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Unser kleines Dorf:

Eine Welt mit 100 Menschen

Josef Nussbaumer, Andreas Exenberger, Stefan Neuner

3., weiter verbesserte Auflage 2010

Band 1 der Reihe

„Kufsteiner Wirtschaftsstudien“

im IMT Verlag, Kufstein

Herausgegeben von Markus Mayr und Andreas Exenberger


Eine Welt mit 100 Menschen

Josef Nussbaumer

Andreas Exenberger

Stefan Neuner

IMT Verlag, Kufstein

© 2010 IMT Verlag, Andreas Hofer Straße 7, A-6330 Kufstein, info@imt-kufstein.at, www.imt-kufstein.at/verlag.html

3., weiter verbesserte Auflage (Erstauflage 2009)

Unser kleines Dorf entstand als Gemeinschaftsproduktion von Josef Nussbaumer (Idee, Recherche, Textgrundlage), Andreas Exenberger (Textgestaltung, Sekundärrecherche), Stefan Neuner (Grafiken, Umschlaggestaltung) und Markus Mayr (Produktion, Vertrieb).

Wir wollen uns bei Martina Alfreider, Sabine Comploi, Veronika Eberharter, Stefan Lang, Engelbert Theurl und Paul Tschurtschenthaler für ihre sehr sorgfältige Durchsicht des Manuskripts und ihre ausführlichen Anmerkungen ganz besonders bedanken sowie bei vielen anderen Menschen, die uns in Gesprächen Anregungen und Rückmeldungen gegeben haben, die zur Fertigstellung dieses Buches und seiner Überarbeitungen beigetragen haben. Ein spezieller Dank geht an Ursula Kaml, die mit ihrer Diplomarbeit: Angenommen, die Welt wäre ein Dorf von 1.000 Einwohnern, wie könnte man sie statistisch seit 1950 beschreiben? (Innsbruck, 2003) wertvolle Vorarbeiten für die weitere Konkretisierung dieser Idee geleistet hat.

Siehe auch: www.unserkleinesdorf.com

Umschlaggestaltung: Stefan Neuner

ISBN(epub): 978-3-9502786-3-7

Alle Rechte vorbehalten.

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Inhaltsverzeichnis

Prolog: Ein „globozentrisches“ Weltbild

Kapitel 1: Bevölkerung

Kapitel 2: Wirtschaft

Kapitel 3: Landwirtschaft und Ernährung

Kapitel 4: Energie

Kapitel 5: Mobilität

Kapitel 6: Arbeit

Kapitel 7: Konsum

Kapitel 8: Die größten Probleme

Epilog: Gegenwärtige und zukünftige Krisen

Quellenverzeichnis der Abbildungen

Globo in der Nussschale

Prolog: Ein „globozentrisches“ Weltbild

Eine Welt der Krisen?

Wir haben es heute mit drei großen Krisen zu tun, so der prominente US-amerikanische Zukunftsforscher Jeremy Rifkin1:

erstens mit dem Ende der zweiten industriellen Revolution und der Krise jener Globalisierung, die darauf aufbaut;

zweitens mit dem Ende des fossilen Zeitalters und der Energiekrise;

• und drittens mit dem Klimawandel, der die menschliche Zivilisation auslöschen könnte.

Dennis Meadows, US-amerikanischer Systemforscher, sah bereits in den 1970er-Jahren deren gemeinsame Ursache, die er im Buch Die Grenzen des Wachstums beschrieb: die Verknappung und damit Verteuerung von Ressourcen.2 Um die großen Auswirkungen dieser Entwicklung besonders zu betonen, meinte er in einem Interview nach der aktualisierten Neuauflage des Buches 2006 sogar, dass die Menschheit in den nächsten 30 Jahren mehr Veränderungen sehen wird als im alles andere als ereignislosen 20. Jahrhundert.

Nun kann man zwar historische Erfahrungen niemals einfach auf die Gegenwart oder Zukunft übertragen, jedoch ist aufgrund vieler Faktoren klar, dass wir in einer Phase des radikalen Umbruchs leben. Die Spannungen im bestehenden „System“ nehmen seit geraumer Zeit unablässig zu und bringen es aus dem Gleichgewicht.3 Ein neues ist aber nicht mehr auf der Basis der alten Konzepte herzustellen. Die alten „Erzählungen“, die alte Logik, sie passen nicht zu einer Zukunft, die für alle auf der Welt lebenden Menschen ökonomisch wie ökologisch nachhaltig4 sein muss, weil sonst der Kollaps droht.

Mit diesem Buch wird insbesondere der Versuch unternommen, das zu veranschaulichen und Ansätze zu liefern, wie es zu erklären ist – nicht zuletzt historisch. Gerade Letzteres ist wichtig, weil sonst unklar bliebe, welche zukünftigen Entwicklungen überhaupt möglich sind. Nur so können echte „Optionen“ von reinen „Utopien“ unterschieden werden, wobei freilich auch das Utopische schon allein dadurch Bedeutung hat, dass es ein Ziel und damit Orientierung bieten kann und dass es nur über derartige „Visionen“ möglich ist, über das Althergebrachte, über die alten Erzählungen hinauszudenken und Neues zu entwickeln. Dabei ist die Vorstellung von drei gleichzeitigen Krisen ein guter Ausgangspunkt für die Bewältigung der anstehenden Aufgaben. Denn als Menschheit ebenso wie als jeder und jede Einzelne werden wir immer Einfluss auf unsere Zukunft haben. Je später wir aber agieren – oder gar nur reagieren – desto beschränkter wird unser Handlungsspielraum sein und desto kleiner und unerfreulicher die Auswahl an Möglichkeiten. Das Schicksal von Gesellschaften, die z.B. an ihre ökologischen Schranken gestoßen sind, kann eine Warnung vor allzu viel Übermut sein, dass der Mensch mit allen Problemen schon immer irgendwie fertig wird.5

Diese Befunde von Rifkin, Meadows und anderen werden vielen aus der Seele sprechen, ebenso wie sie vielen auf den ersten Blick unverständlich sein werden. Was zutrifft, hängt eng mit dem jeweiligen Weltbild zusammen. Gerade an mancher Vorstellung von der Welt will dieses Buch aber rütteln, indem der Versuch unternommen wird, weltweite Ungleichgewichte plastisch und greifbar zu machen. Das geschieht auf zwei Ebenen, auf denen zugleich die Begründungen stattfinden, warum uns einschneidende Änderungen bevorstehen. Die eine ist eher „empirisch“, also eine Sache des Begreifens, und liegt im großen Ausmaß der Ungleichheit, die unseren Globus derzeit viel mehr prägt, als das in der so genannten „entwickelten“ Welt zur Kenntnis genommen wird. Sie hat etwas mit Beobachten und Messen zu tun. Die zweite ist „theoretisch“, also eine Sache des Verstehens. Sie liegt in der Art und Weise, wie sich die Menschen die bisherigen Entwicklungen verständlich machen, was derzeit zunehmend durch das Konzept der „Krise“ geschieht. Hier haben Erklärungen, aber auch die bereits erwähnten „Erzählungen“ Platz, die im Idealfall die täglichen Geschehnisse in ein stimmiges Ganzes einbetten.

Globo, ein Dorf mit hundert Menschen

Dieses Buch soll also die Welt beschreiben, aber auch realistische Optionen und angemessenes Handeln verdeutlichen. Dazu braucht es die Kenntnis aktueller Zustände, aber auch darüber, wie es zu diesen Zuständen gekommen ist, denn das ist nicht egal. Vielmehr wirkt der beschrittene „Pfad“ prägend in die Gegenwart nach.6 Um das zu erreichen, wird ein Gedankenexperiment unternommen. Es geht dabei darum, sich die gegenwärtige Welt als Dorf mit 100 Einwohnerinnen und Einwohnern vorzustellen, das GLOBO heißt. Dieser Kunstgriff soll es ermöglichen, besser mit ungewohnten globalen Realitäten vertraut zu werden, und das bezogen auf eine Gruppe, die vielleicht ziemlich genau so groß ist wie jene Gruppe von Menschen, mit der man im Bekannten- und Freundeskreis beruflich und privat wirklich zu tun hat (auch wenn sie wohl kaum je so „global“ sein wird).

Ein wichtiges Darstellungsmittel in diesem Buch stellen Grafiken dar, die die Realität in „unserem kleinen Dorf“ veranschaulichen sollen. Alle enthalten verschiedene Daten, teils historische, oft gegenwärtige und manchmal zukünftige. Manche sind einer physischen Weltkarte nachempfunden (auf der sich übrigens links von Nordamerika auch eine sonst nicht dargestellte Anomalie findet7), manche gleichen eher Diagrammen. Die vielleicht gewöhnungsbedürftige Optik wurde dabei absichtlich gewählt, um die „eine Welt“ zu verdeutlichen, in der die 100 Menschen von Globo zusammenleben.


Als Hauptbezugsjahr für die Daten wird das symbolträchtige Jahr 2000 verwendet, weshalb ein Mensch in Globo stellvertretend für rund 61 Millionen Menschen in der realen Welt steht.8 Auch die Geld-, Mengen- und Flächenangaben werden entsprechend umgerechnet. Um diese Daten besser zu strukturieren, wird das Dorf in sechs Weiler geteilt.9 In Globo gibt es die Weiler „Afrika“, „Asien“, „Europa“ (einschließlich Sibirien), „Lateinamerika“ (und Karibik), „Ozeanien“ (Australien und Pazifik) und „Nordamerika“, wobei Ozeanien sozusagen „statistisch“ unbesiedelt ist, aber wichtig für die Ressourcenversorgung. Wenn es zweckmäßig ist, wird noch weiter untergliedert, vor allem der bevölkerungsreichste Weiler Asien.

Auf den folgenden Seiten werden nun verschiedene Lebensbereiche in Globo dargestellt. Dabei birgt die Auswahl der Daten aus der Fülle des vorhandenen Materials immer die Gefahr der Willkür, es soll hier aber ein Gesamtüberblick gegeben werden, der alles Wichtige sowie das unserer Ansicht nach zu wenig Bekannte enthält. Die Darstellung auf der Basis von 100 Menschen soll dabei außerdem nicht nur der Vorstellung helfen, sondern sie soll auch den Eindruck allzu exakter Zahlen verwischen. Denn nahezu alle folgenden Angaben entbehren solcher Exaktheit, die aktuellen kaum weniger als die historischen. Viele beruhen hingegen vielmehr auf Schätzungen und Hochrechnungen und manche können nur als ungefähre Annäherung an eine eigentlich unbekannte Realität angesehen werden. Es macht insofern auch keinen Unterschied, ob man solche Zahlen mit zwei Kommastellen oder auf ganze Einheiten gerundet angibt.10 Daher wird in diesem Buch auch weitestgehend auf Kommastellen verzichtet – und das nicht zuletzt, weil ein Mensch immer ein unteilbares Ganzes ist.

Es geht also nicht zuletzt darum, den Blick für Realitäten zu schärfen, die „wirklich“ globale Bedeutung haben, ist doch dieser Blick oft durch näher liegende Probleme getrübt. Diese „Wirklichkeit“ ist dabei allerdings mit voller Absicht in Anführungszeichen gesetzt, denn natürlich ist die Prozentgrenze, mit der hier letztlich gearbeitet wird, ein willkürliches numerisches Konstrukt. Auf dieser Ebene relativiert sich aber vieles, was nur scheinbar wichtig ist. Es gibt in ganz Globo z.B. nur 2,6 Kilogramm Gold, nur 11 Autos und nur höchstens vier Menschen können dieses Buch lesen, weil sie überhaupt Deutsch verstehen. Es schließt aber auch vieles aus: z.B. gibt es in Globo „statistisch“ keinen einzigen Löwen oder Elefanten, keinen einzigen Arzt und natürlich keinen einzigen Fernsehsender.11

Bei der folgenden Betrachtung handelt es sich nun zumeist um eine Beschreibung der Gegenwart mit einigen Rückblenden, vor allem ins 19. Jahrhundert, und Ausblicken in die nähere und fernere Zukunft. Trotz des Hauptbezugsjahres 2000 wurden für die Darstellung der jeweiligen Lebensbereiche aber natürlich stets möglichst aktuelle Daten verwendet.12 Dass dabei oft eine Zeitspanne von etwa zweihundert Jahren betrachtet wird, ist kein Zufall. Neuerdings hat man dafür sogar ein Wort erfunden: Anthropozän.13 Gemeint ist damit jener Zeitraum seit etwa 1800, in dem der Mensch zu dem prägenden Faktor des Weltgeschehens geworden ist und sich in Globo viele in ihrer Dimension und Dynamik historisch einzigartige Entwicklungen ereigneten. Es mag dabei bezweifelt werden, ob der Mensch, das Steinzeitwesen, sich an die absolute Einmaligkeit und Beispiellosigkeit des Wandels in jüngster Vergangenheit wirklich bereits gewöhnt hat, denn erdgeschichtlich betrachtet gleicht diese letzte Phase einem Hauch. Stellt man z.B. die Zeit seit Entstehung der Erde vor 4,5 Milliarden Jahren in einem Tag dar, so ereignet sich selbst die neolithische Revolution, also die „Erfindung“ der Landwirtschaft, erst in der letzten Sekunde.14 Und das Anthropozän könnte man gerade noch auf dem Zielfoto eines Hundertmeterlaufs erkennen, nicht aber mehr in der Zeitnehmung. Dieses Bild mag auch so verstanden werden, dass nicht mehr viel Zeit bleibt, den Kurs in Globo zu korrigieren. Es weist aber vielleicht auch auf die große Aufbauarbeit der Natur hin, die in den Händen der heute lebenden Menschen liegt, und damit auf deren Verantwortung.

Ein erster Blick auf die Globo-Geographie und die Globo- Ökonomie

Die Beschreibung soll mit einem Blick auf das Umfeld des Dorfes beginnen. Die Oberfläche beträgt etwa 8,4 Quadratkilometer bzw. 840 Hektar, von denen aber ca. 71 Prozent aus Wasser bestehen, das nahezu ausschließlich Salzwasser ist. Die restlichen 29 Prozent (also etwa 2,5 Quadratkilometer) bestehen zwar aus Festland, sind aber deshalb noch lange nicht bewohnbar. Mehr als ein Drittel des Festlands besteht nämlich aus Wüsten, Ödland, Gebirgen und Gletschern und insgesamt vier Fünftel der Dorffläche fallen damit als Wohngebiet zur Gänze aus. Doch auch der Rest besteht größtenteils aus Wald (ca. 65 Hektar), Wiesen- und Weideflächen (ca. 57 Hektar) und Ackerland und Dauerkulturland (ca. 25 Hektar). Übrig bleiben nur etwa 3 Hektar, auf denen Häuser und Infrastruktur stehen.15

Die reine Betrachtung der Oberfläche scheint noch wenig spektakulär zu sein. Aber auch sie ist aufschlussreich, wenn man etwa an die fortschreitende Entwaldung während des Anthropozän denkt, die alle Formen von Wald flächenmäßig dezimiert hat, zuletzt speziell den tropischen Regenwald. Dabei bleibt es aber nicht, denn auch sonst ereigneten sich während der zwei Jahrhunderte des Anthropozän viele langfristig betrachtet extreme Entwicklungen: Die Bevölkerung „explodierte“, ebenso die Industrieproduktion, damit aber auch die Menge an „produziertem“ Müll und die Belastung von Wasser, Boden und Luft, wobei all das natürlich auch direkt zusammenhängt.


Generell gleichen viele Zeitreihen von Entwicklungen während dieser Periode jenen, die in Abb. 0.02 als eine Art „Ikonen“ der Veränderung durch den Menschen zusammengetragen wurden.16 Denn obwohl eine große Zahl solcher Reihen durch den Rost der Aufnahmefähigkeit einer solchen Publikation gefallen ist, werden in diesem Buch immer wieder vergleichbare Bilder auftauchen.

Eine Warnung vor den Tücken der Statistik

Über die Ungenauigkeit vieler der hier präsentierten Daten ist bereits geschrieben worden. Zahlen zum selben Sachverhalt aus vergleichbar zuverlässigen Quellen unterscheiden sich oft, teils um ein Vielfaches. Manchmal ist der Grund nachvollziehbar, wie z.B. unterschiedliche Definitionen, manchmal auch nicht. Dass hier meist nur eine Zahl präsentiert wird, soll daher nur Verwirrung vermeiden und nicht etwa den Eindruck erwecken, es gebe korrekte Angaben (wobei aber stets die als am zuverlässigsten eingeschätzte wiedergegeben wird). Eine zweite sehr wichtige Anmerkung zum Umgang mit den vielen statistischen Daten ist aber noch zusätzlich nötig. Es wird in weiterer Folge oft von der durchschnittlichen Entwicklung im gesamten Dorf Globo oder in einzelnen Weilern die Rede sein. Allerdings zeigt sich hier eine statistische Tücke, denn Durchschnitte sagen nichts über die Verteilung der zugrundeliegenden Daten und damit wenig über Einzelereignisse aus. In der Statistik kursiert ein Witz, der dieses Problem auf ironische Art recht anschaulich macht: Wenn ein Jäger einem Hasen nachstellt und einmal genau 5 Meter links und bei seinem zweiten Schuss genau 5 Meter rechts an ihm vorbei schießt, dann wäre der Hase statistisch betrachtet im Durchschnitt dieser beiden Schüsse mausetot. Praktisch aber würde sich jeder Hase einen solchen Jäger wünschen und sich weiter seines Lebens freuen. Man sollte bei allen Durchschnittsangaben, die auch in diesem Buch sehr häufig vorkommen werden, diese Tücke niemals vergessen.

Nun gilt es aber, in ein Panoptikum globaler Lebensrealitäten einzutauchen, das von der Bevölkerung über die Landwirtschaft, die Energie, den Verkehr, die Arbeitswelt und den Konsum bis zu den größten Bedrohungen und aktuellen Herausforderungen führen wird. Die Darstellung ist dabei bewusst dem Konzept des „Globalen Lernens“17 verpflichtet, indem sie auf vielfältige Weise zum gemeinsamen Entdecken der Welt einladen will, vor allem einer Welt außerhalb des für viele der Leserinnen und Leser gewohnten Horizonts. Was sich dabei entfaltet, ist ein neues, ein globozentrisches Weltbild.18

Kapitel 1: Bevölkerung

Am Anfang war … der Mensch?

Die Beschreibung von Globo soll mit seinen Menschen beginnen. Hier hat sich gerade im Anthropozän ein fundamentaler Wandel ereignet. Im Jahr 1825 lebten in Globo nämlich gerade einmal 18 Menschen, davon nur 4 im Weiler Europa. Das war jene Zeit, als der englische Pastor und Ökonom Thomas Robert Malthus seinen Essay on the Principles of Population geschrieben hat.19 Dabei kam er zu dem Ergebnis, dass diese Bevölkerung kaum mehr wachsen könne, weil es der Nahrungsmittelmangel sowie damit verbundene Krankheiten und Konflikte in Bälde nicht mehr zulassen würden. De facto begann die Dorfbevölkerung damals erst richtig zu wachsen, und was in weitere Folge über die Unvergleichbarkeit vieler Entwicklungen in den letzten 200 Jahren festgehalten wird, gilt in gleicher Weise und ganz grundlegend schon für die Zahl der Menschen. Verglichen mit den vorangegangenen zwei Jahrtausenden beschleunigte sich das Bevölkerungswachstum in den letzten zwei Jahrhunderten etwa um den Faktor 12. Das bedeutet z.B., dass die Globo-Bevölkerung heute alle drei Jahre um die gleiche Anzahl an Menschen zunimmt, wie insgesamt während der ersten 1.500 Jahre christlicher Zeitrechnung.


Diese gewaltige Umwälzung hat den Wirtschaftshistoriker Gregory Clark dazu veranlasst, die Flucht aus der „Malthusianischen Falle“ für den entscheidenden Moment in der Weltwirtschaftsgeschichte zu halten.20 Dazu passt auch der Befund, dass vor zwei Jahrhunderten nahezu alle Menschen in Globo auf dem (und vom) Land lebten, während das heute für nicht einmal mehr die Hälfte zutrifft. Die andere Hälfte wohnt immer mehr in städtischen Behausungen: schon 54 Menschen im Jahr 2008, wahrscheinlich bereits 80 (von dann 130) im Jahr 2030, während es um 1900 erst 4 (von damals 27) waren.21

Zur Ehrenrettung von Malthus muss man freilich festhalten, dass er eine gute Zustandsbeschreibung der Welt vor 200 Jahren abgegeben hat, während er die Umwälzung der Grundlagen der menschlichen Existenz, obwohl sie sich zu seinen Lebzeiten vollzog, letztlich gar nicht als solche wahrnehmen konnte. Malthus hatte andere wissenschaftliche Probleme zu lösen: Er musste z.B. noch Kritiker überzeugen, die nicht wahrhaben wollten, dass bei prekärer Versorgungslage geringere Geburtenraten die Überlebenschancen der Geborenen erhöhen und daher insgesamt besser für die Bevölkerungsentwicklung sind. Gerade an diese „Bedingtheit“ von Erkenntnis zu erinnern, ist wichtig, denn vieles erschließt sich erst in der Rückschau. Bereits in der Vorausschau Kenntnis über die Zukunft zu erwarten wäre hingegen auch von Geistesgrößen viel verlangt.

Globo-Demographie

Zurück aber in die Gegenwart: Im Globo des Jahres 2000 leben 50 Frauen und 50 Männer. Bei den Kindern überwiegt in zunehmendem Maße die Zahl der Buben jene der Mädchen, während sich im Alter das Verhältnis der Geschlechter umkehrt.22 Pro Jahr werden mindestens zwei Kinder geboren und ein Mensch stirbt, weshalb die Bevölkerung bis heute (Stand Anfang 2010) bereits auf 112 Menschen gestiegen ist. Bis 2050 sollen es etwa 150 sein, möglicherweise aber auch mehr, geschätzt werden bis zu 180.23 Die Expertinnen und Experten hoffen, dass das Wachstum danach zum Stillstand kommen wird. Im Weiler Europa wird das bereits früher eintreten und die Bevölkerung dürfte im Jahr 2050 bereits geringer sein als heute.

Entsprechend diesen Trends nahm auch die Bevölkerungsdichte in Globo zu und stieg relativ zur besiedelbaren Fläche von 19 Personen pro km² im Jahr 1950 auf 45 im Jahr 2000, wobei sich die Menschen vor allem im Weiler Europa und in Teilen des Weilers Asien ballen. Diese Dichte wird weiter steigen (denn die Fläche nimmt in Globo ja nicht in relevantem Ausmaß zu), ebenso wie die damit verbundenen Unterschiede. Ein Grund dafür ist, dass von den 26 Frauen, die 2005 zwischen 15 und 49 Jahre alt waren und die in einer Partnerschaft lebten, nur 14 eine moderne Verhütungsmethode anwandten.24 Daher ist möglicherweise eines der zwei jedes Jahr geborenen Kinder in diesem Sinne „ungeplant“. Zudem kommt nach fundierten Schätzungen fast jedes Jahr noch ein drittes Kind dazu, das abgetrieben wird.25 Doch auch für die beiden geborenen Kinder ist der Start oft schwierig: jedes dritte kommt ohne professionelle Hilfe zur Welt26 und 40 % von ihnen existieren eigentlich gar nicht, weil es keine urkundlichen Aufzeichnungen über ihre Geburt gibt.27 Wer aber nicht „existiert“, hat letztlich auch keine Rechte.

Das Durchschnittsalter der Menschen in Globo betrug im Jahr 2000 26,6 Jahre. Dieser Wert gibt nicht den Mittelwert an, sondern den Median: die Hälfte der Menschen sind also jünger und die andere Hälfte älter. Dieser Durchschnitt wird aber jedenfalls steigen und soll 2050 bereits bei 38,4 Jahren liegen.28 Das deutet einen demographischen Wandel schon an, auf den noch ausführlicher zurückzukommen sein wird: Noch gibt es nämlich erheblich mehr Kinder (unter 15 Jahren) als Seniorinnen und Senioren (ab 65 Jahren) – nämlich 30 verglichen mit nur 7 –, dieses Verhältnis wird sich in den nächsten Jahrzehnten aber zugunsten der älteren Menschen verschieben.

Dass jemand in Globo sein Heimathaus auf Dauer verlässt, ist übrigens – vielleicht entgegen der Wahrnehmung – die ganz große Ausnahme. Fast alle bleiben dort, wo sie geboren sind, und die wenigen, die wandern, bleiben meist im selben Weiler. Alles in allem sind nur 3 Menschen in ganz Globo wirklich „ausgewandert“.29 Die Zahl derer, die aus anerkannten Asylgründen auf der Flucht sind (dazu zählen Krieg, politische Verfolgung oder Diskriminierung, nicht hingegen, dass das Leben durch Armut oder Umweltzerstörung bedroht ist), reicht hingegen nicht annähernd aus, um die Wahrnehmungsschwelle in Globo zu überschreiten.30 Das heißt aber noch lange nicht, dass nicht auch in Globo viele Menschen Diskriminierungen erdulden müssen oder Vertreibung erleiden. Besonders betroffen sind z.B. jene 5 Personen, die als „indigen“ bezeichnet werden, also „Eingeborene“.31 Sie sind oft sogar rechtlich benachteiligt.


Hier haben noch zwei interessante statistische Anmerkungen Platz, die allerdings auch die Grenzen des Gedankenexperiments Globo ausreizen: Zum einen lebte vor der neolithischen Revolution statistisch gesehen eigentlich niemand im Dorf. Erst die Landwirtschaft hat es ermöglicht, die menschliche Bevölkerung auf 1 und darüber zu „steigern“, wobei sich dieser „statistische Moment“ vermutlich erst vor etwa 3.000 Jahren ereignet hat.32 Zum anderen wird immer wieder die Frage gestellt, wie viele Menschen bislang eigentlich insgesamt gelebt haben. Eine präzise Beantwortung dieser Frage ist angesichts der unsicheren Angaben über vergangene, eigentlich aber auch über gegenwärtige Bevölkerungszahlen zwar letztlich nicht möglich, die vielleicht beste fundierte Schätzung ergab aber – umgelegt auf Globo – etwa 1.750.33

Zwei allzu menschliche „Missverständnisse“

Zwei Aspekte der Globo-Demographie, die aktuell wie historisch Anlass für viele „Missverständnisse“ im Dorf waren, sind Religion und Sprache. Vor allem die Religion ist zugleich jenes Thema, bei dem die Datenlage besonders unsicher ist.34 Würde man die Angaben der verschiedenen großen Religionsgemeinschaften über die Anzahl ihrer Anhängerinnen und Anhänger summieren, müsste Globo schon heute weit mehr als 150 Menschen beherbergen. Der Grund dafür ist nicht zuletzt das Interesse mancher Vertreter dieser Religionen (vor allem der missionarisch veranlagten unter ihnen), die jeweils ihre als möglichst groß darzustellen. Dazu kommt aber auch die weit verbreitete Vermischung verschiedener religiöser Vorstellungen in der individuellen Glaubenspraxis, was eindeutige Zählungen unterläuft. Das betrifft alle „Buchreligionen“ (Christentum, Islam, Judentum), mehr noch aber alle nicht schriftgebundenen „Glaubensgemeinschaften“ (Hinduismus, aber auch Buddhismus – um nicht „Buddhismen“ zu sagen) und am stärksten die „Restkategorien“ des Atheismus, Agnostizismus und Animismus, bei denen eine Zuordnung meist von außen erfolgt und nicht nur deshalb oft eher willkürlich ist.


Anders als die Zahl der Religionen, die sich eher vermehren, ist die Zahl der Sprachen in Globo in den letzten Jahrhunderten zurückgegangen.35 Das geht unmittelbar mit einer Konzentration der Sprachen einher, wobei Mehrsprachigkeit in Globo trotzdem verbreitet ist. Das gilt – was vielleicht überraschen wird – vor allem in seinen ärmeren Teilen, wo viele Menschen selbstverständlich vier oder mehr Sprachen sprechen. In den reicheren Teilen sind die Menschen zwar oft zweisprachig, selten aber mehr. Dabei sind diese Sprachen meist die jeweilige Muttersprache und Englisch, die lingua franca des Dorfes und vor allem seines Wirtschaftslebens, die vermutlich von mehr als einem Drittel der Bevölkerung zumindest verstanden wird.36

Wackelige Alterspyramiden

Mit Bezug auf das Alter ist eine ebenso problematische wie erfreuliche Entwicklung in Globo zu diskutieren. Die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt liegt derzeit bei rund 68 Jahren (70 für Frauen und 65 für Männer).37 Dieser Durchschnittswert hat sich im 20. Jahrhundert vermutlich nahezu verdoppelt, im Weiler Europa ist die Lebenserwartung der Menschen in dieser Zeit um rund drei Monate pro Jahr gestiegen.38 Je nach Weiler präsentiert sich das erreichte Lebensalter recht unterschiedlich, optimistische Schätzungen gehen aber davon aus, dass es sich angleichen wird, nicht zuletzt, weil sich die medizinische Versorgung in den benachteiligten Regionen verbessern wird. So könnte sich die durchschnittliche Lebenserwartung im Weiler Afrika von ca. 53 Jahren im Jahr 2000 auf rund 67 Jahre bis 2050 erhöhen, während sie in Europa „nur“ von 74 auf 82 Jahre steigen dürfte.

Trotz dieser demographischen Umwälzung sieht die Bevölkerungspyramide von Globo noch relativ stabil aus. Bei genauerem Hinsehen erkennt man aber wachsende Disparitäten, die zu den versteckten, aber zugleich sehr problematischen Trends im Dorf gehören. Das vielleicht dramatischste dieser Ungleichgewichte ist die „Apartheid“ der Geschlechter, denn der weibliche Teil der Bevölkerungspyramide wird immer schmäler. Ein zweites ist das sich verschlechternde Verhältnis zwischen älteren und jüngeren Menschen, denn der obere Teil der Pyramide wird immer größer. Insgesamt wird sie damit schief und kopflastig und verdient daher immer weniger ihren Namen.

Dazu kommt noch verschärfend, dass es um die Altersversorgung in Globo insgesamt schlecht bestellt ist. Nur etwa 20 Menschen haben überhaupt Zugang zu irgendeiner Form von öffentlich finanzierten Pensionen oder Renten, der Rest ist im Alter vollkommen auf die eigene Vorsorge, einen Familienverband oder Almosen angewiesen. Die Finanzierung einer flächendeckenden Altersversorgung wäre dabei angesichts der steigenden Lebenserwartung überall im Dorf eine besondere Herausforderung. So verknüpfen sich in den optimistischen Prognosen (selbst für den Weiler Afrika, aber auch für Globo als Ganzes) mehrere schwer vereinbare Vorstellungen: Dass die Menschen immer älter werden, dass sie sich außerdem besserer Gesundheit erfreuen und dass sie zudem ab einem gewissen Alter ohne zu arbeiten ihren Lebensunterhalt bestreiten können, mag wünschenswert sein, ist aber illusorisch – zumindest unter den derzeit herrschenden Bedingungen.


Das wird durch einen weiteren Aspekt verschärft, der nicht nur die Finanzierbarkeit staatlicher, sondern auch familiärer Altersversorgung in Frage stellt: Das Verhältnis der Anzahl an Personen im „arbeitsfähigen“ Alter (also von 15 bis 64 Jahren) und der Anzahl an älteren Personen (also ab 65 Jahren) wird sich erheblich verändern. Es liegt derzeit in Globo bei ca. 9 zu 1 (also 9 arbeitsfähigen Menschen, die einem nicht mehr arbeitsfähigen Menschen gegenüber stehen), soll aber bis 2050 auf 4 zu 1 sinken. Noch viel prekärer wird diese Situation im Weiler Europa, wo dieses Verhältnis schon heute nur noch 5 zu 1 beträgt und bis 2050 auf 2 zu 1 sinken wird. Dazu kommt noch, dass ja nicht nur die Altersversorgung finanziert, sondern auch eine teils beträchtliche Zahl an Kindern erhalten werden muss, und dass zudem „arbeitsfähig“ zu sein noch lange kein Einkommen bedeutet (gar nicht zu reden davon, ob es angemessen wäre, worauf spätestens im Kapitel 6 zurückzukommen sein wird).

Dabei stellt sich schließlich noch eine Frage, die ins nächste Kapitel überleitet. Es ist nicht nur interessant, wie Menschen trotz unterschiedlicher kultureller und religiöser Hintergründe miteinander auskommen und wie sie – vor allem zwischen den Generationen – füreinander aufkommen, sondern natürlich auch, wie viele Menschen Globo eigentlich verkraften kann. Dazu gibt es über die Jahrhunderte viele Berechnungen, von denen einige bereits widerlegt sind (weil schon heute deutlich mehr Menschen in Globo leben, als einst für maximal möglich gehalten wurde) und andere demnächst den Härtetest erfahren. Freilich diskutieren die wenigsten dieser Schätzungen auch die unverzichtbare Zusatzfrage: Wie viele auf welchem Niveau? Auf dem niedrigen Niveau der ärmeren Teile des Dorfes sind erheblich mehr möglich als auf dem Niveau der reichen, wobei damit aber noch nichts über die Nachhaltigkeit dieser Lebensstile ausgesagt sein soll. Der bereits erwähnte Dennis Meadows bezog in einem aktuellen Interview zum Klimawandel auch zu dieser Frage Stellung: „Es wird zwar eifrig diskutiert, was man gegen den Klimawandel tun kann, aber Bevölkerungswachstum und Lebensstandard werden nicht angerührt. So, als brauchten wir eine Lösung des Klimaproblems, die Reichen erlaubt, ihren Lebensstandard zu halten, und Armen erlaubt, zu den Reichen aufzuschließen. Das ist pure Fantasie. Das wird nie passieren.“39

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9783950278637
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