch wie dieses mit der Toten zu tun, die einige Schritte hinter mir in ihrem Blute dalag, oder mit der Hand, die die Kerze nach jener grausigen Tat gelöscht hatte? Nichts! Ich stellte das Buch wieder an seinen Platz, aber nicht so hastig, um es auch nur einen Zoll weiter nach vorwärts zu stellen, als ich es gefunden hatte. Denn wenn es eine Geschichte zu erzählen hatte, so war es meine Pflicht, dafür zu sorgen, daß diese Geschichte von anderen gelesen werden konnte, die sich besser auf Bücher verstanden als ich.
Mein nächster Schritt führte mich zu dem kleinen Tische, auf dem der Armleuchter mit seinen glänzenden Behängen stand. Dieser Tisch gehörte zu einer Gruppe gleichartiger Möbel, die an einer Wand standen. Die nähere Untersuchung ergab, daß der Tisch vor ganz kurzer Zeit von den anderen Möbeln entfernt und an seinen gegenwärtigen Platz gebracht worden war, da der Staub, der auf seiner Platte lag, an einer Seite, an der man ihn getragen hatte, fast vollständig fehlte. Auch der Armleuchter hatte nicht lange auf dem Tischchen gestanden, da der Staub sowohl unter ihm, als um ihn herum lag. Hatte ihre Hand ihn hierher gebracht? Schwerlich, wenn er sich auf dem Simse des Kamins befunden hatte, an dessen Untersuchung ich mich nunmehr machte.
Ich habe diesen Kamin schon mehr als einmal erwähnt. Dies hätte sich auch kaum vermeiden lassen, da in ihm und in seiner Nähe der Schlüssel des Geheimnisses lag, wegen dessen das Zimmer so verrufen war. Obgleich ich jedoch so ausführlich von ihm gesprochen habe und er mir nicht ein einzigesmal aus dem Sinne gekommen war, so hatte ich doch noch nicht gewagt, ihn anders als aus sicherer Entfernung zu betrachten. Als ich nun überlegte, wie ich wohl am gefahrlosesten näher treten könne, fühlte ich jenes plötzlich aufsteigende und alles überwältigende Interesse an jeder Einzelheit seines Aeußeren, das sich an alle mit einer Gefahr verbundenen Gegenstände knüpft.
Ich tat einen Schritt auf ihn zu und hielt dabei meine Laterne so, daß ein heller Strahl auf einen verblaßten alten Stich fiel, der über dem Kamin hing. Es war das – wenigstens in Washington – wohlbekannte Bild, das Benjamin Franklin am französischen Hofe darstellt und an sich ohne Zweifel interessant, aber kaum geeignet war, in einem so kritischen Moment das Auge zu fesseln. Auch das Bücherbrett darunter konnte nicht mehr als vorübergehende Aufmerksamkeit erregen, denn es war vollkommen leer. So war auch die abgenutzte, vielleicht blutbefleckte Feuerstelle, soweit sie sich in dem undurchdringlichen Schatten, den die hohe Gestalt des großen an einer Ecke des Kamins stehenden Sessels auf ihn warf, erkennen ließ.
Ich habe schon den Eindruck beschrieben, den dieses alte, charakteristische Möbel bei meinem Eintreten auf mich gemacht hatte.
Dieser wurde jetzt noch verstärkt, als mein Auge über die plumpe Schnitzerei streifte, die die Unbequemlichkeit seiner hohen, geraden Rücklehne noch erhöhte und ich den muffigen Geruch seiner möglicherweise von Mäusen bewohnten Polster spürte. Ein geheimes Furchtgefühl stieg in mir auf und trat an die Stelle meines anfänglichen instinktiven Widerstrebens. Umfing mich der Aberglaube mit seinen Schrecken? Ort und Stunde sowie die unmittelbare Nähe der Toten wären vollkommen geeignet gewesen, die Einbildungskraft über die Grenzen der Wirklichkeit hinauszutragen. Während ich so in Gedanken versunken dastand und den Armsessel mit seinem Lederbezuge und den schweren geschmiedeten Nägeln betrachtete, mittels deren der letztere an dem Holze befestigt war, begann eine Empfindung, der ich keinen Namen geben kann und die mich ganz gegen meinen Willen packte, die ruhige Ueberlegung bei mir zu verdrängen. Ehe ich mir klarmachen konnte, welcher Art dieser Impuls war oder wozu er mich antrieb, fühlte ich, wie ich mich langsam, aber stetig diesem fürchterlichen Sitze mit dem unwiderstehlichen Verlangen näherte, mich auf diese alten Polster niederzulassen.
In diesem Augenblick rief mich aber das Knarren irgend eines offenstehenden Ladens – vielleicht war es der, den ich von der entgegengesetzten Seite der Straße aus hatte hin- und herschwingen sehen – zu meinen gegenwärtigen Pflichten zurück. Da ich mich erinnerte, daß meine Untersuchung erst halb vollendet war, und daß ich jede Minute von anderen Geheimpolizisten überrascht werden könne, schüttelte ich den unheimlichen Bann ab, der mich in dem Augenblick, als ich mich von ihm befreite, mit Entsetzen erfüllte, und verließ das Zimmer durch eine Tür in der Hinterwand, um in einem der anstoßenden Räume nach den entscheidenden Spuren zu suchen, die ich an dem eigentlichen Schauplatz des Verbrechens zu entdecken nicht vermocht hatte.
Es war eine traurige Untersuchung, da sie mir auf Schritt und Tritt die beinahe wahnsinnige Hast verriet, mit der die Gäste das Haus verlassen hatten. Der Speisesaal namentlich erregte nichts weniger als angenehme Empfindungen. Die offenbar für das Hochzeitsmahl hergerichtete Tafel war in solch atemloser Eile geleert worden, daß die von den Schüsseln heruntergeworfenen Speisen nun in schimmelnden Klumpen auf dem Fußboden lagen. Der Hochzeitskuchen, den jemand hatte fallen lassen, möglicherweise bei dem Versuche, ihn zu retten, war zertreten worden; zerbrochene Gläser, zerknüllte Tischwäsche und verwelkte Blumen lagen überall herum und machten das Gehen über die morschen Dielen anwidernd und gefährlich zugleich. Die mit dem Saale in Verbindung stehenden Vorratskammern befanden sich in keinem besseren Zustande.
Angeekelt von dem Anblick und den Gerüchen, die sich mir hier aufdrängten, ging ich nach der Küche und gelangte weiterhin über einen schmalen Korridor nach den Zimmern für die Dienerschaft, die im hinteren Teile des Gebäudes dicht beieinander lagen. Hier machte ich eine Entdeckung. Eines der Fenster in diesem lange Zeit nicht benützten Flügel des Hauses stand halb offen. Da ich aber auf keine Spuren stieß, die darauf hindeuteten, daß der Mörder durch dieses Fenster entflohen sei, ging ich nach den vorderen Räumen des Hauses zurück und gelangte somit auch zu der Treppe, die in das obere Stockwerk emporführte.
Auf dem am Fuße dieser Treppe liegenden Teppich fand ich das erste von etwa einem Dutzend angebrannter Streichhölzer, die auf den Treppenstufen und auf dem Fußboden des oberen Flures lagen und eine deutliche Fährte bildeten. Da diese Streichhölzer sämtlich so kurz herabgebrannt waren, wie sie jemand überhaupt noch zwischen den Fingern halten konnte, so war es klar, daß sie dazu gedient hatten, jemand zu leuchten, der sich nach oben begeben wollte, vielleicht gerade in das Zimmer, in dem wir das Licht gesehen hatten, das uns zuerst in dieses Haus gelockt hatte. Was nun? Sollte ich weitergehen oder auf einen Kollegen warten, bevor ich mich auf die Suche nach dem vermeintlichen Mörder machte? Ich entschloß mich zum Weitergehen, veranlaßt, wie ich glaube, durch die Bestimmtheit und Klarheit der vor mir liegenden Fährte.
Als ich aber sorgfältig den Schritten desjenigen, der so kurze Zeit vor mir denselben Weg zurückgelegt hatte, nachgegangen war, gelangte ich an eine eingeklinkte Tür am Ende eines Seiteneinganges, vor der ich, wie ich zugeben muß, einen Augenblick zögernd stehen blieb, ehe ich die Hand auf die Klinke legte. So vieles kann sich hinter einer verschlossenen Tür verbergen! Aber meine Unschlüssigkeit, wenn es überhaupt Unschlüssigkeit war, dauerte nur eine Sekunde. Meine natürliche Ungeduld und die Regungen meines Ehrgeizes erhielten die Oberhand über die Mahnungen der Vernunft, und unbekümmert um die Folgen, vielleicht ihnen absichtlich Trotz bietend, legte ich schwer die Hand auf den Griff. Ich öffnete leise die Tür, und als ich einen Lichtschimmer am Türpfosten emporlaufen sah, stieß ich sie weiter und weiter auf, bis ich endlich den ganzen Raum überblicken konnte. In diesem Augenblick knarrte der Laden an einem der Fenster, und dies bewies mir, daß das Zimmer in der Tat dasjenige war, das wir von unten aus erleuchtet gesehen hatten. Sonst war alles still; auch konnte ich beim ersten flüchtigen Umherblicken kein anderes Anzeichen von der Anwesenheit eines Menschen entdecken, als eine Kerze, die auf dem Boden eines auf einem altmodischen Toilettentische stehenden Glases knisternd brannte. Diese Kerze, der einzige Gegenstand, der nicht in das reich und geschmackvoll möblierte Zimmer hineinpaßte, deutete mit voller Bestimmtheit auf die Anwesenheit jemandes hin, der sich hier verborgen hielt; aber von diesem jemand war keine Spur zu entdecken.
Nicht zufrieden mit diesem kurzen Ueberblick – einem Ueberblicke, der mir ein geräumiges, altmodisches Zimmer gezeigt hatte, das vollständig möbliert war, aber mehr den Geist der Vergangenheit als der Gegenwart atmete – und entschlossen, das Aeußerste zu erfahren, oder, besser gesagt, das Aeußerste zu wagen und zu erdulden, schritt ich geraden Weges bis in die Mitte des Zimmers vor und warf rasch einen forschenden Blick um mich, der vor nichts zurückwich, selbst nicht vor den tiefen Schatten, die in den Ecken lauerten. Aber es erhob sich keine liegende Gestalt aus diesen Ecken, es zeigte sich auch kein lauschender Kopf neben den Wänden des großen Schrankes, hinter dem ich genau nachschaute.
Sehr beruhigt und in der Tat völlig davon überzeugt, daß, wo auch immer der Verbrecher lauern mochte, er sich doch in diesem Augenblick keinesfalls in demselben Zimmer mit mir befand, richtete ich meine Aufmerksamkeit auf meine Umgebung, die mancherlei Interessantes darbot. Zunächst war da das riesige Bett, das einen großen Raum zu meiner Rechten einnahm. Ich hatte nie zuvor ein ähnliches gesehen und wurde im höchsten Grade durch seine Größe und den Anschein des Geheimnisvollen gefesselt, der ihm durch die fest zusammengezogenen Vorhänge von verblichenem Brokat verliehen wurde. In der Tat übte dieses Bett, sei es infolge seines Aeußeren, sei es infolge eines ihm anhaftenden geheimen Einflusses, eine magische Anziehungskraft auf mich aus. Ich zögerte, mich ihm zu nähern, konnte mich aber nicht enthalten, es lange und genau zu betrachten. War es denn nicht möglich, daß diese Vorhänge jemand verbargen, der sich hinter ihnen versteckt hatte? Seltsam, ich fühlte nicht den Mut in mir, sie zurückzuschlagen und nachzusehen.
Ein Toilettentisch, bedeckt mit Flakons und sonstigen Toilettengegenständen, die alle von außergewöhnlichem Wert und Reichtum waren, nahm den Platz zwischen den beiden Fenstern ein, und auf dem Fußboden, unmittelbar vor einem hohen Kaminmantel aus Mahagoniholz, lag inmitten einer Menge leerer Büchsen ein umgestürzter Stuhl. Dieser Stuhl und die Vermutungen, die seine Lage in mir erweckte, veranlaßten mich, den Kamin zu betrachten, mit dem er mir irgendwie in Beziehung zu stehen schien, und so wurde ich eine verblaßte alte Zeichnung gewahr, die über ihm an der Wand hing. Warum dieses Bild, das eine durchaus uninteressante Skizze eines einfältig lächelnden Mädchengesichtes zeigte, mein Auge länger als einen Moment fesselte, weiß ich nicht. Es war nicht schön, selbst wenn man es vom sentimentalen Standpunkte aus beurteilen wollte, und besaß wenig oder keinen künstlerischen Wert. Die schon an sich ziemlich schwachgezeichneten Linien waren nahezu verwischt und stellenweise völlig verblaßt. Und doch konnte ich nicht aufhören es zu betrachten und vergaß darüber mich selbst und beinahe sogar meine Aufgabe. Es lag anscheinend gar kein Grund für den Reiz vor, den es auf mich ausübte, und ebensowenig konnte ich mir die förmlich abergläubische Furcht erklären, die mich von diesem Moment an beherrschte und mich veranlaßte, meinen Kopf nach allen Seiten zu wenden und einen ängstlichen Blick nach rückwärts zu werfen, sobald der offene Laden knarrte oder eines der vielfältigen Geräusche, die wir in der Stille der Nacht zu hören glauben, wenn wir stark erregt sind, meine Aufmerksamkeit fesselte oder mein Blut erstarren machte.
Allem Anscheine nach war hier oben weniger Veranlassung für einen Mann vorhanden, den Mut sinken zu lassen, als unten. In diesen Räumen verbreitete keine das Anzeichen eines Mordes an sich tragende Leiche Schrecken; aber die Empfindungen, die ich in der Bibliothek unten mit leichter Mühe überwunden hatte, verfolgten mich hier mit seltsamer Zähigkeit, und als ich mich mit gewaltsamer Anstrengung zum Gehen zwang und unerwartet mein Bild in einem Spiegel erblickte, an dem ich gerade vorüberkam, erlitt ich eine derartige Nervenerschütterung, wie ich mich nicht erinnern konnte, sie je erlebt zu haben. – Es mag unnötig und für einen Mann meines Berufes unpassend erscheinen, diese zufälligen Empfindungen zu erwähnen; aber ich muß es tun, um zu erklären, wie mehrere Minuten vergehen konnten, ehe ich wieder soviel Geistesgegenwart besaß, die geschlossenen Vorhänge des Bettes zurückzuschlagen und einen raschen Blick dahinter zu tun, wie es meine gegenwärtige prekäre Lage erheischte. Aber kaum hatte ich den Bann abgeschüttelt, so fühlte ich meine Mannheit und mit ihr meinen alten Spürsinn wiederkehren. Das Bett enthielt keinen nach Luft schnappenden, zitternden Verbrecher, und doch war es nicht ganz leer. Etwas lag darin, und dieses Etwas, obgleich an sich durchaus nichts Ungewöhnliches, überraschte mich doch in Anbetracht des Ortes und der Stunde zur Genüge, um mein Interesse zu erregen und meine Gedanken zu beschäftigen. Es lag ein Damenüberwurf da von so kostbarem Stoffe und so wundervoller Arbeit, daß ich ganz erstaunt war, ihn in so vernachlässigtem Zustande in diesem alten verfallenen Hause zu finden. Obgleich ich wenig von dem Preise für Frauenkleider verstehe, kenne ich doch den Wert der Spitzen, und dieses Kleid war über und über damit bedeckt.