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Entführt

Als ich am nächsten Morgen aufwache, ist es dunkel. An Dunkelheit bin ich gewöhnt, aber jetzt ist es so dunkel, dass ich meine Hand vor Augen nicht sehe. Das Apartment, in dem ich mit Sid lebe, ist eiskalt. Zitternd steige ich aus meinem Bett und taste mich zum Fenster vor. Auch die Straße vor dem Haus liegt in vollkommener Dunkelheit. Hier und da sehe ich einzelne Lichtflecken aufblitzen – Led-Stabs, die von Magnatec verteilt werden, wenn mal wieder nicht genügend Energie übrig ist, die Straßen zu beleuchten. Unser Viertel ist eines der Ärmsten – wenn Magnatec Energie sparen muss, werden bei uns zuallererst die Energielieferungen eingestellt.

Ich schätze, Magnatec hat mal wieder die täglichen sechs Stunden, in denen uns Energie zugesichert ist, auf fünf Stunden herunter gesetzt. Heute ist Samstag, ich werde es also vor Montag nicht erfahren.

Leise fluche ich vor mich hin, als ich mir den großen Zeh an meinem Schrank stoße, und suche im Regal nach meinem Led-Stab. Als ich ihn gefunden habe, gehe ich ins Badezimmer, um mich zu waschen und in meine schwarze Hose und meinen Pullover zu schlüpfen. In der Wohnung ist es eiskalt, weil auch die Wärmeeinheiten nur mit Energie laufen. Ich überlege es mir anders und ziehe unter den Pullover noch ein enges Top. Mit dem Led-Stab leuchte ich in den Spiegel und begutachte kritisch mein Gesicht. Ich bin blass, habe dunkle Ringe unter den Augen, und mein langes rotes Haar umrahmt glanzlos mein müdes Gesicht. Ich will hübsch sein für Ash. Er soll mir die Armut nicht ansehen.

Entschlossen greife ich zu Make-up und Lippenstift. Normalerweise schminke ich mich nur wenig oder überhaupt nicht, doch heute – das sehe ich ein – ist es nötig.

Unzufrieden schlüpfe ich in die Stiefel mit den hohen Absätzen. Mutanten sind groß, und ich reiche Ash ohnehin kaum bis zur Brust.

Betont laut trete ich mit den Stiefelabsätzen auf, als ich in die Küche gehe. Mit dem Led-Stab leuchte ich Sid ins Gesicht. Er ist mit dem Kopf auf dem Küchentisch eingeschlafen und schnarcht leise. Es tut mir weh, ihn so zu sehen. Wieder einmal hat er gestern Abend den Weg ins Bett nicht mehr gefunden. Den findet er nie, wenn er aus dem Tenfathers kommt. Mein kleiner Bruder ist zu einem Blutjunkie geworden! Mutantenblut verursacht Rauschzustände; und viele Mutanten fühlen sich sicherer, wenn sie ihren Spender von sich abhängig machen. Wer sich darauf einlässt, hat den Schritt in die Hölle getan. Mutanten lieben Blut- und Sexsklaven. Die einzige Gerechtigkeit ist, dass sie sich nicht fortpflanzen können. Nicht auf natürlichem Weg!

Ich versuche mir vorzustellen, was Angel mit meinem Bruder tut. Ich weiß, dass er einen Vertrag mit der Mutantin hat. Ihr Zeichen auf seiner Hand zeigt zwei gespannte Flügel. Ich muss wieder an Ash denken und daran, wie viel Glück ich habe.

Sid versucht, den grellen Strahl des Led-Stab mit der Hand fortzuwischen. Ich gehe näher an ihn heran und leuchte ihm direkt in die Augen. „Sid ... steh auf, komm schon!“

Er hebt den Kopf und sieht mich stumpfsinnig aus blutunterlaufenen Augen an. Sein blondes Haar steht strubbelig in alle Richtungen ab, und seine Pupillen sind so groß, dass seine Augen fast schwarz wirken. Ohne Vorwarnung packt er mich um die Taille und zieht mich an sich. „Angel … Ich brauch noch was, um über den Tag zu kommen.“

Ungehalten befreie ich mich aus Sids Griff. Ich bin so verdammt sauer … und verzweifelt. „Ich bin es – Taya, deine Schwester.“ Ich rüttelte an seinem Arm, damit er endlich wach wird.

Sid wird sauer. Wenn er auf Entzug ist, hat er schlechte Laune. Nicht gerade die beste Zeit, einen Streit mit ihm anzufangen. „Taya … nerv nicht! Nicht jetzt!“

„Du denkst nur noch an dieses Miststück!“

Er springt auf, in seinen Augen funkelt es wild. Grob packt er mich am Arm und stößt mich gegen den Küchenschrank. Ich schreie auf, als mein Rücken gegen den Kunststoff knallt.

Sid atmet schwer. „Du weißt doch, dass du mich nicht reizen darfst, wenn ...“ Er schweigt, weil er den Satz nicht zu Ende bringen will.

„Wenn du auf Entzug bist?“, antworte ich für ihn. „Sid … wir haben keinen Sol mehr. Wir fliegen aus dem Apartment. Ich muss was tun.“ Vielleicht ist es nicht die beste Gelegenheit, bei ihm wegen Ash vorzuhorchen. Wir haben unzählige Abende diskutiert und uns gestritten. „Ich verbiete es dir … als dein Bruder!“

Ich beiße mir auf die Unterlippe. Wenn Sid wüsste, dass schon alles im Gange ist, würde er ausrasten. Er ist fünf Jahre jünger als ich und alles, was ich an Familie habe. Deshalb hänge ich so an ihm, obwohl er mir das Leben zur Hölle macht. Unsere Eltern sind bei einem Unfall gestorben, als ich Fünfzehn war. Jetzt bin ich Fünfundzwanzig. Von einem behüteten Leben waren Sid und ich damals in die Haltlosigkeit gestürzt. Ich habe mich immer bemüht, Sid Mutter und Vater zu ersetzen. Aber Sid ist trotzdem ein Blutjunkie geworden.

„Ich will nicht, dass das aus dir wird, was aus mir geworden ist.“

„Dann sieh zu, dass du clean wirst und hilf mir endlich.“ Ich strecke meine Hand aus. „Sid … bitte!“ Den Job bei den Magnatec habe ich durch die Forschungsabteilung bekommen, für die meine Eltern gearbeitet haben. Schon mit Fünfzehn musste ich lernen, erwachsen zu werden. Es hat mich nie gestört, für Sid und mich zu sorgen. Aber mir wächst einfach alles über den Kopf. Ash lässt sich Zeit mit dem Vertrag, und drängen will und kann ich ihn nicht. Ich muss also noch eine Weile durchhalten. Wenn Sid nur endlich einsehen würde, dass es so nicht weitergehen kann.

Das Apartment, in dem wir wohnen, liegt im schlechtesten Viertel Daytowns in der zehnten Etage eines uralten Wohnblocks. Bisher habe ich Ash von hier fernhalten können. Ich möchte nicht, dass er mich in all diesem Müll sieht.

Demonstrativ öffne ich den Schrank mit unseren Notreserven und zähle vier Dosen mit Sojabohnen, fünf Teebeutel und eine Tüte Sojamehl. Mein Magen knurrt, aber ich verbiete mir, eine der Dosen anzurühren. Etwas anderes als Sojaprodukte können wir uns nicht leisten. Die wenigen Agrarstationen werfen wenig ab – und Soja ist das Einzige, was mit wenig Energieaufwand in größeren Mengen angebaut werden kann. Sogar der Tee ist aus Sojabohnen. „Schau, Sid … das ist alles, was wir noch haben.“

Er weicht meinem Blick aus, sagt aber nichts.

Ich muss einfach das Letzte verkaufen ... mich selbst! An Ash … auch wenn ich mich ihm liebend gerne schenken würde. Doch alles andere habe ich längst verkauft. Zuletzt sogar den Schmuck, der unserer Mutter gehört hat. Nur von einem einzigen Gegenstand habe ich mich nicht trennen können – von einem kleinen Brieföffner. Er hat meinem Vater gehört, und ich erinnere mich daran, wie er Briefe damit geöffnet hat. Kleine blaue Umschläge. Ich habe nie erfahren, von wem die Nachrichten waren. Normalerweise lief die Post meines Vaters über den internen E-Mail-Verkehr von Magnatec. Energie war damals noch nicht so knapp wie heute. In den letzten Jahren ist die Energiesituation in Daytown so schlimm geworden, dass sie kaum noch zu ertragen ist.

„Ich werde mich für einen Blutvertrag anbieten.“

Sid sieht mich mit verletztem Stolz an. „Wir besprechen das heute Abend, Taya.“

Dann springt er auf, greift sich seine abgewetzte Armeejacke, die er in einem alten Lagerhaus gefunden hat, und flüchtet aus dem Apartment.

Ich schaue zu, wie die Wohnungstür hinter ihm zuknallt. Soviel dazu!

Seufzend nehme ich den Brieföffner meines Vaters aus dem Versteck unter den Bodendielen und stecke ihn mir in den Hosenbund. Würde ich ihn nicht verstecken, hätte Sid schon längst versucht, ihn für einen Trip zu verkaufen. Sorgfältig schiebe ich Top und Pullover darüber. Ein Brieföffner kann einen Mutanten nicht töten, ihn aber für kurze Zeit außer Gefecht setzen, sodass ich weglaufen kann ... wenn ich Glück habe.

Bisher habe ich Glück gehabt, aber sich allein auf sein Glück zu verlassen, wäre naiv. Mein sicherster Schutz ist ein Vertrag und Ashs Zeichen auf meiner Hand. Damit steige ich vom bloßen Futter zum Haustier auf. Als Besitz eines Mutanten habe ich gewisse Privilegien. Schutz, Kleidung, Nahrung. Ich muss Ash heute nach dem Vertrag fragen. Es geht nicht anders.

Im Treppenhaus leuchte ich mit dem Led-Stab die Ecken aus, während ich die zehn Etagen hinunter laufe. Man kann nie wissen ... Auch wenn das Wildern von Menschen verboten ist, halten sich nicht alle daran – vor allem die jungen Mutanten haben sich nicht gut im Griff.

Auf der Straße vor dem Haus sind endlich die Lichter der Laternen angesprungen. Fast körperlich ist die Erleichterung der Menschen zu spüren.

Als ich um die Ecke biege, sehe ich einen Reinigungstrupp in weißen Anzügen anrücken, die mit Schläuchen einem frischen Graffito zu Leibe rücken. Ich muss grinsen. Zumindest den Rebellen kommt die Stunde weniger Energie zugute.

Überall in Daytown sprayen die Rebellen ihr Zeichen an die Wände. Eine Sonne mit flammenartigen Strahlen. Sie kämpfen für Menschenrechte und eine bessere Lebensqualität in den Städten. Auch wenn ich ihren Kampf sinnlos finde, gefällt mir der Gedanke, dass es Menschen gibt, die sich gegen die Herrschaft der Loge und der Mutanten wehren.

Ich betrachte das gelb strahlende Sonnensymbol, das hartnäckig gegen die Hochdruckwasserschläuche der Reinigungskolonne standhält. Sonne! Ich kenne die Sonne nur aus Filmen oder von Fotos. Seit sie im Jahr 2029 verschwand, ist sie nie wieder auf- oder untergegangen.

Die Wissenschaftler glaubten damals, sie hätten an alles gedacht: Computer, Umweltschutz, erneuerbare Energien. Kurz vor der Katastrophe hatten die Regierungen sich sogar aus der Atomenergie zurückgezogen und stattdessen auf umweltfreundliche Energien wie Wind- und Solarkraft gesetzt. Aber damit, dass ein Meteorit auf der Sonne einschlägt, dessen Helium-Wasserstoffverdampfung einen so starken Rückstoß auslöst, dass die Erde aus ihrer Umlaufbahn geworfen wird – damit haben sie nicht gerechnet.

Doch genau so war es gekommen, und die Welt war in ewige Dunkelheit und Kälte gefallen. Ein Leben außerhalb der Städte ist nicht möglich. Die Lunge würde sofort einfrieren und jeder Mensch einen qualvollen Tod sterben. Selbst für Mutanten sind die Temperaturen außerhalb der Klimazone heikel.

Tatsächlich haben die Mutanten die ersten Energiewerke und Klimastationen gebaut. Sie organisierten die Städte und eine Art Zivilisation. Die Ersten von ihnen waren Forscher und Wissenschaftler, die an sich selbst experimentiert haben auf der Suche nach genetischen Veränderungen, mit denen sie sich an das neue Klimabild der Erde anpassen können. Schon im Jahr 2051 bildeten sich die ersten Stadt-Logen.

Es ist für mich schwer vorstellbar, dass es Mutanten gibt, die noch wissen, wie die Wälder vor der großen Katastrophe aussahen oder die Flüsse und lebende Fische. Die Pflanzen und Tiere, die wir retten konnten, leben in Zuchtstationen. Die Loge hat alles für uns geregelt.

Ich sehe zu, wie die gelben Farbschlieren der Rebellensonne an der Wand herunterlaufen. Letztendlich gewinnt die Loge immer. Wir haben uns in unser Schicksal gefügt.

Ich gebe mich auf jeden Fall keiner Illusion hin! Genauso wie das Sonnensymbol werden auch die Rebellen verschwinden. Es ist nur eine Frage der Zeit.

Als ich beim Lighthouse ankomme, schüttelte ich mein Haar, damit es zumindest etwas an die schöne rote Mähne erinnert, die es mal war. Dann betrete ich die Bar.

Im Lighthouse ist es etwas wärmer. Ich halte nach Ash Ausschau. Die Digitaluhr an der Wand sagt mir, dass er schon seit einer Viertelstunde hier sein müsste. Doch ich kann ihn nirgendwo sehen. Eigentlich ist er recht pünktlich. Am hinteren Tisch sitzt eine Gruppe von vier Mutanten, die mich anstarren. Schnell wende ich mich ab. Wahrscheinlich sind sie noch jung.

Das Lighthouse ist nicht besonders groß. Es gibt acht Tische, an den Wänden hängen alte Fotografien aus der Zeit vor der Katastrophe – riesige Wolkenkratzer, Sonnenaufgänge, ein Leuchtturm, der dem abgehalfterten Laden seinen Namen gegeben hat, und ein großes Flugzeug über den Wolken am blauen Himmel, auf dessen Tragflächen sich die Sonne spiegelt. Immer wenn ich hier bin, kann ich meinen Blick kaum von den Fotografien abwenden, so sehr faszinieren sie mich.

„Willst du was trinken?", ruft mir eine Frauenstimme hinter dem Tresen zu. Es ist die von Luana, der Bedienung.

Als ich vor ihr am Tresen stehe, mustert Luana mich von oben bis unten. Sie trägt wie ich ein Top und eine enge Jeans, hat ihr dunkles Haar aber streng zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Sie ist sehr hübsch – als ich mit Ash das erste Mal hier war, hatte ich das Gefühl, sie beobachtet uns. Aber mittlerweile ist mir ist klar, dass sie schon einen Beschützer haben muss. Die Bars gehören den Mutanten. Wenn Luana hier arbeitet, dann, weil ihr Besitzer es so will.

„Wartest du auf Ash?", fragt sie neugierig.

„Ja, wir sind verabredet.“

„Er war heute noch nicht hier … aber so ist Ash eben.“

Ich bin enttäuscht.

„Ash ist nichts für dich“, gibt mir Luana zu verstehen, ohne dass ich sie um ihre Meinung gebeten habe.

Sie weist auf meine Hand, an der noch immer sein Zeichen fehlt. „Er hält dich nur hin.

Wenn du einen Blutvertrag willst, dann geh ins Tenfathers. Eine wie du … sauber … hübsch und noch nicht als Spenderin gemeldet ... du wirst da einen guten Deal machen können.“

Ich schüttele den Kopf. Ich will Ash und keinen anderen.

Luana lächelt zuckersüß. „Was glaubst du denn, woher ich meinen Blutvertrag habe und wer mir diesen Job besorgt hat? Warum lassen mich die vier überdrehten Typen da hinten am Tisch in Ruhe?“

Ich starre die blau unterlaufenen Einstiche der Injektionsnadeln auf ihren Armen an. Die kleine Tätowierung auf Luanas Hand weist sie als persönliches Eigentum eines Mutanten aus – ein seltsames Symbol, das an einen Eiskristall erinnert. Jeder von ihnen hat sein eigenes Symbol, und sie kennen diese untereinander. Ashs kenne ich noch nicht; und ich habe auch keine Ahnung, wem Luana gehört. Ehrlich gesagt interessiert es mich auch nicht. Ich bin den Tränen nahe, weil Ash mich versetzt hat.

„Besser du gehst jetzt.“ Sie nickt in Richtung der vier Typen, die mich nicht aus den Augen lassen. „Ohne Ash oder sein Zeichen bist du hier Freiwild.“

Ich taste nach dem Brieföffner in meinem Hosenbund und werfe einen Blick auf die Digitaluhr. Fast bekomme ich einen Herzinfarkt. Ich habe die Zeit vergessen. In einer Stunde wird die Energie wieder abgeschaltet ... und ich brauche mindestens eine Stunde bis nach Hause.

Den ganzen Weg zurück mache ich mir Sorgen und denke darüber nach, warum Ash mich versetzt hat. Hat Luana recht? Spielt er nur mit mir? Wird er mich fallen lassen, wenn er genug von mir hat?

Ich gehe schneller, als ich bemerke, dass die anderen Menschen auf der Straße ebenfalls in Eile sind. Nur noch eine halbe Stunde, dann sind die Straßen wieder dunkel! Jeder will so schnell wie möglich in sein Apartment, auch wenn es dort genauso dunkel und kalt ist, wie in den Straßen Daytowns.

Hektisch sehe ich mich um, weil ich fürchte, dass die vier Typen aus der Bar mir gefolgt sind. Doch ich sehe sie nicht, und auf meinem Weg nach Hause kommen auch nur zwei Energycars an mir vorbei. Sie halten nicht an und fahren auch nicht langsamer. Wenn einem in Daytown ein Energycar folgt, ist das ein untrügerisches Zeichen, dass man die Aufmerksamkeit der Loge auf sich gezogen hat.

Ich ziehe gerade die Tür zum Treppenhaus unseres Wohnblocks hinter mir zu, als die Lichter ausgehen. Ich stehe im Dunkeln. Genervt krame ich aus meinem Rucksack den Led-Stab hervor und schalte ihn an. Er flackert - die Batterieeinheiten sind fast leer, und wie alles andere sind natürlich auch Batterieeinheiten knapp.

Die letzten Stockwerke bis zu unserer Wohnung renne ich. Ich bin in heller Panik! Als ich endlich die Wohnungstür endlich hinter mir zuwerfe, bin ich so außer Atem, dass ich glaube, ich müsse tot umfallen. Das Apartment ist deprimierend leer, dunkel und kalt. Wie immer ist Sid im Tenfathers bei Angel.

Ich setze mich an den Tisch und löffele kalte Sojabohnen aus der Dose. Unser alter Mikromagnetofen hat ja keinen Strom. Also muss ich das ekelige Zeug so in mich reinwürgen.

Wenn man abends im Apartment festsitzt, kann man eigentlich nichts tun. Es ist kalt, es ist dunkel ... es ist absolut langweilig. Kein Wunder, dass Sid irgendwann anfing, ins Tenfathers zu gehen. Dort wird die Energie nicht abgeschaltet. Es ist warm, es gibt Musik, Alkohol, Vergnügen ... alles besser als eine kalte Wohnung. Hätten wir die Klimatechnik nicht, die Daytown auf winterliche aber lebensfähige Temperaturen aufheizt – kein Mensch könnte auf diesem Planeten leben.

Ich habe mir angewöhnt, mich in mehrere Thermofolien zu packen und früh schlafen zu gehen. Alles andere wäre sinnlos.

Normalerweise schlafe ich die Nacht durch – bis Magnatec am Morgen den Strom wieder anstellt. Doch in dieser Nacht schrecke ich hoch, ohne dass es einen besonderen Grund dafür gegeben hätte. In meine Thermofolie gewickelt stehe ich auf und taste nach dem Led-Stab, der unter meinem Bett liegt.

Jemand klopft an die Tür des Apartments. Sid? Ich stolpere mit dem Led-Stab in der Hand zur Tür. Ohne zu überlegen, reiße ich sie auf – und starre ich die Gesichter von zwei Typen, die von oben bis unten in Thermowax-Klamotten gekleidet sind. Mutanten! Sie sind riesig, und ihr Gesichtsausdruck nicht gerade freundlich. Was wollen die hier?

Geistesgegenwärtig knalle ich die Tür wieder zu, doch im nächsten Augenblick werde ich durch die Luft geschleudert und lande auf dem Boden … die Tür begräbt mich unter sich, und ich sehe Sterne. Ich will um Hilfe schreien, doch ich bekomme kaum Luft. Den Led-Stab habe ich verloren, mein Rücken schmerzt. Ich bin mir nicht sicher, ob nicht ein paar meiner Rippen gebrochen sind. Der Drall, mit dem die beiden die Tür aus den Angeln geworfen haben, ist enorm. Was für eine Kraft! Schon packt mich eine Hand im Nacken und zieht mich hoch wie eine Puppe. Ich erinnere mich an den Brieföffner in meinem Hosenbund. Doch ehe ich dazu komme, ihn auch nur anzuheben, schlägt ihn mir der Angreifer aus der Hand. Ich schreie vor Schmerz auf.

Ins Dunkel hinein versuche ich, mit bloßen Fäusten auf den Mutanten einzuschlagen und höre sein leises und wütendes Grollen. „Wenn du nicht willst, dass ich dir gleich den Hals umdrehe, gibst du besser Ruhe!“

Ich zittere am ganzen Körper, gehorche aber. „Was wollt ihr von mir?“

Der eine packt meinen Arm so fest, dass ich Angst habe, er zerquetscht ihn mir. „Schauze, Schlampe!“

Mein Herz rast, doch ich wage nicht, ihn noch einmal anzusprechen. Der andere sieht sich kurz angewidert im Apartment um, dann sieht er mich an. „Bist du Taya Bennett?“

Ich nicke zaghaft.

Die beiden nehmen mich in ihre Mitte, packen mich unter den Achseln und zerren sie mich aus dem Apartment. „Seth will dich sehen.“

Seth! Oh, Gott, der Name verursacht Übelkeit bei mir. Wenn dieser Seth nur halb so schlimm ist, wie Ash ihn beschrieben hat, kann ich mit meinem Leben abschließen. Aber warum? Was will er von mir … warum weiß er überhaupt von mir? Hat Ash mich verraten? Ich weiß so wenig von ihm, wie mir jetzt klar wird.

Die beiden zerren mich durch das Treppenhaus, und ich kann kaum mit ihnen Schritt halten. Schließlich wirft mich einer von ihnen über die Schulter wie ein Beutestück. Er knallt mir seine Hand auf den Hintern und meint grinsend zu dem anderen: „Wir könnten uns die Kleine vornehmen, bevor wir sie bei Seth abliefern.“

Ich versuche mich von seiner Schulter zu winden, doch er packt mich einfach fester.

„Willst du dir Ärger einhandeln? Seth hat uns keine Erlaubnis dazu erteilt.“

Ich atme tief aus, als der andere brummend zustimmt.

Vor dem Wohnblock wartet ein Energycar. Sie werfen mich auf den Rücksitz, einer von ihnen legt mir Magnetfesseln an Händen und Füßen an. Ich habe keine Chance, mich zu befreien. Die Magnete sind so stark, dass die Bänder wie verschweißt sind. Außerdem friere ich, da ich nur meine Leggins und einen dünnen Pullover trage. Meine Füße sind nackt, und es ist eisig kalt.

Die beiden steigen vorne ein und fahren mit mir durch Daytown. Ich wage nichts zu sagen, aber mir laufen Tränen über die Wangen. Warum passiert das alles? Hat es etwas damit zu tun, dass Ash mich heute versetzt hat?

Ich zittere abwechselnd vor Angst und Kälte und kann mich kaum beruhigen. Vorne unterhalten sich die beiden, als läge ich nicht gefesselt und vollkommen verängstigt auf der Rückbank.

„Diesmal hat er sich in die Scheiße geritten.“

Der andere brummt zustimmend. „Er wurde oft genug gewarnt.“

„Seth ist richtig sauer. Bin gespannt, was er mit der Fotze da hinten auf der Rückbank anstellt.“

Die beiden lachen dreckig, und ich presse meine Beine zusammen, weil mir plötzlich die Blase drückt. Bitte nicht auch das noch!

Als das Energycar anhält, bin ich starr vor Angst und Kälte. Niemand ist da, um mir zu helfen. Meine Lage ist auswegslos.

Einer von beiden wirft mich wieder über die Schulter. Sie nehmen nicht den Vordereingang des Tenfathers, sondern einen Seiteneingang.

Aus meinem tränenverschwommenen Augen erkenne ich die blutrote Neonschrift mit einem Blutstropfen als Logo über der Bar. Wer hierher kommt, kann auf jeden Fall nicht behaupten, nicht gewusst zu haben, worauf er sich einlässt. Das Tenfathers ist ein uraltes Industriegebäude aus den späten 90er Jahren des letzten Jahrtausends, das die Mutanten grundsaniert haben. Trotzdem besteht es noch immer aus den gleichen schmutzigen Backsteinen und einem alten Ziegeldach. Sie legen Wert auf nostalgische Gestaltung.

Meine Kidnapper laufen einen schmalen Gang entlang, an dessen Seiten Kisten gestapelt sind. Wahrscheinlich mit Getränken, Gläsern und anderen Lagermaterialien für das Tenfathers. Auf einigen Kisten entdecke ich auch medizinische Zeichen, wahrscheinlich Injektionsnadeln und Schläuche für den Hämopholaustausch der Mutanten mit ihren Spendern. Ich habe mal eine Frau sagen hören, dass der Austausch zwischen einem Mutanten und seinem Spender eine sehr intime Angelegenheit ist. Mit Ash hätte ich es gerne versucht, obwohl es mir Angst macht. Doch ich werde die heutige Nacht ohnehin nicht überleben ...

Der Gang, den die beiden mich entlangschleppen, wird immer dunkler. Mutanten brauchen nur wenig Licht, um zu sehen. Die Fesseln schneiden in meine Handgelenke. Außerdem bin ich mittlerweile durchgefroren und steif. Wenn ich nicht bald ins Warme komme, erfriere ich!

Wir sind an einem Lastenaufzug angekommen – einer der beiden schiebt das Gitter hoch. „Ob Ash schon gecheckt hat, dass seine Schlampe hier ist?“

Ich schöpfe Hoffnung, während der Lastenaufzug sich nach oben in Bewegung setzt. Ash ist hier?

„Glaub nicht … Seth will ihn überraschen.“

Sie bringen mich hoch in einen Loft – und hier ist es endlich warm! Ich spüre meine Hände und Füße schmerzvoll kribbeln. Meine Zähne klappern noch immer, und ich bin so steifgefroren, dass ich mich kaum bewegen kann. Trotzdem staune ich mit offenem Mund - hier gibt es Dinge, die ich nur von Fotos und aus alten Filmen kenne. Der Boden besteht aus Holz! Parkett, erinnere ich mich, hat man so etwas früher genannt. Jetzt, wo es kaum noch Bäume gibt, ist es kaum vorstellbar, dass jemand Holz in Scheiben schneidet, um darauf herumzulaufen. Der Loft besteht aus einem großen Raum und einer Galerie, zu der eine Wendeltreppe hinaufführt – auch hier Holzstufen! Die Wände sind in einem dunklen Rot gestrichen, überall hängen vergoldete Spiegel, stehen Stühle mit Löwenfüßen, und es gibt ein lederbezogenes Sofa. Ich kann nicht glauben, dass heute noch die Haut von Tieren für Möbel verwendet wird. Sogar Ashs Apartment ist nicht so dekadent ausgestattet. „Wir haben sie“, ruft derjenige, auf dessen Schulter ich hänge, in den leeren Raum.

Auf der Galerie erscheint eine Frau, die mich ansieht, als hätte ich mein Todesurteil unterschrieben. Mir klappt die Kinnlade herunter. Es ist Luana, die Bedienung aus dem Lighthouse.

„Tut mir leid, Taya. Ist alles nicht gut gelaufen.“

Sie trägt einen durchsichtigen Hauch von Nichts, der ihre vollen Brüste kaum verbirgt, und einen kurzen Rock, dazu aber keine Schuhe. Ihre Fußnägel und ihre Fingernägel sind rot lackiert. Irgendwie habe ich den Eindruck, als würde sie zum Inventar gehören. „Wohnst du hier?“, frage ich mit klappernden Zähnen.

Sie lacht, als sie die Wendeltreppe herunter kommt – langsam, lasziv, mit wiegenden Hüften. Sie ist eine atemberaubend schöne Frau. Fast schwarzes Haar, ein Puppengesicht und ein voller roter Mund. Dazu große Brüste und Beine bis zum Hals. Ich komme mir fad vor im Vergleich zu ihr mit meiner mädchenhaften Figur und den wüsten roten Haaren.

„Kein Mensch wohnt so, Taya“, antwortet sie. „Das solltest du doch wissen.“

„Wir warten dann unten … auf unsere Bezahlung“, meint mein Kidnapper und wirft mich auf das Sofa wie einen Sack Sojamehl.“

„Seth wird sich darum kümmern, sobald er das hier erledigt hat.“

Die beiden grinsen sich an und verschwinden wieder im Lastenaufzug. Ich bin mit Luana allein. Langsam kann ich meine Arme und Beine wieder bewegen, meine Zähne hören auf zu klappern, und mein Gehirn fängt wieder an zu arbeiten. „Seth … ist dein...?“

Sie setzt sich neben mich auf das Sofa – mit einer verführerisch weiblichen Bewegung.

„Seth ist mein Besitzer ...“, führt sie meinen Satz zu Ende aus.

Wunderbar! Hat Ash das nicht gewusst, als wir uns im Lighthouse getroffen haben? Zumindest kann ich mir jetzt denken, woher er von mir weiß.

Luana zieht eine silberne Dose aus ihrem Ausschnitt und öffnet sie. Mit dem rot lackierten Fingernagel nimmt sie ein weißes Pulver heraus, das sie mit einem kurzen Ruck in ihre Nase zieht.

Als sie meinen fragenden Blick sieht, lächelt sie. „Aufbaupräparate fürs Blut. Ist wichtig, wenn du Spender bist. Aber ...“, sie bedenkt mich mit einem mitleidigen Blick, „... für dich ist der Traum wohl hier zu Ende. Bedank dich bei deinem lieben Ash!“

Elegant schlägt sie ein schlankes nacktes Bein über das andere. Ich meine zu erkennen, dass sie keinen Slip unter dem kurzen Rock trägt. „Ich hoffe, du hast nicht wirklich auf Ash gesetzt … oder bist in Versuchung geraten, etwas für ihn zu empfinden.“ Sie forscht in meinem Gesicht nach der Antwort, lächelt dann, als hätte sie gerade eben die Bestätigung erhalten, dass es genauso ist.

„Warum bin ich hier?“, will ich von ihr wissen. Langsam rappele ich mich auf und setze mich aufrecht aufs Sofa – zwar gefesselt, aber zumindest liege ich so nicht mehr wie ein Beutestück herum. Ich bin froh, dass ich eine Leggins und einen Pullover trage und keine Pornoklamotten wie Luana.

Sie zieht die Brauen hoch. „Weißt du wirklich gar nichts?“

„N...Nein“, gebe ich zu und komme mir plötzlich furchtbar naiv vor. Ohne, dass ich es verhindern kann, brechen die angestauten Ängste der letzten Tage und Wochen über mich herein. Ich muss weinen. Luana steht auf und kommt mit einer Flasche Whiskey aus der gut gefüllten Bar zurück. Gnädig reicht sie mir ein Glas mit der goldbraunen Flüssigkeit. Ich lehne ab, weil ich glaube, dass es besser ist, einen klaren Kopf zu behalten.

Luana zuckt mit den Schultern und kippt den Whiskey selbst in einem Zug herunter.

„Wo ist Ash?“

„Oh, ich schätze unten im Tenfathers. Er weiß noch nicht, dass du hier bist.“

Sie nimmt meine Hand und tut so, als wolle sie mich trösten. „Ash hat dich in Schwierigkeiten gebracht, Taya. Natürlich nicht absichtlich … aber Ash ist – wie soll ich es ausdrücken – unbeherrscht. Ich wollte dich vor ihm warnen.“ Sie seufzt theatralisch. „Doch ich bin auch nur ein Mensch …“ Ich bemerke den Widerwillen, mit dem sie das Wort Mensch ausspricht.

„Und was passiert jetzt mit mir?“ Ich weiß nicht, ob ich die Antwort hören will.

„Das muss Seth entscheiden.“

„Und warum schlägst du dich auf Seths Seite?“

„Er hat er mir eine Menge dafür geboten.“ Ihre Augen zeigen das erste Mal etwas Freundlichkeit. Ich glaube nicht, dass Luana wirklich dieses Miststück ist, das sie vorgibt zu sein. Aber das ändert natürlich nichts daran, dass ich jetzt hier bin.

„Ich habe nichts gegen dich, Taya Bennett. Doch du bist meine Fahrkarte in die Freiheit.“

„Liebst du diesen Seth?“ Ich verstehe Luana einfach nicht.

Sie verzieht ihren dunkel geschminkten Mund zu einem spöttischen Lächeln, doch ich meine Wehmut und Schmerz darin zu erkennen. „Seth zu lieben wäre, als würde man einen Eisberg umarmen.“

Warum glaube ich ihr nicht? Ihre Augen sagen etwas anderes. Sie liebt ihn mindestens so sehr, wie ich Ash liebe; und ich habe das Gefühl, dass sie mir meine Gefühle zu Ash missgönnt.

„Du musst mich nicht verstehen, Taya. Vielleicht wirst du es eines Tages.“

Luana steht auf und geht zur Wendeltreppe.

„Wohin gehst du?“, frage ich sie. Ich kenne die Antwort, doch ich muss einfach fragen.

„Ich hole Seth“, antwortet sie lächelnd.

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220 стр. 1 иллюстрация
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9783742756145
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