André Graf
Zeitenwende
Sieben Tage und eine Ewigkeit
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Prolog
Der erste Tag
Der zweite Tag
Der dritte Tag
Der vierte Tag
Der fünfte Tag
Der sechste Tag
Der siebte Tag
Die Ewigkeit
Epilog
Impressum neobooks
»Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod, Herr Cutter?«, fragte der Reiseführer mit ruhiger Stimme.
»Ich bin noch nicht einmal sicher, ob ich an ein Leben vor dem Tod glaube«, antwortete Cutter instinktiv und scheinbar zynisch, ohne auch nur einen Moment überlegt zu haben.
Eine Sekunde später hätte er sich dafür ohrfeigen können. Prometheus hatte ihn mit seiner unerwarteten Frage so überrascht, dass er eine vorschnelle, viel zu persönliche Antwort gegeben hatte, die Prometheus nur falsch interpretieren konnte. Weder wollte er bestreiten, dass es ein Leben nach dem Tod gab, noch die Existenz der Menschheit als solche in Frage stellen. Natürlich hing der Tod letztlich mit der Frage nach der Körperlichkeit des Lebens zusammen, war es doch unbestreitbar, dass unser Körper nur für eine begrenzte Zeitspanne geschaffen war. Doch der Tod, wie auch das Leben selbst, setzte neben der Körperlichkeit noch etwas Weiteres voraus: die Zeit. Seit dreißig Jahren befasste sich Cutter als Physiker mit dem Phänomen von Raum und Zeit, doch erst vor gut zwölf Jahren hatten seine Frau Jennifer und er begonnen, an der Dimension Raum, wie die Menschen sie zu kennen glaubten, zu zweifeln. Da Raum und Zeit untrennbar miteinander verbunden waren, war es nicht überraschend gewesen, dass sie kurze Zeit später auch die Beschaffenheit der Zeit in Frage gestellt hatten. Diese Zweifel waren zur schmerzhaften Gewissheit geworden, als Jennifer starb. Seit jenem Ereignis lag er nachts oft wach im Bett und überlegte, wo die Seele seiner Frau sich in diesem Moment wohl befinden mochte und in welcher Form Jennifer weiterexistierte. Diese Fragen waren bis heute offengeblieben, war es ihm doch nie gelungen, sie befriedigend und widerspruchsfrei zu beantworten, weil er Jennifer sein Wort gegeben hatte, den letzten, entscheidenden Schritt nicht zu Ende zu führen, den er mit ihr begonnen und den seine Frau mit dem Leben bezahlt hatte.
»Eine gute Antwort, die vieles – wenn nicht alles – offenlässt«, sagte Prometheus mit einem kaum sichtbaren Lächeln um die Lippen. Er war offensichtlich mit der Antwort zufrieden. Elegant wechselte er das Thema und plauderte über eine Belanglosigkeit, die in fast schmerzhaftem Kontrast zu der eben gestellten Frage stand.
Die Sekundenzeiger der fünf Uhren in der Lobby des Münchner Luxushotels liefen synchron. Man glaubte, das Ticken der lautlosen Uhrwerke hören zu können. Man glaubte fühlen zu können, wie die Zeit verstrich, ohne eine Spur zu hinterlassen. Und doch änderte sich mit jeder Sekunde der Zustand in der Lobby. Dieser Vorgang war so selbstverständlich, dass sich keiner der Menschen in diesem Hotel darüber Gedanken machte. Es war ein uraltes, einfaches Gesetz: Die Zeit schreitet unaufhaltsam in die gleiche Richtung, die Zukunft, voran, und der Zustand unserer Umgebung verändert sich im Laufe der Zeit.
Auch wunderte sich keiner der Hotelgäste darüber, dass an der Wand neben der Rezeption nicht nur eine, sondern gleich fünf Uhren angebracht waren und dass jede von ihnen eine andere Zeit anzeigte. Die mittlere zeigte die Lokalzeit in München an, 8 Uhr 56, die beiden Uhren rechts von ihr die Uhrzeit in Singapur beziehungsweise Peking und die beiden links von ihr jene von New York beziehungsweise San Francisco.
Jedem Reisenden des 21. Jahrhunderts, ob Tourist oder Geschäftsmann, sind die Zeitzonen ein Begriff. Reist er nach Osten, so muss er seine Uhr, am Bestimmungsort angekommen, vorstellen – schließlich geht die Sonne ja im Osten auf. Reist er nach Westen, so stellt er sie dementsprechend zurück. Wir alle kennen dieses alltägliche Phänomen, das noch Alexander dem Großen, der mit seinem Heer bis nach Indien vorstieß, ebenso fremd gewesen ist wie Dschingis Khan, der durch die Steppen Asiens bis nach Europa zog, oder Kolumbus, der den Atlantischen Ozean durchsegelte.
Doch kennen bedeutet nicht zwangsläufig verstehen. Auch heute, zu Beginn des 3. Jahrtausends, verstehen die meisten Menschen das Phänomen Zeit noch immer nicht viel besser als ihre Vorfahren vor einigen Jahrhunderten oder Jahrtausenden. Bereits die Frage nach der Datumsgrenze überfordert viele von uns. Und seit am Anfang des 20. Jahrhunderts ein gewisser Albert Einstein eine neue Theorie postulierte, die als »Spezielle Relativitätstheorie« in die Wissenschaftsgeschichte einging, ist die Zeit endgültig zu etwas schwer Verständlichem geworden. Dieser erst vor etlichen Jahrzehnten entdeckte Aspekt der Zeit wird noch von viel weniger Menschen verstanden als das Phänomen der Datumsgrenze. Und selbst viele von denen, die begriffen haben, dass die Natur – und dort vor allem Raum und Zeit – anders funktioniert, als es die Wissenschaft jahrhundertelang gelehrt hat, haben große Mühe, sich die wirkliche Beschaffenheit von Raum und Zeit vorzustellen, erscheint sie uns doch so fremd, so ungeheuerlich, dass sie die Vorstellungskraft der meisten Menschen übersteigt. Nur wenige verstehen, dass jedes Objekt – ob lebend oder tot – seine eigene persönliche Uhr bei sich trägt, die durchaus nicht gleich schnell laufen muss wie die Uhren der anderen Lebewesen oder Objekte. Natürlich sind diese Abweichungen im täglichen Leben des 21. Jahrhunderts absolut irrelevant, denn selbst die Uhr eines europäischen Geschäftsmannes, der einen beträchtlichen Teil seines Lebens bei großen Geschwindigkeiten in Flugzeugen verbringt, weicht von jener eines asiatischen Bauern, der sich noch nie schneller als mit der Geschwindigkeit eines von Wasserbüffeln gezogenen Wagens fortbewegt hat, nur um einige Milliardstel einer Sekunde ab. Erst bei Geschwindigkeiten, die die Möglichkeiten der Menschen dieses Jahrhunderts weit übersteigen, würde es zu relevanten Unterschieden zwischen den verschiedenen, ganz persönlichen Uhren kommen.
Jonathan Cutter, der mit seiner Tochter Joanne in der Lobby des Münchner Luxushotels saß, hatte den Uhren den Rücken zugewandt. Cutter verstand im Gegensatz zu allen anderen Gästen des Hotels die Bedeutung der Relativitätstheorie. Mehr noch, er verstand sogar bis ins Detail die Zusammenhänge zwischen der Relativitätstheorie und der Quantentheorie, die wiederum zur Postulierung der Superstringtheorie und später zur M-Theorie geführt hatten. Dieses Wissen machte ihn zum Mitglied eines sehr kleinen und sehr exklusiven Clubs von Menschen, die in der Lage waren, die unglaubliche Beschaffenheit von Raum und Zeit zumindest annähernd zu verstehen, während die meisten Menschen schon mit einer der Theorien hoffungslos überfordert waren – was nicht weiter verwunderlich war, hatte doch selbst Albert Einstein, der Begründer der Relativitätstheorie, viele Aspekte der Quantenmechanik vehement abgelehnt und mit immer neuen Experimenten zu beweisen versucht, dass die Aussagen der Quantenmechanik falsch waren. Einsteins Pech war nur, dass die Resultate seiner Experimente den Aussagen der Quantenmechanik nur auf den ersten Blick widersprachen. Auf den zweiten Blick standen sie alle in völliger Übereinstimmung mit den quantenmechanischen Vorhersagen. Da half es auch wenig, dass Einstein den Quantenmechanikern seinen berühmten Ausspruch »Gott würfelt nicht!« entgegenschleuderte. Denn Einstein wusste genau, dass Gott nicht als Zeuge in diesem wissenschaftlichen Streit angerufen werden konnte. Ob Gott ein Spieler war oder nicht, ob er die Welt in dieser oder einer anderen Art geschaffen hatte, war Stoff für die Theologen, nicht die Physiker. Die Naturwissenschaftler hatten nur die Aufgabe, die Naturgesetze so zu beschreiben, wie sie sich den Menschen offenbarten.
Joanne hatte sich eng an ihren Vater geschmiegt und schlief, während Jonathan Cutter, die Augen halb geschlossen, seinen Gedanken nachhing. Er dachte nicht über Aspekte der Zeit oder des Raumes nach, sondern über die Ferien, die vor ihnen lagen und die ihnen drei unbeschwerte Wochen in Europa, der Heimat seiner Vorfahren, bescheren sollten. Dass in diesem Moment das Schicksal eine andere Wendung nahm, ahnte Cutter nicht; zu friedlich und alltäglich hatte der Morgen in diesem Luxushotel begonnen.
*
Auch einem aufmerksamen Beobachter wären die beiden Hotelgäste kaum aufgefallen. Der knapp fünfzigjährige Mann mit dichtem, leicht ergrautem, kurz geschnittenem schwarzem Haar und einem ebenso dichten, dunkelschwarzen Schnurrbart, der sich von dem eher blassen Gesicht abhob, saß entspannt auf dem schwarzen Ledersofa. Er trug sportliche, farblich perfekt aufeinander abgestimmte Kleidung, die es nur in den exklusivsten Boutiquen zu kaufen gab. Er war von durchschnittlicher Statur, doch machte sein Körper einen durchtrainierten Eindruck. Das einzig wirklich Auffällige an ihm waren seine großen, schaufelförmigen Hände, die nicht zu seinem ansonsten schlanken Körper passten.
Der zierliche Teenager neben ihm mochte siebzehn Jahre alt sein und war – die Ähnlichkeit zwischen den beiden ließ keinen Zweifel zu – die Tochter des Mannes. Sie hatte ein hübsches Gesicht mit leicht hervorstehenden Backenknochen, das nur dezent geschminkt war. Ihre langen, dunkelblonden Haare waren zu einem Knoten zusammengesteckt. Sie trug ebenfalls teure, wenngleich unauffällige Sportkleidung, die farblich auf die ihres Vaters abgestimmt war. Ihr Gesicht strahlte Ruhe und Geborgenheit aus. Sie schien sich in den Armen ihres Vaters wohl und sicher zu fühlen.
Neben dem Sofa stapelten sich einige Koffer, die darauf schließen ließen, dass die beiden Gäste auf einen Wagen warteten, der sie zu ihrer nächsten Destination bringen sollte.
Es gab für den imaginären Beobachter keinen Hinweis darauf, dass sich das Schicksal dieser beiden Personen vor einem gewaltigen Umbruch befand, dass sie bald in einen Sog geraten sollten, aus dem ein Entrinnen unmöglich war.
Hätte es jemanden gegeben, der in der Lage gewesen wäre, diesen Sog wahrzunehmen, so hätte er den Zustand der beiden mit jenem eines Schwimmers verglichen, der sich träge von der Strömung eines Flusses dahintreiben lässt. Er würde bemerken, wie diese Strömung allmählich stärker wurde, den Schwimmer erfasste und ihn nicht mehr losließ. Der ahnungslose Schwimmer – so würde der Beobachter feststellen – wurde unaufhaltsam auf einen Wasserfall zugetrieben, der ihn ins Verderben reißen würde. Doch noch immer realisierte der Schwimmer nichts von der Gefahr, die langsam und völlig lautlos auf ihn zukam. Der Beobachter wusste längst, dass es für den Schwimmer kein Entrinnen mehr gab, bevor jener auch nur bemerkt hatte, dass er sich auf einen Wasserfall zubewegte.
Im Gegensatz zu der sichtbaren Dynamik eines Flusses war an diesem ruhigen Morgen nichts von einer Strömung zu bemerken, die den beiden Hotelgästen zum Verhängnis werden könnte. Trotzdem war sie vorhanden – doch keiner der fünf menschlichen Sinne konnte sie wahrnehmen.
Jonathan Cutter und seine Tochter wurden unaufhaltsam und mit zunehmender Geschwindigkeit von einer mächtigen Strömung weggetragen, die die Menschen Zeit nannten. Doch die Zeit, so der Glaube der Menschheit, war ein langsamer, gleichmäßiger Fluss, in dem keine plötzliche Strömung, kein Wasserfall existieren durfte. Ein unsteter Fluss der Zeit widersprach jeder Logik.
War der Weg der beiden von einer höheren Macht vorbestimmt, oder waren es nur scheinbare Kleinigkeiten, die die beiden Menschen – vorerst nur leicht, dann immer stärker, immer schneller – von der vorbestimmten Lebensbahn abbrachten?
Gewiss war, dass kein plötzlicher Schicksalsschlag die beiden treffen sollte, kein einschneidendes, einmaliges Ereignis, das seine unauslöschlichen Spuren in ihrem Leben hinterlassen würde. Nein, der Lauf ihres Schicksal wurde von drei unscheinbaren Dingen bestimmt: einem defekten Handy, einer Ecstasy-Tablette und Joannes Jetlag.
*
Jonathan Cutter hatte die Überreste seines Handys am Morgen achtlos in den Koffer geworfen. Seine Sekretärin hatte ihn angerufen, als er gerade unter der Dusche gestanden war. Platschnass war er aus der Dusche gesprungen, dabei auf dem glitschigen Boden beinahe ausgerutscht, hatte gerade noch rechtzeitig das Handy geschnappt, bevor die Sekretärin wieder auflegte. Nach einem kurzen Gespräch wollte er das Handy beiseitelegen, wobei es ihm aus den feuchten Händen rutschte, auf dem Marmorboden des Bades aufschlug und in zwei Teile zerbrach.
So erreichte der Anrufer, der in diesen Minuten mehrere Male versuchte, Cutter zu sprechen, nur dessen Anrufbeantworter. Er hinterließ eine Nachricht, von der er nicht ahnte, dass Cutter sie nie abhören sollte.
Sandra fühlte sich elend. Sie hatte nur knappe zwei Stunden geschlafen, bevor sie am frühen Morgen ihren Dienst angetreten hatte. Ihr Freund hatte ihr um Mitternacht eine dieser Tabletten aufgedrängt, von denen sie genau wusste, dass sie ihr eine süße Nacht und einen höllischen Tag bescheren würden. Sie hatte sich anfänglich geweigert, schließlich aber seinem Drängen nachgegeben, die rotgrüne Tablette mit einem Wodka hinuntergespült und war dann ihrem Freund auf die Tanzfläche gefolgt.
Längst hatte die Wirkung der Tablette nachgelassen, obwohl ihr Arbeitstag hinter der Theke der Rezeption erst vor kurzem begonnen hatte. Jetzt dröhnte ihr Kopf, und als das Telefon läutete, schrillte es in ihren Ohren wie eine alles durchdringende Alarmanlage, die direkt neben ihr ausgelöst worden war.
»Ja?«, fauchte sie unwirsch in den Hörer. Dieses Verhalten hätte ihr augenblicklich eine scharfe Rüge ihres Vorgesetzten eingebracht, doch zum Glück hatte dieser ihren rüden Ton nicht bemerkt, da er gerade mit zwei übergewichtigen, grell geschminkten Engländerinnen beschäftigt war, die sich ebenso empört wie lauthals über den schlechten Zimmerservice beschwerten.
Sandra verstand die Stimme kaum, die aus dem Hörer drang. Neben dieser einen Stimme, die beinahe ihr Trommelfell zum Platzen brachte, drängten sich hundert verzerrte Echos durch die Leitung, und Sandra war sicher, dass noch mindestens zwei weitere Stimmen, wiederum begleitet von unzähligen Echos, völlig überflüssigerweise die gleiche Frage stellten. Nein, eigentlich stellten sie die Frauge nicht, sie brüllten sie durch das Telefonkabel direkt in Sandras Ohr.
Sie musste sich schon konzentrieren, um die Frage überhaupt zu verstehen. Sie zu beantworten bedurfte einer ungleich größeren Anstrengung. Ja, sie erinnerte sich daran, heute morgen einen Kunden namens Custer bedient zu haben. Er hatte, begleitet von seiner großen, hässlichen, spindeldürren Frau, ein Taxi zum Flughafen genommen.
»Er ist bereits abgereist«, sagte sie deshalb mit belegter Stimme.
»Sind Sie sicher, dass Herr Cutter nicht mehr in der Lobby wartet?«, insistierten die hundert Stimmen am anderen Ende der Leitung. Eine der Stimmen dröhnte dabei derart laut in ihr Ohr, dass sie beinahe den Hörer hätte fallen lassen.
Es hätte nur einiger klärender Worte bedurft, um das Missverständnis zu beseitigen. Sandra hätte den Namen des Gesuchten wiederholen können, dann hätte ihr Gesprächspartner sofort bemerkt, dass sie von einem gewissen Custer sprach und nicht von Herrn Cutter, nach dem er gefragt hatte. Sie hätte auch erwähnen können, dass der Gesuchte mit seiner Frau reiste, oder dass er ein Taxi zum Flughafen genommen hatte. Jede dieser Bemerkungen und viele andere hätten ausgereicht, ihrem Gesprächspartner und sehr rasch auch ihr selbst die Verwechslung aufzuzeigen. Doch Sandras Kopf pochte und die lauten, grellen Stimmen aus dem Telefonhörer bereiteten ihr noch mehr Schmerzen, als sie ohnehin schon hatte. Sie hatte nicht die geringste Lust, lange Erklärungen abzugeben und damit das Martyrium des Gesprächs zu verlängern.
So bedankte sich der Anrufer leicht verwirrt und unterbrach die Verbindung. Er dachte kurz nach und wählte dann die Nummer seines Vorgesetzten, um ihn über die Schwierigkeiten, mit denen er konfrontiert war, zu informieren. Wohl hatte er vor wenigen Minuten eine Nachricht auf Cutters Handy hinterlassen, doch wann würde der Kunde diese Nachricht abhören? Bis dahin würde er vergeblich auf seine Limousine warten und sich dann bestimmt sehr verärgert bei ihnen beschweren. Cutter war ein VIP-Gast. Sein Vorgesetzter würde gar nicht erfreut sein, wenn er gerade mit diesem Kunden Ärger bekam. Doch was sollte er tun? Der Wagen war kurzfristig ausgefallen. Es würde mindestens eine Stunde dauern, bis der Ersatzwagen im Hotel eintraf. Sollte der Chef doch selbst versuchen, diesen Cutter zu erreichen.
Sandra blickte in die Lobby. »Cutter!«, fuhr es ihr durch den Kopf, als sie den Mann und seine Tochter neben ihren Koffern auf einem der Sofas sitzen sah. »Der Kerl hat Herrn Cutter gesucht!«
Sie wollte zu Cutter gehen, um ihn über den Anruf zu informieren, wurde jedoch von zwei Franzosen aufgehalten, die sich wort- und gestenreich nach dem kürzesten Weg zum Bahnhof erkundigten. Als sie den beiden den Weg auf ihrem Stadtplan eingezeichnet hatte, hatte sie Cutter und den Anruf schon längst wieder vergessen. Der nächste Gast wartete bereits ungeduldig am Empfangstresen, und ihr Chef warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu, weil sie nicht auf ihrem Posten war.
Und Joanne schlief. Sie waren erst gestern von Montreal nach Deutschland geflogen. Ihre innere Uhr ging noch nach kanadischer Zeit. Der Jetlag hatte sie fest im Griff. Wäre sie wach gewesen, so hätte sie ihren Vater vielleicht vor dem Mann gewarnt, der eben zielstrebig auf ihn zuging. Ob er ihre Warnung beachtet hätte? Vermutlich schon. Immer öfter hörte er auf ihre Eingebungen, auch wenn er sich manchmal noch dagegen sträubte, obwohl er oft genug Zeuge von Ereignissen geworden war, die ihn veranlasst hatten, nicht von vornherein auszuschließen, dass seine Tochter tatsächlich in vielen Lebenslagen über Fähigkeiten verfügte, die mit den bekannten physikalischen Gesetzen nicht erklärt werden konnten. Er musste dafür nicht einmal an eine Reise nach Mexiko denken, die sie vor einigen Jahren zusammen unternommen hatten.
Doch Joanne schlief, und der Mann kam unaufhaltsam durch die beinahe leere Lobby auf ihren Vater zu.
Waren es also nur drei Zufälle, die das Leben dieser beiden Menschen aus seiner geordneten Bahn drängten? Jonathan Cutter hätte auf diese Frage eine passende Antwort gewusst: Er hätte sie verneint, hätte sich vielleicht an eine Diskussion erinnert, die er Jahrzehnte zuvor in einem Kreis junger Studenten im Beisein des gestrengen Professors O’Hara geführt hatte und in der er dem Zufall jegliche Bedeutung abgesprochen hatte.
*
Ben, der muskelbepackte, hünenhafte Mathematikstudent aus Nebraska, sah aus, als ob er sich jeden Moment auf Cutter stürzen wollte.
»Du bist so was von halsstarrig!«, brüllte er mit funkelnden Augen. »Nicht einmal theoretisch wird es dir möglich sein, die Zukunft aufgrund der Eigenschaften der Materie und der Naturgesetze vorherzusagen. Einer der Gründe dafür ist sehr simpel und stammt von den Vertretern deiner Gattung, den Physikern. Wie du vielleicht weißt« – Ben legte genüsslich eine rhetorische Pause ein – »gibt es im Weltall sogenannte Schwarze Löcher, die alles in sich aufsaugen, was in ihre Nähe kommt, und aus denen nichts wieder herausgelangen kann. Da also dem Gesamtsystem laufend Masse und Energie entzogen wird, ist es absolut unmöglich vorherzusagen, wie sich das Gesamtsystem zu einem bestimmten Zeitpunkt X verhalten wird.« Ben grinste Cutter breit an und tippte ihm gegen die Stirn. »Das solltest du eigentlich wissen, großer Physiker. Ich hoffe zumindest, du hast schon etwas von Schwarzen Löchern gehört, Meister. Ich fürchte fast, auch dein Hirn ist so etwas wie ein Schwarzes Loch: Vieles geht rein, aber nichts Gescheites kommt mehr raus.«
Ben hatte die Lacher auf seiner Seite. Die anderen Studenten im Kreis – die meisten von ihnen studierten Philosophie oder andere geisteswissenschaftliche Fächer – genossen die Auseinandersetzung zwischen dem Mathematiker und dem Physiker. Sie waren immer wieder überrascht, wie grundlegend verschieden die Denkweisen dieser beiden verwandten Disziplinen zu sein schienen.
Die Lacher waren jedoch nicht gegen Cutter gerichtet; sie waren Ausdruck einer beinahe kindlichen Freude an harten intellektuellen Auseinandersetzungen.
Professor O’Hara, der diesen Zirkel leitete, hatte sie dazu angespornt. »Wie die jungen Löwen spielerisch den Kampf und die Jagd lernen, wenn sie miteinander herumtollen, so sollt ihr hier die harte wissenschaftliche Diskussion einüben, damit ihr gewappnet seid, wenn ihr euch eines Tages allein gegen eure dummen, jedoch ebenso skrupel- wie rücksichtslosen und einflussreichen Feinde im wissenschaftlichen Dschungel verteidigen müsst.«
Cutter hatte also keinen Anlass, bei seinem Gegenangriff besonders rücksichtsvoll zu sein. »Mein lieber Ben«, begann er deshalb sarkastisch, »vor einigen Monaten erst hast du mich daran gehindert, Professor O’Hara zu erschießen. Ich habe dir diese Dummheit noch nicht verziehen, und schon begehst du die nächste.«
Jetzt hatte Cutter die Lacher auf seiner Seite. Keiner der Anwesenden hatte Cutters Attentat auf ihren Professor vergessen.
»Es war tatsächlich der kluge Hawking«, fuhr Cutter fort, nachdem das Gelächter verstummt war, »der die Theorie aufgestellt hat, dass nichts aus einem Schwarzen Loch entweichen kann. Keine Materie, keine Energie. Nichts. Es scheint jedoch leider noch nicht in die Welt der Mathematiker vorgedrungen zu sein, dass Hawking inzwischen diesen Aspekt seiner Theorie über die Schwarzen Löcher widerrufen hat.«
Cutter genoss den Moment des Triumphes und überlegte gleichzeitig, wie er den Zuhörern, die weder Physiker noch Mathematiker waren, dieses Phänomen erklären sollte.
»Stellt euch vor, ihr macht im Garten eine Grillparty. Ihr zündet die Holzkohle im Grill an und bratet eure Steaks. Nachdem ihr fertig gegessen habt, betrachtet ihr den Grill aus einer Distanz von einigen Metern. Ihr bekommt dabei den Eindruck, dass die Holzkohle erkaltet ist. Geht ihr jedoch näher zum Grill hin und haltet die Hand ganz nahe über die Holzkohle, so spürt ihr die Wärme, die sie noch immer ausstrahlt. Sie glimmt beinahe unsichtbar.«
Cutter hielt einen Moment inne, bevor er auf den entscheidenden Punkt zu sprechen kam. »Genauso müsst ihr euch ein Schwarzes Loch vorstellen. Zuerst haben wir Physiker geglaubt – genauso wie Ben, unser Mathematikgenie, es noch heute tut –, dass nichts aus einem Schwarzen Loch entweichen kann. Doch wir wissen nun, dass das nicht stimmt. Wie eure Holzkohle, so glimmen auch die Schwarzen Löcher und emittieren dabei Materie und Energie.«
Nach einer erneuten kurzen Pause fuhr er fort: »Ihr seht also, meine Theorie ist durch Bens Einwand nicht entkräftet. Ich wiederhole: Wenn es einem Menschen – mit einem unbegrenzt leistungsfähigen Computer und der Kenntnis über die Beschaffenheit der Naturgesetze ausgestattet – möglich gewesen wäre, nur wenige Sekunde nach dem Urknall alle Teilchen zu katalogisieren, die es damals gab, so könnte er exakt die Zukunft vorhersagen. Er hätte also bereits damals, vor rund 14 Milliarden Jahren, gewusst, dass wir heute hier zusammensitzen und dass unser lieber Ben eine absolut idiotische Behauptung aufstellen würde.«
Cutter wurde von lautem Gelächter unterbrochen.
»Stopp!«, rief Ben in die Runde und brachte mit diesem einen energischen Wort die Lacher zum Schweigen. Ben glaubte, dass Cutter mit diesen Ausführungen den entscheidenden Fehler gemacht hatte. Er fuhr deshalb triumphierend fort: »Ihr müsst wissen, dass Jonathan ein glühender Vertreter einer Denkrichtung ist, die sich immer mehr Kritikern gegenübersieht: der Quantenmechanik. Als solcher hat er allerdings ein gewaltiges Problem, denn schließlich besagen gerade deren Gesetze, dass der Zufall regiert. Ja, die Väter der Quantenmechanik haben gewissermaßen den Zufall zum Gott erklärt. Sie haben Wissenschaftler, die die Vorhersagbarkeit von Ereignissen postuliert haben, scharf angegriffen. Newton wurde ebenso gnadenlos attackiert wie Einstein; beide hatten eine etwas mechanistische Vorstellung von den Naturgesetzen, während die Quantenmechaniker der Ansicht sind, dass nicht einmal Position und Geschwindigkeit eines Elementarteilchens gleichzeitig bestimmt werden können.«
An Jonathan gewandt fuhr er fort: »Wenn schon das nicht möglich ist, wie willst du dann irgendwelche präzisen Vorhersagen machen? Unser großer Jonathan Cutter will uns weismachen, dass er die Zukunft vorhersagen kann, obwohl er uns nicht einmal sagen kann, wo sich ein bestimmtes Elementarteilchen zu einem vorgegebenen Zeitpunkt befindet.«
Alle Augen richteten sich gespannt auf Cutter. Die meisten der Anwesenden hatten den Eindruck gewonnen, dass Ben mit seinem Argument die Schlacht für sich entschieden hatte.
Doch Cutter blieb ganz ruhig, auch wenn er genau wusste, dass dieses Argument nicht nur die Schlacht, sondern den ganzen Krieg zwischen ihnen entscheiden konnte, denn Ben hatte in diesem einen Punkt absolut recht. Jeder ernstzunehmende Quantenphysiker konnte ihm nur zustimmen. Doch Cutter hatte zu diesem Thema seine eigene Meinung, hatte sich seine eigenen Überlegungen gemacht. Es war für einen Stundenten im dritten Jahr sehr gewagt, einen von der Lehrmeinung abweichenden Standpunkt einzunehmen, vor allem in einer derart zentralen Frage; trotzdem tat er es, nicht nur in diesem Kreis, sondern – ungeachtet aller Widerstände und offenen Anfeindungen – auch gegenüber seinen Professoren.
Cutter zeigte zum geöffneten Fenster hinaus, durch das der blaue Himmel zu sehen war, an dem nur einige wenige, helle Wolken die Strahlen der milden Frühlingssonne davon abhielten, bis zur Erdoberfläche vorzudringen.
»Keiner von uns fürchtet sich davor, dass in diesem Moment plötzlich ein Blitz vom Himmel fahren und uns hier alle erschlagen könnte. Trotzdem ist die Wahrscheinlichkeit für ein solches Ereignis nicht gleich null. Diese Wahrscheinlichkeit ist jedoch selbst nur die Summe der Wahrscheinlichkeiten für den Zustand jedes einzelnen Teilchens in der Atmosphäre. Obwohl wir die exakten Zustände all dieser Teilchen zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht kennen, ist es uns doch möglich, den Gesamtzustand der Atmosphäre zu beschreiben.
Genauso ist es bei meinem Beispiel: Auch wenn ich den Zustand jedes Teilchens nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit beschreiben kann, ist es mir doch möglich, den Zustand des ganzen Systems exakt zu beschreiben und folglich die Zukunft vorherzusagen. Viele Wissenschaftler verwechseln, genauso wie unser lieber Ben es tut, Wahrscheinlichkeit mit Unsicherheit. Doch sind das nur Narren, von denen wir uns nicht beeinflussen lassen sollten. Fazit ist«, fasste er mit einem breiten Lachen zusammen, »dass es keine Zufälle gibt. Alles ist vorherbestimmt. Euer Schicksal liegt nicht in euren Händen, es ist bereits vor vierzehn Milliarden Jahren besiegelt worden.«
Dann wurde Cutter ernst. Er ergriff die Hand von Jennifer, die rechts von ihm saß, und drückte sie kräftig, ja er klammerte sich an ihr fest, als er mit beinahe religiöser Andacht fortfuhr: »Doch etwas macht diese Berechnungen noch komplizierter, als sie ohnehin schon sind, ja, ich möchte beinahe Ben zustimmen und es aufgrund der unglaublichen Größe dieser Herausforderung als unmöglich bezeichnen, dass es dem Menschen je gelingen könnte, die Zukunft vorherzusagen – was jedoch natürlich nicht heißt, dass die Zukunft nicht doch vorbestimmt ist. Uns fehlt noch das Wissen über unzählige Elementarteilchen, von deren Existenz wir wohl ausgehen, die wir jedoch nicht oder noch nicht direkt nachgewiesen haben. Gibt es die dunkle Materie wirklich? Existieren die Gravitationswellen tatsächlich, die Einstein vorhergesagt hat? Diese und Dutzende anderer Fragen müssen zuerst beantwortet werden, bevor wir auch nur daran denken dürfen, den Ablauf von Raum und Zeit vorherzusagen.« Cutters Stimme klang noch belegter, als er schloss: »Auch wenn wir glauben, die wichtigsten zentralen Prozesse sowohl im ganz Großen des Universums als auch im ganz Kleinen der Elementarteilchen zu verstehen, so müssen wir doch zugeben, dass es in der Natur noch unzählige Vorgänge gibt, die uns vor scheinbar unlösbare Rätsel stellen. Wir sind wie Ameisen, die versuchen, globale Prozesse zu verstehen.« Diese Aussage hatte etwas Religiöses, Erhabenes an sich. Ehrfurcht lief Cutter wie kalter Schweiß den Rücken hinunter, und nur Jennifers Hand, die er immer fester drückte, hinderte ihn daran, zu erschaudern.
O’Hara zerstörte Cutters Hochgefühl jäh, als er das Wort ergriff. »Ich ziehe gerne die Erkenntnisse fremder Disziplinen in unsere philosophischen Überlegungen mit ein. Darum schätze ich die Anwesenheit Jonathans als Vertreter der Physik in unserem kleinen Kreis sehr. Doch leider legt unser junger Freund immer wieder ein sehr eindimensionales Denken an den Tag. Zahlen, Formeln, Wahrscheinlichkeiten prägen sein Denken. Dabei geht oft der Blick fürs Ganze verloren. Anstatt auf Jonathans Argumente einzugehen, möchte ich lieber einen Aspekt der Hirnforschung in Erinnerung rufen, der besagt, dass zum Beispiel die für Handbewegungen zuständige Hirnregion einige Zehntelsekunden vor der eigentlichen Bewegung der Hand erhöhte Aktivitäten zeigt. Ist diese Erkenntnis ein Hinweis darauf, dass unsere Handlungen vorbestimmt sind?«