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Der Filigran-Schmuck

Anna Katharine Green

Inhaltsverzeichnis

Erstes Buch. Das unheimliche Gemach

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zweites Buch. Das Gesetz und sein Opfer

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Drittes Buch. Das Haus des Verderbens

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Impressum

Erstes Buch.
Das unheimliche Gemach
Erstes Kapitel

Für einen Detektiv, dessen Verdienste von seinen Vorgesetzten bisher wenig anerkannt worden waren, besaß ich einen Ehrgeiz, der sich im Interesse meines Einvernehmens mit dem Leutnant des Bezirks glücklicherweise noch nicht in Worten Luft gemacht hatte. Obgleich ich wenig Veranlassung hatte, große Erwartungen von mir zu hegen, so nährte ich doch stets die Hoffnung, daß, wenn mir wirklich einmal ein bedeutender Fall in den Weg käme, ich imstande sein würde, etwas zu leisten, das heißt etwas mehr, als die Polizei von Columbia nach meinen Erfahrungen die ganze Zeit über, während derer ich zu ihr gehörte, geleistet hatte. Als ich mich daher fast gegen meinen Willen in die Affäre Jeffrey-Moore verwickelt sah, glaubte ich, die Gelegenheit, bei der ich mich auszeichnen könnte, sei gekommen.

Diese Affäre Jeffrey-Moore bot Schwierigkeiten, und zwar größere, als das Publikum je geahnt hat, so lebhaft auch das Interesse war, das sie in Washington und anderwärts erregte.

Dies ist der Grund, weshalb ich es unternehme, die Geschichte dieser furchtbaren Tragödie von meinem Standpunkt aus zu schreiben, selbst auf die Gefahr hin, in den Verdacht zu geraten, als wolle ich mich mit der Rolle brüsten, die ich darin gespielt habe. In dem Verlaufe der Sache erlebte ich ebensoviele Enttäuschungen wie Triumphe, und der schließliche Ausgang erfüllte mich sowohl mit Schmerz wie mit Stolz; denn ich bin ein Verehrer der Frauen, und –

Doch ich halte den Leser mit meinen Betrachtungen nur auf. Ich befand mich an dem Abend auf der Polizeiwache, als Onkel David erschien. Er wurde stets Onkel David genannt, selbst von den Straßenjungen, die ihm nachliefen, wo sie ihn nur erblickten, und so glaube ich keine Respektwidrigkeit zu begehen, wenn ich ihm, trotzdem er ein sehr angesehener Herr ist, einen Namen beilege, der für ihn zu jener Zeit ebenso bezeichnend war wie sein mürrisches Wesen, sein seltsamer Anzug und die Beharrlichkeit, mit der er sich stets von seiner großen Bulldogge Rudge begleiten ließ.

Ich hatte schon lange zuvor von dem alten Herrn als einem der größten Sonderlinge des Bezirks sprechen hören. Ich hatte ihn sogar mehr als einmal auf der Straße gesehen, war aber noch nicht persönlich mit ihm zusammengekommen und hatte demgemäß eine viel zu oberflächliche Kenntnis von seiner Persönlichkeit, um sofort entscheiden zu können, ob das unruhige Flackern seiner kleinen grauen Augen ihnen von Natur eigen oder nur die Folge einer augenblicklichen Erregung war. Als er aber zu sprechen begann, bemerkte ich ein unverkennbares Beben in seiner Stimme und schloß daraus, daß er sich gewaltsam bemühte, seine Aufregung zu unterdrücken, und doch hatte er nur die anscheinend ziemlich harmlose Tatsache zu melden, er habe in einem Hause, das man gewöhnlich für leerstehend hielt, ein Licht brennen sehen.

Es war mir dies alles so langweilig, daß ich ihm nur geringe Aufmerksamkeit schenkte, bis er einen Namen aussprach, der mich aufhorchen ließ. Das Moorehaus, hatte er gesagt.

Das Moorehaus, wiederholte ich erstaunt; sprechen Sie vom Hause der Familie Moore?

Tausende von Erinnerungen stürmten auf mich ein, als ich diesen Namen hörte.

Wovon sonst? knurrte er, indem er mir einen ebenso durchdringenden wie ungeduldigen Blick zuwarf. Glauben Sie, ich würde mich groß um ein Haus ereifern, an dem ich kein Interesse hätte, oder Rudge von seiner warmen Decke weglocken, nur um irgend einen undankbaren Nachbar vor einem Diebstahle zu bewahren? Nein, es ist mein Haus, in das sich irgend ein Schurke eingeschlichen hat. Das heißt, verbesserte er sich ruhigeren Tones, als er das Erstaunen bemerkte, das sich auf unser aller Zügen malte, das Haus, das ich rechtmäßigerweise besitzen werde, sobald diesem dummen Dinge von Mädchen, dem mein Bruder es hinterlassen hat, etwas zustößt.

Der alte Mann brummte dem Hunde, der entschieden Lust hatte, sich auf den Fußboden auszustrecken, ein paar Worte zu, öffnete die Tür und würde im nächsten Augenblick auf der Straße gewesen sein, wenn ich ihm nicht eiligst nachgelaufen wäre.

Sie gehören zur Familie Moore und wohnen in jenem alten Hause oder in der Nähe? fragte ich.

Das Erstaunen, mit dem er diese Frage aufnahm, ließ mich etwas stutzen.

Wie lange sind Sie in Washington? entgegnete er bissig.

O, etwa fünf Monate.

Seine gute Laune, oder was bei einem so jähzornigen alten Manne dafür gelten konnte, kehrte sofort zurück, und er bemerkte kurz, aber nicht unfreundlich:

Sie haben viel in dieser Zeit gelernt. Dann fügte er mit einem Nicken, das einen höflicheren Eindruck machte als mancher anderer Leute Verbeugung, und mit einem plötzlich angenommenen würdevollen Wesen hinzu: Ich gehöre dem älteren Zweige der Familie an und bewohne das kleine Gartenhaus vor dem alten Gebäude. Ich bin der einzige Bewohner des ganzen Komplexes. Wenn Sie länger hier bleiben, werden Sie es schon erfahren, warum gerade diese Gegend bei allen, die sich nicht der Verwandtschaft mit der Familie Moore rühmen können, so unbeliebt ist. Einstweilen wollen wir den schlechten Ruf des Stadtteils dem Umstande zuschreiben, daß – die Malaria hier herrscht. – Mit einem bezeichnenden Hochziehen seiner gekrümmten Schultern, das jede Falte seines altmodischen Mantels, den er trug, in wellenförmige Bewegung setzte, ging er zur Tür hinaus.

Meine Neugier hatte sich jedoch inzwischen zur Siedehitze gesteigert. Ich wußte mehr über das Haus, als ich mir den Anschein gegeben hatte. Jedermann, der die Zeitungen der letzten Tage gelesen hatte, und nun gar jemand, der in Verbindung mit der Polizei stand, mußte notwendig mit allen Einzelheiten seiner denkwürdigen Geschichte vertraut sein. Wovon ich noch nichts wußte, war die nahe Verwandtschaft des alten Mannes mit der Familie, deren Name während der letzten vierzehn Tage in jedermanns Munde gewesen war.

Warten Sie, bitte, noch einen Augenblick, rief ich. Sie sagen, daß Sie gegenüber dem Moorehause wohnen? Dann können Sie mir vielleicht sagen –

Mein Onkel David hatte keine Lust, stehen zu bleiben, um etwas zu plaudern.

Es hat alles in den Zeitungen gestanden, rief er zurück. Lesen Sie sie nur. Aber zuerst suchen Sie herauszubekommen, wer ein Licht in dem Hause angezündet hat, in dem, wie wir alle wissen, nicht einmal ein Portier wohnt.

Dies war ein guter Rat. Sowohl mein Pflichtbewußtsein wie meine Neugierde trieben mich an, ihn zu befolgen.

Vielleicht hat der geneigte Leser von den seltsamen Gerüchten gehört, die über dieses Haus im Umlauf waren; ist dies der Fall, so braucht er meine Erläuterungen nicht. Sind ihm aber aus irgend einem Grunde die Ereignisse unbekannt geblieben, die innerhalb ganz kurzer Zeit diesem alten historischen Gebäude endgültig das Siegel des Grauens aufdrückten, dann wird er froh sein, zu erfahren, was das Moorehaus in Washington zu einem Gebäude gemacht hat, auf das man jetzt und in aller Zukunft am hellen Tage mit Fingern weist, das aber nach Einbruch der Dämmerung scheu gemieden wird, und zwar nicht nur von unwissenden, abergläubischen Farbigen, sondern überhaupt von allen, die den ganz alltäglichen Empfindungen des Schreckens und Entsetzens zugänglich sind.

Es stand bereits, als Washington noch ein Dorf war. Es ist älter als das Kapitol und das Weiße Haus. Von einem reichen Manne erbaut, bewahrt es bis zum heutigen Tage die Erinnerung an die großen Gedanken und die ruhige Eleganz der Kolonialzeiten; aber der Schatten, der schon früh darauf fiel, machte es schon in jenen alten Tagen zu einem unheimlichen Aufenthaltsorte. Man behauptete zwar nicht geradezu, es spuke darin, aber die Familien, die hineinzogen, zogen sobald wie möglich wieder aus und gaben als Erklärung dafür an, sie fühlten sich in dem Hause nicht wohl und könnten unter seinem Dache keinen Schlaf finden. Daß ein Grund für diesen Mangel an Ruhe in diesen Räumen vorlag, die nicht ihrer tragischen Erinnerungen entbehrten, mußte jedermann anerkennen. Der Tod war oft hier eingekehrt, und während sich dies von den meisten alten Häusern behaupten läßt, so geschieht es doch nicht häufig, daß man wie in diesem Falle sagen kann, die Todesfälle seien stets ganz plötzlich eingetreten und hätten alle einen und denselben Charakter getragen. In allen Häusern kann es einmal vorkommen, daß jemand tot in einem großen Lehnstuhle in der Nähe des Kamins aufgefunden wird; wiederholt sich aber diese selbe Entdeckung zwei-, wenn nicht gar dreimal in der Geschichte eines einzigen Hauses, so kann man es gewiß niemand übelnehmen, wenn er Mißtrauen gegen die Wohnlichkeit dieser Räume hegt und beim Einbruch der Dämmerung in den düsteren Zimmern das Walten eines Unheils ahnt, das, wenn es sich selbst überlassen bliebe, mit dem natürlichen Verfall des Gebäudes verschwinden würde, das aber, sowie man ihm entgegentritt und es herausfordert, von neuem zum Schlage ausholen und den Sessel, der schon dreimal Zeuge des Todes gewesen war, ein neues Opfer heischen lassen könnte.

Allein dies sind alte Märchen, die ich kaum der Erwähnung wert halten würde, wenn sich nicht ganz vor kurzem ein Ereignis zugetragen hätte, das diesen Gerüchten neue Nahrung zuführte und dem seit langer Zeit leerstehenden und langsam verfallenden Gebäude eine Bedeutung verlieh, die seinen Ruf von einem Ende des Landes bis zum anderen trug. Ich meine die Tragödie, die sich bei der vor kurzem hier gefeierten Hochzeit abspielte.

Die reiche, hübsche und übermütige Veronika Moore hatte schon lange eine seltsame Vorliebe für dieses düstere alte Heim ihrer Vorväter gehegt und faßte in dem entscheidendsten Zeitpunkt ihres Lebens den Entschluß, sich selbst und die große Gesellschaft davon zu überzeugen, daß der Bann, der auf dem Hause ruhte, nur in der Einbildung abergläubischer Leute bestehe. So ließ sie denn, als sie im Begriff stand, den Erwählten ihres jungen Herzens zu heiraten, das alte Haus für die Hochzeitsfeier öffnen; was sich dabei ereignete, weiß der Leser. Obgleich die Veranlassung eine fröhliche war und man alle Vorbereitungen getroffen hatte, um das Fest so heiter wie möglich zu begehen, nahm der alte böse Geist aus vergangener Zeit doch die Gelegenheit wahr. Einen von den Gästen, der sich in das Zimmer unseligen Andenkens verirrt hatte, das einzige Zimmer, das der Hochzeitsgesellschaft nicht geöffnet worden war, hatte man fünf Minuten vor der Trauung tot auf dem unheimlichen Sessel gefunden, und obgleich man der Braut das furchtbare Ereignis verheimlicht hatte, bis die feierliche Handlung vorüber war, so hatte doch eine förmliche Panik die Gäste ergriffen und das Haus so plötzlich und vollständig geleert, als wenn der Ausbruch der Pest darin entdeckt worden wäre.

Dies war der Grund, weshalb ich mich beeilte, Onkel David zu folgen, als er mir mitteilte, es sei in diesem Hause voller tragischer Erinnerungen nicht alles richtig.

Zweites Kapitel

Trotz seiner siebzig Jahre war Onkel David ein rüstiger Fußgänger, und namentlich an diesem Abend schritt er so tüchtig aus, daß er schon die halbe H.-Straße hinunter war, als ich erst um die Ecke der New Hampshire-Avenue bog.

Seine riesige, aber nicht ungeschickte Figur, die mit der des dicht hinter ihm einhertrottenden Hundes in eins zu verschmelzen schien, war das einzig lebende Wesen in diesem Viertel, dem ödesten von Washington. Als ich mich dem Gebäude näherte, machte die Stille ringsumher einen so beklemmenden Eindruck auf mich, daß ich hätte schwören mögen, die Schatten seien hier tiefer als anderwärts, und die wenigen Gaslaternen, die in weiten Zwischenräumen längs der Häuserreihen aufflackerten, leuchteten schwächer als in den andern Straßen Washingtons.

Inzwischen war Onkel David verschwunden. Er hatte vor einem Gartenzaune Halt gemacht, der, mit wildem Wein bewachsen, das kleine Landhaus, das er, abgesehen von dem großen Familiensitze der Moore, als das einzige Gebäude in der ganzen Gegend bezeichnet hatte, umgab und fast vor den Blicken der Vorübergehenden verbarg, mit anderen Worten, er war zu Hause.

Als ich ihn eingeholt hatte, hörte ich ihn brummen, nicht zu dem Hunde, wie dies seine sonstige Gewohnheit war, sondern zu sich selbst. In der Tat war der Hund nirgends zu erblicken, und dieses Verschwinden seines beständigen Gefährten schien seine Unruhe noch zu erhöhen und ihn weit über jedes vernünftige Maß hinaus zu erregen. Von den Worten, die er an das unsichtbare Tier richtete, konnte ich folgendes verstehen:

Du bist klug, o vielleicht zu klug! Du siehst den losen Fensterladen dort genau so gut wie ich; du bist aber eine feige Kreatur, daß du dich bei ihm so feig vorbei schleichst. Ich tue es nicht. Ich fasse das Ding ins Auge und werde dir obendrein zeigen, was ich von einem Hunde halte, der seinen Posten nicht behauptet und seinem alten Herrn nicht beisteht. Er knarrt, nicht wahr? Laß ihn immer knarren! Ich kümmere mich um sein Knarren nicht, wenn ich auch gern wissen möchte, wessen Hand – holla! Sind Sie es? Die letzten Worte waren an mich gerichtet. Ich war soeben an ihn herangetreten. Ja, ich bin es. Was ist denn nun mit dem Moorehause los?

Er mußte diese Frage erwartet haben, aber es dauerte lange, ehe er antwortete. Auch strengte er seine Stimme zu sehr an, als daß sie natürlich geklungen hätte. Aber er schien gar nicht daran zu denken, daß mir seine Art und Weise auffallen könne.

Sehen Sie sich dieses Fenster dort oben an! rief er endlich. Das mit dem ein wenig offenstehenden Laden! Passen Sie auf, und Sie werden sehen, daß sich der Laden bewegt. Da! jetzt knarrt er; haben Sie es gehört?

Ein Geheul – es klang mehr wie ein Winseln – ertönte aus dem Torweg hinter uns. Sofort drehte sich der alte Herr um und rief mit einer Gebärde, die ebenso streng wie unwillkürlich war:

Sei still dort! Wenn du nicht soviel Mut hast, dir einen offenen Fensterladen anzusehen, dann halte dein Maul und zeige nicht jedem Vorübergehenden, wie dumm du bist. Ich finde, murmelte er halb zu sich, halb zu mir, der Hund wird alt. Es ist kein Verlaß mehr auf ihn. Er läßt seinen Herrn im Stiche, gerade wenn – der Schluß seiner Rede ging in einem Brummen unter, das noch von mehr Zeugnis ablegte, als von Aerger und Ungeduld.

Währenddessen hatte ich das Haus, auf das meine Aufmerksamkeit so energisch gelenkt worden war, genau beobachtet. Ich hatte es schon früher oft gesehen, aber, wie dies so kommt, nie Gelegenheit gehabt, es zu betrachten, wenn die es umgebenden hohen Bäume in Dunkelheit gehüllt waren. Die schwarze Oeffnung seines unbenutzten Portals gähnte aus den Schatten herüber, die einen Teil ihrer Düsterheit den mit seiner Oede im Zusammenhang stehenden schaurigen Erinnerungen zu verdanken schienen.

Der Anblick des Hauses war wenig vertrauenerweckend. Nicht weil der Aberglaube dem einsamen Orte seine Schrecken lieh, sondern weil ich durch die blanken Fensterscheiben, die, je nachdem der von Onkel David erwähnte Fensterladen im Winde auf- und zuschlug, sichtbar wurden und wieder verschwanden, einen Lichtschimmer erblickte oder zu erblicken glaubte, der die Anwesenheit eines Unbekannten in jenen Räumen verriet, die sich vor so kurzer Zeit als ungeeignet zu einem Aufenthalte von Menschen erwiesen hatten.

Sie haben recht, bemerkte ich jetzt zu dem mürrischen Mann neben mir. Es befindet sich jemand in dem Hause drüben. Kann es vielleicht Frau Jeffrey oder ihr Gatte sein?

Zur Nachtzeit, und ohne Gas im Hause? Schwerlich.

Die Worte klangen natürlich, nicht aber die Stimme. Auch das sonstige Verhalten Onkel Davids war nicht ganz der Gelegenheit angepaßt. Ich warf ihm einen mißtrauischen Blick zu und rief, als ich bemerkte, wie scheu er sich vor mir in die Dunkelheit zurückzog, lauter, als er vielleicht erwartet haben mochte:

Ich will noch einen anderen Beamten herbeirufen, und dann wollen wir drei uns sofort in das Haus schleichen und es durchsuchen.

Ich gehe nicht mit, entgegnete er heftig, während er die von wildem Wein überwachsene Gartentür hinter sich aufstieß. Jeffrey und seine Frau würden mir mein Eindringen verübeln, wenn sie je davon hören sollten.

Wirklich! Ich lachte, während ich meinen Pfiff ertönen ließ; dann aber fuhr ich ernster fort, denn die Seltsamkeit seines Benehmens hatte mich auf das äußerste befremdet, und ich glaubte, er müßte doch auch ein Interesse an der Durchforschung des Hauses haben: Sie sollten diese Gelegenheit nicht versäumen. Kommen Sie mit und sehen Sie, was in dem Hause vorgeht, das Sie soeben als das Ihrige bezeichnet haben.

Aber er zog sich nur tiefer in seinen dunklen Garten zurück.

Ich habe dort drüben nichts zu tun, erwiderte er. Veronika und ich haben uns nie gut zusammen vertragen. Ich bin nicht einmal zu ihrer Hochzeit eingeladen gewesen, obgleich ich nur einen Steinwurf von ihrer Tür entfernt wohne. Nein, ich habe meine Pflicht getan, indem ich Sie auf jenes Licht aufmerksam machte, und ob es nun die Blendlaterne eines Einbrechers ist – Sie wissen vielleicht nicht, daß auf den Bücherbrettern der großen Bibliothek seltene Schätze aufgespeichert sind – oder eine phantastische Illumination, vor der sich dumme Leute und dumme Hunde fürchten, ich bin fertig damit, und ebenso heut abend mit Ihnen.

Nach diesen Worten ging er auf die Haustür zu und verschwand unter den Weinranken, die an der Vorderseite der kleinen Villa herunterhingen. Im nächsten Augenblick erklangen von innen die vollen Töne einer Orgel, begleitet von Rudges langgezogenem Geheul, der, sei es infolge zu großer Rührung über das Spiel seines Herrn oder zu großen Mißfallens an ihm – niemand, glaube ich, ist je imstande gewesen, dies zu entscheiden – gewohnt war, diese unerwünschte Begleitung zu jedem von der Hand des alten Mannes hervorgebrachten Tone zu liefern. Das Spiel hörte trotz dieser schauderhaften Mißklänge nicht auf. Im Gegenteil, es nahm an Stärke und Umfang zu und veranlaßte Rudge ebenfalls zu verstärkten Aeußerungen des Schmerzes oder der Freude. Die Wirkung kann man sich denken. Als ich das unerträgliche Geheul des Hundes hörte, das fortwährend das wirklich meisterhafte Spiel seines Herrn unterbrach, fragte ich mich im stillen, ob die von dem düsteren Bau des großen Familienhauses geworfenen Schatten wirklich allein für Onkel Davids Mangel an Nachbarschaft verantwortlich zu machen seien.

Mittlerweile kam Hibbard, der zuerst mein Signal gehört hatte, eiligen Laufes die Straße entlang. Als er mich erreichte, erschien das Licht oder das, was wir ein Licht nennen wollen, wieder in dem Fenster, auf das meine Aufmerksamkeit gerichtet war.

Es befindet sich jemand in dem Moorehause, erklärte ich so festen Tones, als ob ich zu kommandieren hätte.

Hibbard ist ein Riese an Wuchs und an Kraft, und soweit meine eigene Erfahrung reicht, furchtlos und unerschrocken wie der Beste von uns. Nach einem raschen Blicke auf die festungsähnlichen Mauern des einsamen Gebäudes jedoch zeigte er Spuren unverkennbarer Verwirrung und schien keine Eile zu haben, mir auf die andere Seite der Straße zu folgen.

Kommen Sie, rief ich, indem ich vom Trottoir herunterstieg, wir wollen hinübergehen und nachsehen. Es sind kostbare Sachen in dem Hause, schöne Möbel und eine Unmenge wertvoller Bücher in der Bibliothek. Sie haben doch Streichhölzer und einen Revolver?

Er nickte und zeigte mir in größter Seelenruhe erst das eine, dann das andere; dann sagte er mit verlegener Miene, die er unter einem Lachen zu verbergen suchte:

Haben Sie Verwendung für sie? Dann bin ich gern bereit, sie Ihnen für eine halbe Stunde zu überlassen.

Ich war mehr als erstaunt über diesen Beweis von Schwäche bei jemand, den ich bisher für so fest und unerschütterlich gehalten hatte wie Granit. Ich stieß seine Hand zurück, mit der er mir die Waffe halb entgegenhielt, setzte meine ernsteste Miene auf und ging quer über die Straße. Dabei rief ich ihm kurz die Worte zu:

Wir können auf eine ganze Bande stoßen. Sie werden nicht wollen, daß ich es allein mit einem halben Dutzend aufnehme?

Sie werden kein halbes Dutzend Leute drüben finden, brummte er als Antwort. Aber er folgte mir trotzdem, obgleich mit weniger Bereitwilligkeit, als mir lieb war, besonders da ich nicht halb so mutig war, wie ich mich stellte, und eine gewisse Sympathie – nun, sagen wir es gerade heraus – mit dem Hunde empfand, der auch das Orgelspiel seines Herrn lieber mit seinem disharmonischen Geheul begleitete, als daß er vor der Tür geblieben wäre und in einem Garten Wache gehalten hätte, zu dem das unheimliche Gebäude, das ich jetzt zu betreten im Begriffe stand, drohend herüberblickte.

Das Haus ist zu gut bekannt, als daß ich mich versucht fühlen sollte, eine eingehende Beschreibung davon zu geben. Die Abbildungen, die von ihm in allen Zeitungen erschienen sind, haben das große Publikum bereits mit seiner einfachen Fassade und seinen endlosen Reihen von mit Läden verschlossenen Fenstern bekannt gemacht. Selbst von der mächtigen viereckigen Vorhalle mit der für die Negerdiener bestimmten Bank sind Millionen von Photographien verbreitet worden. Wer das Bild, die Flucht der Hochzeitsgäste aus dem offenstehenden Tor darstellend, gesehen hat, wird kein besonderes Interesse für den stillen, beinahe feierlichen Anblick übrig haben, der sich mir darbot, als ich die niedrigen Stufen emporstieg und meine Hand auf die Klinke der altmodischen Haustür legte.

Ich tat dies nicht in der Erwartung, hierdurch Eintritt zu gewinnen, sondern weil es meinem Wesen entspricht, an jedes Ding in der einfachsten Weise heranzutreten. Der Leser wird daher mein Erstaunen begreifen, als die Tür beim ersten Drucke nachgab. Sie war nicht einmal eingeklinkt.

So, so, dachte ich. Das ist gar nicht so dumm; es ist jemand im Hause.

Ich hatte mich mit einer gewöhnlichen Taschenlaterne versehen, und als ich Hibbard überzeugt hatte, daß ich fest entschlossen sei, das Haus zu betreten und zu untersuchen, wer das im Volke herrschende Vorurteil benutzt hätte, um in den alten, verfallenen Zimmern mit Gleichgesinnten Zusammenkünfte abzuhalten oder einen geheimen Zufluchtsort zu suchen, zog ich diese Laterne hervor und machte sie bereit.

Wir stechen möglicherweise in ein Wespennest, erklärte ich Hibbard, dessen Füße selbst für einen Mann seiner Größe auffallend schwer zu sein schienen. Aber ich gehe hinein, und Sie werden mir folgen. Nur möchte ich den Vorschlag machen, zuvor unsere Schuhe auszuziehen. Wir können sie in dem Gebüsch hier verstecken.

Ich erkälte mich stets, wenn ich barfuß gehe, murmelte mein tapferer Gefährte; als er aber keine Antwort erhielt, zog er seine Schuhe aus und legte sie neben den meinigen in den dichten Büschen nieder, die so deutlich auf den erwähnten Photographien zu sehen sind. Dann zog er seinen Revolver aus der Tasche, spannte ihn und blieb erwartungsvoll stehen, während ich der Tür einen vorsichtigen Stoß versetzte.

Finsternis! Stille!

Lieber hätte ich mich einem Lichte gegenüber gesehen und ein Geräusch gehört, selbst wenn es von einer Einbrecherbande hergerührt hätte, denn mit solchen Leuten wußten wir umzugehen. Hibbard schien meine Empfindungen zu teilen, obgleich aus einem ganz anderen Grunde.

Pistolen und Laternen haben hier keinen Zweck, brummte er. Was wir in dieser gesegneten Minute brauchen, ist ein Priester mit einem Weihwasserwedel, und ich möchte einen –

Er wollte sich tatsächlich fortschleichen.

Mit einem unterdrückten Fluch hielt ich ihn zurück.

Sie sind doch kein Wickelkind? rief ich. Kommen Sie weiter, oder – Nun, was gibt es denn schon wieder?

Er hatte mich am Arme gepackt und deutete auf die Tür, die leise hinter uns hin- und herschwang.

Sehen Sie? flüsterte er. Kein Schlüssel im Schloß! Menschen brauchen Schlüssel, aber –

Mir riß die Geduld. Mit einem Ruck befreite ich mich von seiner Umklammerung und sagte leise zu ihm:

Gut, gehen Sie! Ich will mit einem solchen Hansnarren nichts zu schaffen haben. Ich werde allein weitergehen. Und zum Beweise meiner Entschlossenheit drehte ich an dem Schieber meiner Laterne und ließ das Licht durch das Haus blitzen.

Die Wirkung war gespenstisch; während aber der große, starke Mann neben mir schwer atmete, machte er doch von meiner Erlaubnis keinen Gebrauch, wie ich ihm halb und halb zugetraut hatte. Vielleicht war er gleich mir durch den unheimlichen Anblick langer, düsterer Wände und einer ebenso düsteren Treppe gebannt, die aus der noch eine Minute vorher undurchdringlich erscheinenden Finsternis auftauchten. Vielleicht auch war er einfach beschämt. Auf alle Fälle blieb er auf seinem Posten und betrachtete mit rollenden Augen den Teil der Halle, in dem zwei Säulen mit vergoldeten korinthischen Kapitälen die Tür zu dem Raum kennzeichneten, den niemand ohne bestimmten Zweck betrat oder ohne Zagen durchschritt. Ohne Zweifel dachte er an das, was so häufig zwischen diesen beiden Säulen hindurchgetragen worden war. Ich wußte, daß ich es tat, und als in dem plötzlichen, von der offenen Tür herkommenden Zugwinde einige in der Nähe dieser Säulen hängende Draperien sich mit einem Male aufblähten und hin- und herschwankten, war ich nicht allzusehr überrascht, zu sehen, daß er noch das bißchen Mut verlor, das in ihm zurückgeblieben war. Die Wahrheit ist, daß ich selbst stutzte; ich war jedoch imstande, diese Schwäche zu verbergen, und ich herrschte Hibbard leisen Tones an:

Seien Sie kein Narr! Hinter dieser Portiere verbirgt sich nichts Schlimmeres, als ein paar lichtscheue politische Flüchtlinge oder eine Falschmünzerbande.

Das ist möglich; ich würde mir jetzt gerade ein Vergnügen daraus machen, Upson am Genick zu packen und –

Pst!

Ich hatte soeben etwas gehört.

Einen Augenblick blieben wir atemlos stehen, als sich aber das Geräusch nicht wiederholte, schloß ich daraus, es müsse das Knarren jenes offenstehenden Ladens gewesen sein. Augenscheinlich regte sich in unserer Nähe nichts.

Sollen wir die Treppe hinaufgehen? flüsterte Hibbard.

Nicht, ehe wir uns vergewissert haben, daß hier unten alles in Ordnung ist.

Links von uns stand die Tür etwas offen.

Hier war es, wo die Trauung stattfand, bemerkte Hibbard, der mir über die Schulter sah.

Noch überall zeigten sich Spuren von dieser Feier. Wände und Decken waren mit Girlanden geschmückt gewesen, und Girlanden hingen noch am Kamin und über den verschiedenen Türen. Abgerissene Zweige und Reste vertrockneter Blumensträuße, die die davonstürzenden Gäste fortgeworfen hatten, bedeckten den Teppich und verstärkten noch den Eindruck der Verwirrung, den die umgestürzten Tische und Stühle hervorriefen. Ueberall waren Anzeichen sowohl von der Hast sichtbar, mit der das Haus verlassen worden war, wie von der abergläubischen Furcht, die selbst die Dienerschaft abgehalten hatte, es zum Zwecke der Reinigung wieder zu betreten. Nicht einmal das Piano war geschlossen worden, und unter ihm lagen noch einige zerstreute Notenhefte, die dorthin gefallen und liegen geblieben waren, wahrscheinlich zum Schaden irgend eines armen Musikers. Nur die Uhr, die die Mitte des Kaminsimses einnahm, gab Kunde, daß nicht alles ausgestorben war. Sie war zur Hochzeit aufgezogen worden und noch nicht abgelaufen. Ihr Ticktack klang jedoch äußerst schwach durch die Finsternis an unser Ohr, als ob auch sie den Lebensmut verloren hätte und bald in die Grabesruhe, die in ihrer gespenstischen Umgebung herrschte, versinken wollte.

Es sieht wie nach einem Leichenbegängnis aus, sagte Hibbard leise.

Er hatte recht; es war mir, als schlösse ich den Deckel eines Sarges, sobald ich die Tür zumachte.

Unsere nächsten Schritte führten uns in den Hintergrund des Hausflurs, wo wir jedoch wenig fanden, was unsere Aufmerksamkeit hätte fesseln können, und dann machten wir mit einem durch die Umstände vollauf gerechtfertigten Grauen vor der Tür zwischen den beiden korinthischen Säulen Halt.

Sie stand offen wie alle übrigen, und – nenne man mich einen Feigling oder einen Narren – der Leser wird sich erinnern, daß ich Hibbard beide Titel gegeben hatte – ich fand, daß es mich eine gewaltsame Anstrengung kostete, die Hand nach ihr auszustrecken. Wenn irgend eine Gefahr vorhanden war, so drohte sie hier, und während ich mir noch nie bewußt gewesen war, vor einem bekannten Gegner zurückzuschrecken, so hatte ich doch wie andere Leute meines Berufes keine sonderliche Vorliebe für unsichtbare und geheimnisvolle Gefahren.

Hibbard, der mir bis dahin beinahe zu hart auf den Fersen geblieben war, ließ mir jetzt soviel Platz, wie ich nur wünschen mochte. Mit einer Empfindung, als wäre ich völlig allein, stieß ich endlich die Tür auf und überschritt die Schwelle dieses fürchterlichen Raumes, in dem erst vor vierzehn Tagen ein neues Opfer der Liste derer hinzugefügt worden war, die hier auf irgend eine unbekannte, unbegreifliche Weise den Tod gefunden hatten.

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