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Nun ist er doch sprachlos. Wir trinken aus und fahren fort an diesem Maiglöckchentag, der in Tonnerre enden wird; Tonnerre, die Stadt der magischen Quelle.
Die Schlange in der Tiefe
Die reizende Stadt Tonnerre, am Flüsschen Armançon gelegen und nicht weit vom Canal de Bourgogne entfernt, hat ungefähr 4500 Einwohner. Glaubt man der Sage, wohnt eine Schlange in der geheimnisvollen Quelle Fosse Dionne, die unterhalb der Kirche Saint-Pierre ihre Wasser unaufhörlich in einen eindrucksvollen Waschplatz aus dem 18. Jahrhundert speit. Wissenschaftler, Taucher, Gelehrte – keiner ist dem geradezu unheiligen Quell so richtig auf die Schliche, geschweige denn auf den Grund gekommen. La Fosse Dionne ist nicht das einzige Wahrzeichen dieses quirligen Ortes im Département Yonne, aber auf jeden Fall das sprudelndste. (Info: france-voyage.com)
(Be)rauschend: die Quelle La Fosse Dionne in Tonnerre
Es sind die Dachziegel aus eisenhaltigem Ton und der weiße Stein aus Tonnerre, der die müden Sonnenstrahlen zur Dämmerung aufsaugt und sie auf eigenartige Weise reflektiert, die Tonnerre an wolkenlosen Tagen so unglaublich rosa erscheinen lässt. Tonnerre ist das, was Reisende lieben, wenn sie es entdecken. Denn da ist eine Quelle, eine ewig rauschende, und die Quatrelle hat ihren Weg zu dieser Quelle gefunden. „La Fosse Dionne“ ist ein Mysterium. Niemand weiß, wo ihr Ursprung ist, und manch Suchender hat sein Leben dafür gegeben. Legenden ranken sich um das rätselhafte Becken, unter anderem ist von der Schlange Basilic die Rede, die in diesen Wassern wohnen soll. Die Schlange dürfte beim Tauchgang das geringste Problem sein, eher ist es die Tiefe: zunächst 28 Meter, dann 360 Meter in den Berg hinein, und weitere 68 Meter hinabfallend. Ein Labyrinth der Unterwelt. Wir warten einen Moment lang, aber die Schlange zeigt sich nicht. Vielleicht ist sie zu Besuch bei Mutter Nessie in Schottlands Highlands. Etwas enttäuscht sind wir schon.
Eine Galerie fürs innere Auge
Als bezauberndes Beispiel der französischen Renaissance gilt das von einem Wassergraben und weitläufigen Park umgebene Château de Tanlay. Mitte des 16. Jahrhunderts war es erbaut worden. Große Augen machen Besucher in einem Eckturm mit Deckengemälde der Schule von Fontainebleau, das berühmte Persönlichkeiten aus jener Zeit als Gottheiten darstellt. Noch erstaunlicher ist allerdings die Grande Galerie, weil hier die Trompe-l’œil-Malerei meisterhaft umgesetzt worden ist. Wände und Decke sind illusionistisch perfekt inszeniert. Dreidimensionalität wird vorgetäuscht, wo es sie gar nicht gibt. Was ist wahr, was nicht? Die Grande Galerie wirkt wie eine Parallelwelt. Sehr beeindruckend. Und zwar echt! (Info: chateaudetanlay.fr)
Sich in der „Ferme de la Fosse Dionne“ ein Zimmer zu nehmen und abends an den rauschenden Wassern vor dem Panorama des silbernen Quells aus der Tiefe ein Glas Wein zu trinken, ist eine gute Sache. „Diese Quelle ist Magie. Viele Touristen haben sie schon bewundert. Weil der Pilgerweg nach Santiago de Compostela direkt hier vorbeiführt, sind zudem viele Gläubige hier“, verrät Bernard Clément, der gemeinsam mit Gilles Barjou das „Gîtes“ führt, Jazzmusik zum Frühstück auflegt und selbst gemachte Marmeladen zu Baguette und Croissant bereitstellt. Abends fällt das Licht im Sekundentakt vom Himmel, die Église Saint-Pierre thront über der Ferme und dem Städtchen, und der Maître der Crêperie „Les Vieux Volets“ an der Rue de l’Hôtel de Ville gibt nach dem Essen einen Sprachkursus in Japanisch, Französisch, Englisch und Deutsch. „Ich weiß auch nicht, warum die Menschen nach Tonnerre kommen“, sagt Patrick Gallot und meint das ohne Zweifel augenzwinkernd. Wenn’s nicht die Quelle wäre, nicht die Église, nicht die schöne Landschaft drumherum mit dem faszinierenden Château de Tanlay und dem Canal de Bourgogne, an dessen Ufern liebliche Schleusenhäuschen stehen, wie man sie sich als Kind für seine Modelleisenbahnlandschaft gewünscht hätte, dann kommen sie vermutlich, weil Patrick köstliche Galettes und Crêpes kreiert, die mit Salzbutter zubereitet und mit Käse, Schinken und Ei gekrönt werden, während der Cidre aus Tassen ohne Henkel getrunken wird. Die vier Katzen des Gasthauses schmeicheln sich durch einen Wald aus Beinen von Tischen, Stühlen, Menschen, um danach hinter dem Tresen in der Küche zu entschwinden. Der Abend nimmt sich seinen Raum. Patrick macht die Rechnung fertig, wünscht eine Gute Nacht und schließt die Tür.
Schmale Gasse – der R4 kommt durch.
Die Wasser der Fosse Dionne rauschen, säuseln, flüstern, sie raspeln Süßholz, so kommt es den Gästen in der Ferme de la Fosse Dionne vor, die an diesem Tag einen letzten Blick auf das italienisch anmutende Panorama an der schmalen Rue de la Fosse Dionne werfen, die hufeisenförmig um die Quelle herumführt und an der die Fassaden der Häuser zartrosa, hellorange und zitronengelb leuchten. Abends nimmt das goldorangefarbene Licht der Laternen dort Platz, und die Wasser sprudeln unaufhörlich. Am Morgen sind Quelle und Quatrelle noch immer ein Brunnen der Inspiration. Es ist Zeit, den Ölstand zu prüfen und den Deckel der Kraftstoffpumpe abzuschrauben, um nachzusehen, ob das Filtersieb verschmutzt ist. Es wäre noch viel wichtiger gewesen, an der Tankstelle nicht den Tankverschlussdeckel liegengelassen zu haben. Retour über acht Kilometer. Es gibt Dinge, an die gewöhnt man sich bei Oldtimern nur sehr langsam. Immerhin aber: Er liegt noch dort, an der Zapfsäule. Selbst ein Enten-Fahrer hätte damit nicht viel anfangen können. Und wo wir schon beim Thema sind: Der nette Guide vom nahe gelegenen Château de Tanlay, einem Wasserschloss mit 44 Hektar großem Park unweit des Canal de Bourgogne, sagt: „J’adore votre voiture.“ Er geht an uns vorbei in den wohlverdienten Feierabend und winkt freundlich. Er betet es also förmlich an, nun sind wir schon zu dritt.
Von einer „deux-chevaux“ hat er nichts gesagt.
Neben der Spur … ein Schloss des kleinen Haushalts.
Wir tanken 16,5 Liter, randvoll und hoch die Tassen, alors allerseits, wir fahr’n in Saus und Braus! Das wäre keine Sensationsmeldung, wenn nicht der Durchschnittsverbrauch unseres Roadrunners bei 5,7 Litern pro einhundert Kilometer läge. Er gibt sich erstaunlich bescheiden, aber er hat ja auch die schmalen 135er-Schlappen drauf und nicht die fetten 145er ... Manchmal bewegt sich die Nadel der Tankinhaltsanzeige über Dutzende Kilometer keinen Millimeter, sie zittert höchstens ein bisschen auf der Stelle, fällt aber nicht nach links ab. Ist doch verrückt, oder? Noch mal in Lettern schwarz auf weiß: fünfkommasieben. Ein Allerweltsbenziner von heute, ausgestattet mit modernster Start-Stopp-Technik, Bremsenergierückgewinnung, Brimborium und Tinnef, schafft das meistens nicht, ohne dass man ihn über eine Teilstrecke schöbe. Und für hypermoderne Hybriden und E-Autos müssen Batterien gebaut werden, die aufgrund der katastrophalen Folgen durch den Lithiumabbau schlimmer sind als jeder blaugraue Nebel, der unter dem Stoßfänger hinten links aus dünnem Röhrchen als Abenteuerparfum entschwebt und „Amour“ in die Luft kritzelt. Die Reise führt uns weiter durch die Nordbourgogne. Die D-Straßen werden nicht müde, uns ihr Geleit zu geben. Die D996 schickt uns in der Region Côte d’Or nach Montigny-sur-Aube. Dessen Renaissancejuwel wird zurückhaltend dargeboten, wir entdecken es zunächst nur durch einen abgeschlossenen, schmiedeeisernen, hohen Zaun. Schwedische Gardinen für Durchreisende. Gut, dass gerade der Briefträger geschäftig seine Runde vorbereitet; die Poststation befindet sich direkt gegenüber. Wir stehen ratlos wie Salat in der Gegend herum, und unsere Körper sehen aus wie zwei übergroße Fragezeichen.
„Kann ich Ihnen helfen?“ Der Beamte schaut herüber, Briefe unter den Arm geklemmt.
„Wohl nicht. Wir hätten uns gerne dieses Château angesehen, aber es scheint geschlossen zu haben.“ Wir deuten mit den Zeigefingern auf den Monumentalbau.
„Doch, doch, das können Sie. Der Eingang ist auf der anderen Seite, an der Rue de l’Église. Sie müssen klingeln, dann wird Ihnen geöffnet“, sagt er, steckt die Umschläge in eine große Kiste auf dem Beifahrersitz des julisonnengelben Renault Kangoo, jenem Modell, das in den Neunzigerjahren vom Hersteller als offizieller Nachfolger das Erbe des Vierers antreten sollte, und wünscht einen Guten Tag. Wären jetzt die Achtzigerjahre, hätte sich Monsieur Facteur („Briefträger“) in eine R4-Fourgonnette gesetzt, nicht die Langversion, sondern die mit dem Seitenfensterchen auf der Gepäckraumfahrerseite, die wir als Zweit-Quatrelle gerne hätten. Gibt’s aber selten und meistens zu teuer. Allerdings: Wären jetzt die Achtziger, brauchten wir nicht zu klingeln, weil damals keine Besichtigungen möglich waren. Der Postmann britzt weg, während wir ein paar Hundert Meter auf der Rue Henri Chambon entlangtrudeln und dann rechts abbiegen. Ziel erreicht.
Eine Stunde später sitzen wir nach ausgiebiger Entdeckungsrunde durch den weitläufigen Park auf elegantem Metallgestühl vor der Orangerie. Das Schlossinnere steht nicht zur Besichtigung; es ist das Zuhause von Marie-France Ménage-Small. Ausgerechnet ein Schloss für Frau „Haushalt-Klein“, so ähnlich lautet ja wohl die Übersetzung ihres Namens. Der Haushalt, um den sich Madame kümmert, ist vermutlich alles, nur nicht klein. Sie kaufte den alten Kasten im Jahr 2002, um ihn zu neuem Leben zu erwecken. Das haben vor ihr schon andere getan – im 16. Jahrhundert zum Beispiel, als ein gewisser Jean V. die feudale Burg, deren Grundfeste aus dem 12. Jahrhundert stammen, zusammen mit seinem Bruder René, dem „Meister des Wassers und der Wälder“, wie uns die Geschichte sagt, in moderne Zeiten zu führen versuchte. Dazu brauchte er einen Architekten, der mit Jean Bullant schnell gefunden worden war, jener Bullant, dem Frankreich auch einen Teil des Louvre in Paris zu verdanken hat – und zugegebenermaßen der einzige Bullant, den wir kennen. Seit gerade eben. Aber nehmen wir an, wir wollten gegenüber Madame ein wenig glänzen, dann würden wir ihn auf Gedeih und Verderb sofort in unser Gespräch einbinden.
Crémant-Genuss vor Château Montigny-sur-Aube
Ach du liebe Zeit, da rauscht sie auch schon im Golfcart mit einer Flasche Crémant Rosé, Küchlein und Eis heran. Die Dienerschaft, offensichtlich eine Auszubildende, folgt ihr zu Fuß. Madame Ménage-Small ist lustig, erzählt gerne und strömt eine Grandezza aus, die perfekt in die Szenerie passt. Aus der „Oisellerie“ erklingen die Rufe weißer Pfauen wie Musik der Renaissance. Die fröhliche Schlossherrin, die in ihrer herzlichen, distinguierten Art und nach ihrem Äußeren zu urteilen stark an die Operndiva Montserrat Caballé erinnert, schenkt das rosafarbene Edelgetränk so schwungvoll ein wie wir unseren kleinen Burschen, der vor den Mauern der Anlage im Schatten großer Bäume steht, zu tanken pflegen: randvoll. Tausendfach steigen Bläschen in den beiden schmalen Kelchen und bilden einen federleichten Schaum, den wir mit größtem Wohlgefallen betrachten. Durch Kronen und Blätterdächer blicken wir auf die von der Sonne verwöhnte Fassade des Prunkbaus, deren hochherrschaftliches Bild den Crémant wie Champagner schmecken lässt.
„Ein schöner Ort“, bescheinigen wir der Schlossbesitzerin.
„Vor allem einer, der mich genauso gefunden hat wie ich ihn“, sagt Madame Ménage-Small. Es gebe keine Zufälle im Leben, alles habe seine Bestimmung. Sie, verheiratet mit einem US-Amerikaner, ist Besitzerin eines Schlosses, das für einen anderen US-Amerikaner eine bedeutende Rolle spielte: Harry Truman verbrachte mehrere Monate auf dieser Burg. Das war im Jahr 1918, als er sich an der Artillerieschule in Montigny-sur-Aube eingefunden hatte. Das habe die heutige Château-Besitzerin aber erst später erfahren. Wenn man bedenkt, dass Truman 1945 der 33. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wurde und maßgeblichen Anteil am Marshallplan hatte, der den Wiederaufbau Europas möglich machte, ist dieser Boden nichts weniger als ein Stück europäisch-amerikanischer Zeitgeschichte, auf den Madame stolz sein kann bei allem, was sie hier geschaffen hat. Sie fällt dabei nicht in Ehrfurcht auf die Knie, sie wirkt nicht melancholisch, sondern zufrieden, und sie hat Pläne, die viel weiter in die Historie greifen, um hervorzuholen, was im Laufe der Zeit verloren gegangen war. Denn was sie und ihr Ehemann Len Robert Small hier Anfang des Jahrtausends vorfanden, musste aufwendig restauriert werden. Zehn Jahre haben diese Arbeiten gedauert, zehn Jahre voller Träume, Hoffnungen, Pläne und sicher auch Enttäuschungen. Dabei schaffte es die resolute Frau in relativ kurzer Zeit, öffentliche Institutionen und private Gönner davon zu überzeugen, dieses Projekt maßgeblich zu unterstützen, um in der Geschichte der Region Côte d’Or ein Ausrufungszeichen zu setzen, das unverrückbar bis in die Zukunft ausstrahlt. Es war ein riesiger Aufwand; allein die Restaurierung des heute wieder Wasser führenden Burggrabens war eine Herkulesaufgabe. Rund 18.000 Kubikmeter Boden wurden ausgebaggert, Schilf und Erde entfernt. Die fünf Meter hohen Mauern mussten auf einer Länge von zweihundert Metern saniert und abgedichtet werden. Heute ziehen wieder Schwäne und Enten ihre Bahnen. Die Renaissance-Kapelle bescherte im Jahr 2009 allein sieben Handwerkern einen ganzen Sommer lang Arbeit, nur um der Fassade Schönheit (es gibt schlimmere Arbeitsplätze …) wieder herzustellen. Dorische Säulen, dreieckige Giebel, geriffelte Zwillingsstützen, Kartuschen, Rosetten, Goldschmiedearbeiten – hier hat ein Diamant sein Leuchten zurückerhalten! Architekten und Historiker gehen davor auf die Knie, wir tun es eher vor der Vielfalt des Obst- und Gemüsegartens, der, weit größer als ein Fußballfeld und etwas abseits des englisch anmutenden Landschaftsparks, über dreihundertfünfzig Sorten verschiedenster Früchte beherbergt, davon rund zweihundert Obst-Varietäten. Das sind überparadiesische Verhältnisse, denn im Garten Eden gab’s nur eine Apfelsorte (wahrscheinlich auch noch Granat) und keine Birnen, hier eine unermessliche Fülle, zum Teil frei stehend, andererseits zusätzlich am Spalier gezogen. Unter Einbeziehung erfahrener Landschaftsgärtner wurden jahrhundertealte Züchtungen gepflanzt. Bei aller wiederauferstandenen Pracht der Gebäude scheint dieses Projekt Madame Ménage-Small besonders viel Freude zu bereiten und Kraft zu geben. Dass das Fruchtsorbet zu Kuchen und Crémant ein Produkt der eigenen Ernte ist, daran besteht kein Zweifel: Natürlich ist es das! „Und wir werden noch weitere Sorten pflanzen“, sagt Frau Haushalt-Klein. Allein das ist ein Grund, auf der nächsten Reise zurückzukehren an diesen fantastischen Ort.
Ein letzter Ruf des weißen Pfaus erklingt, in den Kronen spielt der Wind ein Abschiedslied für uns. „Wir werden in absehbarer Zeit auch Chambres d’hôtes anbieten, dann können Sie hier übernachten“, sagt die Schlossherrin. Und das Abschiedslied der Bäume klingt ganz plötzlich schon nach einer Melodie des Wiedersehens.
Ein Zimmer mit Aussicht. Nordkoreanische Impressionen. Neulich am Rande der Vogesen.
Arc-en-Barrois ist bezaubernd, so viel steht fest. Nach einigem Hin- und Her-Mäandern zwischen diversen Nationalparks erreichten wir eine Wald- und Wiesenlandschaft, von Zeit zu Zeit unterbrochen von den Kathedralen der Landwirtschaft, riesigen Türmen, gefüllt mit Getreide, die als Silo gekennzeichnet sogar in der Landkarte verzeichnet sind, weil sie so mächtig und trutzig im Feld stehen. Ameisengleich fuhren wir also am Mont Blanc der Gerste, dem K2 des Weizens und dem Trinkbecher von Neptun vorbei – immer hoffend, dass nicht gerade jetzt ein Haarriss beschließt, sich zu vergrößern und der Inhalt der Riesenhumpen uns lawinengleich entgegenfließt. Dazwischen betrachteten uns gleichmütig diverse Kühe: schwarzbunte und rotweiße, wiederkäuend auf butterblumigen Weiden fressend, mitunter vom Herrn und Meister samt Traktor begleitet. Land, schönstes Land ringsumher. Besser kann man nicht reisen. Und wir mussten uns entscheiden: Arc-en-Barrois oder Arbot? Die Straßenkreuzung war unerbittlich. Arbot klang kurz und knapp, klang nach Bauernhöfen, klang nach kleiner Bar-Tabac und der Straße endend im Nirgendwo. Hatten wir schon oft auf dieser Tour. Wir entschieden uns deshalb für Arc-en-Barrois; dieser Ortsname vermittelt Grandezza und ließ auf adeliges Ambiente schließen, mit erleuchteten Fenstern im Barockstil und Apéritif auf eleganter Terrasse. Das Kleid für besondere Anlässe und das Oberhemd, noch ganz unten in der Tasche, würden also doch noch ausgeführt werden! Gut, Gasfuß, stellt schon mal den Cassis kalt, dort in Arc-en-Barrois, wir würden dann gleich vorfahren.
Parkplatz direkt unterm Zimmerfenster in Arc-en-Barrois
Arc, so wollen wir es hier ab sofort der Einfachheit halber nennen, ist zunächst erst einmal ein kleines Städtchen neben anderen noch kleineren Städtchen. Ganze 766 Einwohner – sollte das nicht eher ein Dorf sein? Aber nein, da haben wir die Rechnung ohne Schloss im Zentrum, Rathaus mit kompletter Geranienbelegung vor jedem Fenster, Hotel, Kirche und Apotheke im weißen Sandsteingewand gemacht! Zum Glück sieht wenigstens die Tankstelle so aus, als hätte nur schnell jemand die Zapfsäule an den Straßenrand gestellt, nachdem er sie auf einem Schrottplatz entdeckt und dann einfach hier vergessen hat. Wir füllen randvoll auf, das gute 98er-Super, und während der Tankwart gnädig das Geld entgegennimmt, stellt uns ein Zausel, dessen Peugeot ebenfalls eine Leckerei erhalten soll, die unmoralische Frage, ob ein Verkauf des fahrenden Altertümchens angedacht sei – es würde sich gut in seinem Fuhrpark machen. „Keine Chance“, bescheiden wir ihm, wie sollen wir denn standesgemäß beim Schlosse vorfahren? Gegen solche Argumente machtlos, lässt er uns aufbrechen – und wir fahren und fahren und fahren genau dreihundert Meter weiter, um schlussendlich auf dem entzückendsten Marktplatz einzuparken, den man sich nur vorstellen kann. Linker Hand ein Schloss aus weißem Stein, direkt fünfundzwanzig Schritte gegenüber die Auberge du Parc, ein großes Haus mit blauen Fensterläden. Daneben Bäckerei und mit dem Rathaus ein weiteres prachtvolles Gebäude. Alles ist so konzentriert um diesen Platz arrangiert, dass man sich nur einmal um die eigene Achse zu drehen braucht, um alles Interessante zu sehen. Im Hotel erhalten wir ein hinreißendes Eckzimmer, von deren zwei Fenstern wir einerseits aufs Rathaus blicken und andererseits auf Château, Kirche und Bäckerei. Es gibt leider keinen eigenen Hotelparkplatz, den wir wirklich gerne nutzen, anstatt unsere liebe Savane TL einfach so des Nachts öffentlich zugänglich abzustellen. Aber es geht nicht anders, wir müssen wohl oder übel eine Ausnahme machen. Immerhin: Der R4 steht direkt unter dem Fenster, und sollte sich jemand daran zu schaffen machen, könnten wir mit einem Sprung hinaus in die Nacht, barfuß und im Pyjama, direkt auf dem Übeltäter landen und ihn Jackie-Chan-gleich k. o. schlagen. Soweit die Theorie. Rein praktisch sind es trotzdem noch dreieinhalb Meter, also hoffen wir darauf, dass es nur Bewunderer aus der Ferne gibt, die interessierte Blicke auf das Auto werfen.
Abendstimmung am Hotel du Parc
Die Fenster des Zimmers sind groß und im unteren Drittel mit Eisengitter verziert. Eigentlich eine Light-Version des französischen Balkons. Er verleitet dazu, sich ans Fenster zu stellen und zu vergessen, dass das untere Drittel eben kein Mauerwerk, sondern nur französische Schmiedekunst ist, demzufolge der interessierte Einheimische die Bewohner dieses Eckzimmers in Unterwäsche bewundern kann, wie sie lässig hinausblicken. Die Belegschaft des Rathauses muss schon oft gelacht haben, und dem Pfarrer gegenüber ist wohl auch nichts Weltliches mehr fremd, zumindest was die Schlüpper angeht. Wir sind jedenfalls bestimmt nicht die Ersten, die sich hier nach dem Duschen so der Öffentlichkeit präsentieren …
Diese französischen Städtchen, so unterschiedlich sie auch in ihrer Struktur und Architektur sind, haben eines gemeinsam: Es gibt immer eine gut frequentierte Bäckerei, eine Kirche, die tagsüber geöffnet und deren Fassade nachts stimmungsvoll angestrahlt wird, sowie ein Restaurant oder eine Brasserie, wo sich auch unter der Woche die Menschen zum Essen und Trinken treffen. Fußgängerzonen, wie wir sie aus vergleichbar kleinen deutschen Städtchen kennen und die eine tödliche Entscheidung für jedes Sozialleben darstellen, sind zum Glück fast unbekannt. Hier braust jeder mit dem Auto vor, holt sich seine Baguette, lässt dabei den Motor laufen, auch wenn’s mal länger als zwei Minuten dauert, weil des Bäckers bessere Hälfte noch ein wenig plaudern will, und verschwindet wieder in einer Dieselwolke. Umweltgerecht? Nö, aber es ist eben noch Leben in der Stadt vorhanden, und selbst die Älteren, die kaum laufen können, klettern mühsam aus zerbeulten Peugeots und zerkratzten Renaults, um auf die Schnelle etwas zu erledigen, währenddessen es in Deutschland kaum noch eine Bäckerei gibt, vor der man überhaupt vorfahren könnte. Im Supermarkt ist es doch viel billiger. Hier allerdings kann man aus dem Eckzimmer des Hotels Le Parc am Fenster stehend diesem Treiben stundenlang zuschauen. Viel ist nicht los, aber die letzten Baguette-Käufer fahren im Minutentakt vor. Tatsächlich baut sogar noch ein Pizzabäcker seine Bude auf; auch hier wird es noch für zwei Stunden Kundschaft geben. Wir lassen uns den Apéritif in einem leicht abgeranzten Hinterhof schmecken. Am Nebentisch ein Schwung Köche, die eine Riesenportion Nudeln mit Tomatensauce verdrücken. Schande, aber wenigstens mit Baguette!
Am anderen Morgen, nach fulminantem Mahl im Restaurant mit Blick auf ein gewisses alpaka-farbenes Blechdach, erwachen wir durch Motorenlärm und plätschernde Laute. Der Blick fällt geradeaus durch das gegenüberliegende Fenster Richtung Rathaus. Dort steht ein Mann, fast Auge in Auge mit uns. Drei Fragen tun sich auf: Sind wir geschrumpft? Oder die Bewohner so groß? Und was zum Teufel plätschert da? Er wird doch nicht ... – Die Franzosen sind ja schnell bereit, der Obrigkeit ihren Unmut zu zeigen, aber nein, dieser Mann steht mit Zigarettenstummel im Mundwinkel lässig auf dem Dach seines Traktors und gießt die Geranien auf den Fensterbänken der Mairie. So geht das also! Wir hatten uns schon gefragt, wie man hier regelmäßige Wassergaben an die Pflanzen der öffentlichen Gebäude gibt, auch in Höhenlagen der oberen Etagen. Jetzt wissen wir’s: Es funktioniert, wenn man alle Regulierungen der Arbeitssicherheit ignoriert. Geht doch! Jeder deutsche Hausmeister – pardon: Facility Manager – würde sofort herbeistürzen und der Sache im Dienste der Unfallvermeidung ein Ende bereiten. Dafür würden dann aber auch die Blumen eingehen, aber Blumen an Rathäusern sind in Allemagne ja ohnehin selten. Hingegen wird hier in Arc und anderswo in aller Ruhe gegossen, bei lärmendem Treckermotor und mit Kippe.
Die Blumen werden gegossen …
Tasche packen, Kissen aus dem Fenster werfen (die eigenen), zum Frühstück wandeln und dabei von einer Horde ausgestopfter Hirschköpfe begutachtet zu werden – das ist des Reisenden Schicksal, wenn er in einer Gegend unterkommt, in der regelmäßige Jagdvergnügungen dazugehören.
Welche Reisefreuden könnten schöner sein als die, wenn man ausgeruht und dermaßen satt vor die Türe tritt, sodass man glaubt, von nun an eine Brioche zu sein, um dann ins Auto zu steigen und einem Tag entgegenzublicken, der noch jungfräulich vor einem liegt. Egal wohin man sich wendet, man wird neue Dinge sehen und erleben, alles liegt ausgebreitet und scheint nur darauf zu warten, dass wir um die Ecke kommen. Der heutige Tag soll noch sehr schöne Überraschungen für uns bieten, und wir sind dazu bereit. Wenn wir morgens von einem schönen Platz fortfahren, schwingt manchmal auch Wehmut mit, denn natürlich wissen wir, dass wir nur einen winzigen Bruchteil von dem gesehen haben, was es dort zu entdecken gibt. Beim abendlichen Spaziergang gestern, quasi ein Not-Gang aufgrund sehr gut gefüllter Bäuche, hatten wir in einer Art Hinterhof den Weg entlang eines großes Bachs gefunden, der zunächst eine Mühle antrieb, um sich dann schäumend und wirbelnd in sein gemauertes Bett zu fügen. Rechts und links seines Ufers konnten wir entlanggehen, und eine Art Rialto-Brücke sorgte für einen Übergang. Dann gab es dort noch einen offenen Garten, der aufgrund einer Städtepartnerschaft mit dem italienischen Samone angelegt worden war. Das Ganze versehen mit Resten einer Barockruine als kleine „folie“ und einem Rosarium, tipptopp gepflegt. Der Rasen gemäht, die Blumen blühten, es sah toll aus. Und als Krönung hieß die Komposition „Insel von Samone“. Leider war es dann zu dunkel geworden, um diesen Weg weiter entlangzuschlendern, aber jeder Reisende kennt das Gefühl, dass man eventuell noch etwas verpasst hat, was sich auch nicht wieder einholen lässt. Wenn man nach Jahren wieder vorbeikäme, wäre man doch eine andere Person und an anderen Dingen interessiert.
Genug des Philosophierens, wir schwingen uns auf die Straße, leicht duftet es nach Käse aus dem Picknickkorb und nach Weingummi aus der Ablage, das wegen erhöhter Temperaturen zu einer ungenießbaren Masse zusammengeflossen ist. So werden alle kleinen Sünden umgehend bestraft, sehr beunruhigend. Wir wollen nach Chaumont, der nächstgrößeren Stadt in der Haute-Marne, mit rund 23.000 Einwohnern aber noch überschaubar. Hier soll es eine Eisenbahnbrücke von enormer Größe geben, die zu den schönsten Viadukten Europas zählt. Wir lesen auf einem Schild, dass dieses Bauwerk das schönste seiner Art weltweit sei. Behauptet man hier in Chaumont zumindest. Gut so, denn übertriebene Bescheidenheit ist lästig. Wir fahren durch Wald und Flur, die Gegend ist hügelig, mit Feldern durchwirkt. Ruckzuck sind wir in Chaumont angekommen. Wir fahren talwärts, Kurve um Kurve, und als es wieder bergan geht, da erhebt sich in eindrucksvoller Länge von sechshundert Metern das Eisenbahnviadukt mit 96 Bögen und verbindet eine Hügelflanke mit der anderen. Wir fahren zum Aussichtspunkt und stellen den Renault in bedrohlicher Schieflage ab. Lieber mal die Handbremse betätigen. Leider können wir das Viadukt nicht betreten, gerade jetzt ist es eine Baustelle. Weiter geht’s also ins Stadtinnere. Wir parken in der Nähe einer Kirche und unternehmen einen Stadtrundgang. Grundsätzlich bietet es sich ja jedes Mal an, zunächst die Touristen-Info zu besuchen, um zu erfahren, was es in der noch unbekannten Stadt zu entdecken gibt, doch in Chaumont wird die Suche nach dem Infopoint zu einem Intelligenztest. Nachdem wir zum zehnten Mal per Schild um eine nächste Ecke in eine andere Straße geschickt werden, geben wir auf und suchen erst unser Auto und dann das Weite.
Das Viadukt von Chaumont ist 600 Meter lang und 50 Meter hoch.
Auch das ist ein Test, ein Nerventest. Die Stadtoberen haben – warum auch immer – beschlossen, dass alle Besucher und Bewohner nach Vorbild Nordkoreas permanent mit Musik zu beschallen sind. Die Lautsprecher sind vielerorts angebracht worden und lassen die gängigsten Radiohits in die Straßen rieseln. Wir warten auf eine schnarrende Stimme, die im Kommando-Ton zur gemeinsamen Feldarbeit auffordert. Andererseits ist Chaumont hübsch, zwischen Hügeln gelegen, mit vielen Prunkbauten aus hellem Sandstein und einer quirligen Innenstadt mit Restaurants und Geschäften. Vom oberen Punkt der Stadt blicken wir über eine Brüstung weit ins Land hinein, und wenn nicht gerade beim Betrachten der Naturschönheiten der Partnersender von Pjöngjang eine spanische Jubelarie auf Wein, Weib und Gesang gespielt hätte, wer weiß? Vielleicht wäre das noch etwas geworden mit Chaumont und uns …
Gerade in dieser Gegend gibt es viel zu entdecken, hier wird der köstliche Käse von Langres hergestellt, es gibt Weine und Wildspezialitäten, Trüffel, Abteien wie Sept Fontaines oder de La Crête, Korbflechtereien und Schnapsbrenner. Man kann tagelang herumfahren und sich amüsieren. Auf diese Weise schreitet unsere Entdeckung Frankreichs voran; wir nehmen Fahrt auf in Richtung Nancy. Die Landschaft von dicht bewaldeten Gebieten, durch die die Straße wie unter einem Dach entlangführt, ändert sich überraschend, um plötzlich ein Dorf aus grauen Granitsteinen zu enthüllen. Der Weg schlängelt sich durch Täler und schraubt sich direkt an manchen Haustüren in die Höhe, um dann wieder grandios nach unten abzudrehen. Für einen R4 genau das richtige Terrain. Wie eine Bergziege tuckern die 34 PS jede Steigung nach oben, um dann tollkühn nach unten zu brausen. Die Quatrelle kann also durchaus 130 Stundenkilometer erreichen, wer hatte etwas anderes behauptet?
Langsam steigen die Temperaturen, und ohne dass wir es wirklich bemerken, öffnet sich die Landschaft. Wir sind in den Vogesen angekommen. Plötzlich ist die Straße ein langes, graues Band, das sich endlos vor uns und den schmalen Pneus unseres Gefährts, das längst zu einem Gefährten geworden ist, ausbreitet. Eine kilometerlange und weite Tallandschaft, so scheint es auf den ersten Blick, mit mächtigen Hügeln rechts und links, davor die Felder. Oben auf den Hügeln sind dichte Baumreihen zu sehen. Würden am Horizont noch Tafelberge auftauchen, wären wir nicht verwundert. Es sieht verwunschen und gleichzeitig imposant aus, und während wir uns auf der D674 fortbewegen, finden dort oben in den dunklen Wäldern eventuell Zwergen-Things und Koboldkonferenzen statt. Da wollen wir hin – und tatsächlich: Ein kleines, verbeultes Schild mit Château-Zeichen, unscheinbar, leicht angerostet, weist uns zur nächsten, fernen Erhebung den Weg. Der R4 liebt die leichte Steigung, elegant aus dem vierten in den dritten Gang geschaltet, und schon schnaufen wir dem Château de Lafauche entgegen. Zunächst öffnet sich ein kleiner Ort, eher ein Weiler und dennoch mit obligatorischer Kirche und Gedenkstein. Dahinter wurde aus einem mächtigen Eichenstamm eine Art Häuschen gebaut, und ein kleiner Parkplatz ist auch vorhanden. Gibt man hier zu viel Gas, kann man bei den Anwohnern zwanzig Meter hangabwärts nach dem Rechten sehen.