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Alex Marzano-Lesnevich

Verbrechen und Wahrheit

Ein autobiografischer Kriminalroman

Aus dem amerikanischen Englisch

von Sigrun Arenz

ars vivendi

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel

The Fact of a Body. A Murder and a Memoir bei Flatiron Books.

Copyright © 2017 by Alexandria Marzano-Lesnevich

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Deutschen Originalausgabe (1. Auflage November 2020)

© 2020 by ars vivendi verlag

GmbH & Co. KG, Bauhof 1,

90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

eISBN 978-3-7472-0191-6

Für meine Eltern

Inhalt

Ein Hinweis zu den Quellen

Rechtlicher Hinweis

Prolog

Erster Teil: Das Verbrechen

Zweiter Teil: Die Konsequenzen

Dritter Teil: Der Prozess

Dank

Ein Hinweis zu den Quellen

Ich habe Ricky Langleys Leben mithilfe öffentlicher Gerichtsakten, Transkripte, Zeitungsartikel und Fernsehbeiträge und in einem Fall unter Verwendung eines Theaterstücks, das auf Interviews basierte, rekonstruiert. In diesem vielfältigen Quellenmaterial bin ich auf widersprüchliche Aussagen gestoßen, sodass ich mich oft für eine davon entscheiden musste, um eine zusammenhängende Erzählung zu ermöglichen. Noch häufiger habe ich mich dazu entschlossen, die unterschiedlichen Versionen, Behauptungen, Versprecher und Auslassungen gleichberechtigt aufzunehmen, um die Widersprüche und Leerstellen zu veranschaulichen. Zusätzliche detaillierte Informationen zu den Quellen finden Sie im Anhang dieses Buches.

Jedem Ereignis, von dem ich hier berichte, liegen Aussagen mindestens einer Person zu seinem Ablauf zugrunde – oder es handelt sich um eine Begebenheit, die ich aus verschiedenen Beschreibungen kompiliert habe (siehe auch hierzu den Anhang zu den Quellen). Wo immer ich mit Transkripten gearbeitet habe, habe ich die Dialoge im Interesse der Klarheit und des Erzähltempos gestrafft und redigiert. Ein bedeutender Teil der Vorfälle, über die ich hier schreibe, hat sich in der Öffentlichkeit und begleitet von großem Medienrummel zugetragen, aber ich habe dennoch einige Namen abgeändert. Die beiden Rechercheexkursionen, die das Rückgrat des dritten Teils bilden, bestanden in Wirklichkeit aus vielen Trips im Verlauf mehrerer Jahre. Ich habe sie hier komprimiert; die beschriebenen Ereignisse haben aber alle genau so stattgefunden.

Wenn ich auch keine Tatsachen geändert oder dazuerfunden, sondern mich vielmehr auf die Dokumente gestützt habe, die zur Hauptquelle dieses Buches wurden, habe ich doch gelegentlich meine Vorstellungskraft genutzt, um die nüchternen Fakten der Vergangenheit zum Leben zu erwecken. Wo das der Fall ist, habe ich es im Quellenanhang gekennzeichnet. Auf jeden Fall enthält die Darstellung meine Interpretation der Fakten, meine individuelle Lesart, und ist mein persönlicher Versuch, diese Geschichte aus den Einzelteilen zusammenzusetzen.

Insofern ist es einerseits ein Buch über das, was tatsächlich passiert ist, andererseits aber auch darüber, wie wir mit dem umgehen, was geschehen ist. Es geht um einen Mord, es geht um meine Familie, es geht um die anderen Familien, deren Leben von diesem Mord berührt wurden. Vor allem aber geht es darum, wie wir unser Leben, unsere Vergangenheit und einander deuten und verstehen. Zu diesem Zweck erfinden wir alle unsere Geschichten.

Rechtlicher Hinweis

Dieses Werk ist nicht vom Louisiana Capital Assistance Center – einer Kanzlei, die Menschen vertritt, die wegen eines Kapitalverbrechens angeklagt sind – autorisiert oder genehmigt worden, und auch nicht von den Klienten dieser Organisation. Die hier zum Ausdruck gebrachten Ansichten geben einzig und allein die Meinung und Haltung der Autorin wieder. Die Beschreibungen der einzelnen Parteien vor Gericht und die Umstände und Ereignisse der dort verhandelten Verbrechen entstammen ausschließlich den Gerichtsakten, anderen öffentlich zugänglichen Informationen und den Recherchen der Autorin.

Prolog

»Es kann immer vorkommen, dass die Lösung

eines Rätsels ein weiteres auflöst.«

Truman Capote, Kaltblütig

»Wissen Sie, er war einfach nur unser Ricky.«

Darlene Langley, Schwester von Ricky Langley

Es gibt in der Rechtsprechung das Prinzip der unmittelbaren Ursache, das Jurastudenten im ersten Semester anhand des Falls Palsgraf gegen die Eisenbahngesellschaft von Long Island vermittelt wird. Stellen Sie sich folgende Szene vor: Es ist das Jahr 1924, und Helen Palsgraf macht mit ihren zwei kleinen Töchtern einen Nachmittagsausflug an die Bucht von Rockaway. Es ist ein sehr heißer Tag, und das Reihenhaus in Ziegelbauweise, in dem die Mädchen, ihr älterer Bruder und die Eltern leben, ist stickig. Jetzt, da die Ferien angefangen haben und es nichts zu tun gibt, jammern die Mädchen schon seit Tagen, und Helen hat beschlossen, mit ihnen an den Strand zu fahren. Vielleicht hat sie ein Baumwollkleid über ihren Badeanzug gezogen und zum Schutz vor der Sonne einen Strohhut mit breiter Krempe aufgesetzt. Nun lehnt sie sich an ein Geländer am Bahnsteig und fächelt sich mit dem Hut Luft zu. Ein, zwei Meter entfernt spielen die Mädchen mit einer Puppe, die eine von ihnen mitgenommen hat. Helen beobachtet sie träge.

Am anderen Ende des Bahnsteigs, zehn Meter entfernt, rennt ein junger Mann auf den Zug zu, der gleich abfährt, ein Express zur Jamaica Station in Queens. Vielleicht hat er vor, dort seine Freunde zu treffen, um eine feuchtfröhliche Nacht zu verbringen. Sie werden Bier trinken; sie werden einer Band lauschen; sie werden mit hübschen Mädchen tanzen. Vielleicht wird er sogar das Mädchen küssen, von dem sein Cousin ihm erzählt hat, eine Schönheit aus Connecticut. Er ist mit zwei anderen jungen Männern unterwegs, und sie alle rennen zum Zug, aber der Mann, um den es uns hier geht, trägt ein längliches Päckchen unter dem Arm, etwa vierzig Zentimeter lang und eingewickelt in Zeitungspapier.

Der Zug ist schon angefahren, die großen metallenen Räder drehen sich schneller und schneller, aber der Mann will seinen großen Abend nicht verpassen und hetzt hinterher. Wird er es schaffen?

Der Zug schwenkt aus. Zwischen ihm und dem Bahnsteig ist jetzt eine Lücke.

Der Mann springt.

Im Zug lehnt sich ein Schaffner nach vorn, packt ihn am Arm und zieht ihn hinein. Vom Bahnsteig aus gibt ein Bahnbeamter ihm einen Schubs. Der Mann landet sicher im Inneren des Zuges.

Aber das Päckchen fällt ihm aus der Hand – und als es auf dem Boden auftrifft, explodiert es. In dem Zeitungspapier befanden sich Feuerwerkskörper.

Am nächsten Morgen berichten die Zeitungen von Dutzenden Verletzten. Das Haar eines Teenagers fing Feuer. Eine Mutter und ihre Tochter erlitten Schnittwunden an Armen und Beinen. Und am anderen Ende des Bahnsteigs geriet eine große Gepäckwaage ins Wanken. Die Frau, die darunter stand, einen breiten Strohhut in der Hand, schrie auf. Die Waage kippte um.

Als Mrs. Palsgraf sich von diesem Tag erholt hat, verklagt sie die Bahngesellschaft.

Was hat ihre Verletzungen verursacht? Beginnen wir mit der Waage, die umkippte. Hierbei handelt es sich um das, was das Recht »unmittelbare Ursache« nennt. Wäre die Waage nicht umgekippt, wäre Mrs. Palsgraf nicht verletzt worden.

Aber das Problem daran ist: Eine Waage fällt nicht einfach so um. Es war die Explosion, die dafür verantwortlich war.

Und Explosionen ereignen sich auch nicht einfach so. Diese wurde durch die Feuerwerkskörper des jungen Mannes verursacht.

Aber Feuerwerkskörper entzünden sich nicht ohne Grund. Der Bahnangestellte muss schuld sein, weil der Schubs, den er dem jungen Mann gab, dazu führte, dass er das Päckchen mit dem Feuerwerk fallen ließ. Somit muss die Bahngesellschaft, die ihn beschäftigt, für Mrs. Palsgrafs Verletzungen verantwortlich sein.

All diese denkbaren Ursachen sind tatsächliche Ursachen. Die Mutmaßungen über all diese möglichen Ursachen ließen sich endlos weiterspinnen. Die Idee, dass es eine unmittelbare Ursache gibt, löst das Problem. Die Aufgabe der Gerichte ist es nun, herauszufinden, wo der Ursprung der Ereignisse liegt, um jemanden zur Verantwortung ziehen zu können. Und so ist es die »unmittelbare Ursache«, die laut Gesetz tatsächlich eine Rolle spielt.

Die eine Ursache, die eine Geschichte zu dem macht, was sie ist.

In meiner Erinnerung gibt es einen dunklen Raum, dessen Tür weit geöffnet ist, wie der Schlund einer Höhle. In der Mitte glänzen metallene Stäbe. An den Wänden recken sich Reihe um Reihe ledergebundener Bücher bis zur Decke, ihre Buchrücken eine Variation gedeckter Farben: das Blau einer alten Fahne, das Grün des Meeres, das Rot von getrocknetem Blut. Es handelt sich um Rechtsregister, die Art von Büchern, die man in der Bibliothek jeder Anwaltskanzlei des Landes finden kann. Jahrzehntealte Gerichtsentscheidungen sind darin verzeichnet. Jedes dieser Bücher enthält unzählige Geschichten, unzählige Leben – wer hat was getan, und wer musste den Preis dafür zahlen?

In diesem Raum halte ich mich im Juni des Jahres 2003 im Alter von fünfundzwanzig Jahren auf. Stellen Sie sich vor, wie ich vergangene Woche meine Tage in einer Bibliothek verbracht habe, über einen Schreibtisch gebeugt, der nach altem Holz roch, und mich durch sechsstündige Examensarbeiten gequält habe, um das erste Jahr meines Jurastudiums in Harvard zu bestehen. Gestern bin ich dann in ein Flugzeug gestiegen, das mich südwärts nach New Orleans trug, und trat hinaus in eine Luft, die mich wie eine heiße, feuchte Ohrfeige traf. Ich bin in den Süden gekommen, um hier gegen die Todesstrafe zu kämpfen, indem ich ein Praktikum bei einer Kanzlei mache, die Menschen vertritt, die des Mordes angeklagt sind. Ich bin stolz darauf, dass ich diese Arbeit hier tun werde, aber zugleich macht sie mir auch Angst. All mein Wissen über Recht und Gesetz stammt aus Büchern und aus den Geschichten über Klienten, die mir meine Eltern, beide Anwälte, in meiner Jugend erzählt haben. Diese handelten von Sorgerechtsstreitigkeiten, ärztlichen Kunstfehlern oder Haftungsfragen nach einem Sturz, und in einer ging es tatsächlich um einen Mord, aber niemals um einen Fall, bei dem die Todesstrafe im Raum gestanden hätte. Diese Geschichten enthielten nichts von dem, wie ich mir New Orleans ausmale, das in diesem Sommer von einer Verbrechenswelle erschüttert wird. Gestern in den Abendnachrichten spannte sich gelbes Absperrband straff über eine verschlossene Tür. Heute Morgen sprangen mich aus den Zeitungskästen auf der Baronne Street die schwarzen Schlagzeilen an, die »Mord« schrien. Auf den Regalbrettern der Bibliothek, unter den Gerichtsakten, liegen kopierte Ringbücher, laminiert und mit Plastikspiralen gebunden. Es sind Leitfäden mit detaillierten Beschreibungen, wie der Staat im Fall einer Hinrichtung verfährt. Hier in diesem Raum werden Leben verteidigt.

Ich rutsche unruhig auf meinem metallenen Klappstuhl hin und her. Der braune Anzug, den ich anhabe, ist viel zu warm für New Orleans; schon jetzt stehen Schweißperlen auf meiner Stirn. Das ist es, worauf sich meine Aufmerksamkeit in diesem Moment richtet: auf meine Kleidung, und wie unwohl ich mich darin fühle.

Eine Frau geht zielstrebig zum Kopfende des Tisches und hält für mich und die anderen Praktikanten eine Videokassette hoch. Ihre Haltung drückt Selbstbewusstsein und Souveränität aus. Sie trägt einen einfachen schwarzen Rock und eine weiße Bluse, die trotz der Hitze glatt und frisch aussieht. »Das hier ist eine Aufzeichnung aus dem Jahr 1992. Das Geständnis des Mannes, dessen Wiederaufnahmeverfahren wir gerade beendet haben«, sagt sie. Ihr Akzent ist scharf und britisch, ihr Haar aufgetürmt wie das einer Brontë-Heldin. »Vor neun Jahren wurde er zum Tode verurteilt, aber diesmal haben die Geschworenen ihm das Leben geschenkt. Er hat lebenslänglich bekommen. Können Sie bitte«, sagt sie zu einem anderen Juristen im Raum, »das Licht ausmachen?«

Ursache und Wirkung also: diese Videoaufzeichnung. Wenn ich das Gesicht des Mannes auf dem Band nicht gesehen hätte, wenn ich ihn nicht hätte beschreiben hören, was er getan hat – er hätte für mich einfach nur ein Name bleiben können.

Ursachen: Sie zeigt mir die Aufzeichnung. Zwölf Jahre sind mittlerweile seit diesem Praktikumstag in der Kanzlei vergangen, und ich möchte all diese Jahre zurückgehen, um ihr zu sagen: »Nein, er ist nicht mein Klient, er wird niemals mein Klient sein, ich muss dieses Video nicht sehen. Das Kind, das er umgebracht hat, ist längst tot. Der Mann ist längst wegen Mordes verurteilt. Alles, was geschehen ist, ist bereits geschehen. Es gibt keinerlei Notwendigkeit für mich, diese Aufzeichnung anzuschauen.«

Oder noch weiter zurück. Ursachen: Ich hätte mich entscheiden können, nicht in dieses Anwaltsbüro hier im Süden zu kommen. Ich hätte mich entscheiden können, meine Überzeugungen niemals infrage zu stellen. Ich hätte mich entscheiden können, meine Vergangenheit ruhen zu lassen.

Was, wenn ich niemals Jura studiert hätte? Wenn ich nicht eines Nachmittags, als ich mit dreizehn krank zu Hause war, ein Buch über das Jurastudium im Bücherregal meines Vaters gefunden hätte? In genau dem Monat, in dem ich das Buch immer wieder las, in eben dem Monat, in dem ich mir meine Zukunft erträumte, klopfte ein kleiner blonder Junge in Louisiana an die Tür des Nachbarhauses. Der Mann von der Videoaufzeichnung öffnete.

Ich habe jetzt mehr als zehn Jahre mit seiner Geschichte verbracht, einer Geschichte, auf die ich, wenn die Dinge nur ein wenig anders verlaufen wären, niemals gestoßen wäre. Ich habe das Transkript seines Geständnisses öfter gelesen, als ich zählen kann, ebenso wie die Protokolle seiner anderen Geständnisse. Ich kenne seine Worte besser als Worte, die ich selbst geschrieben habe. Ich habe mich von den Protokollen aus zurückgearbeitet, habe die Orte in Louisiana besucht, an denen sich sein Leben abspielte, und auf diese Weise habe ich seine Mutter in meiner Vorstellung zum Leben erweckt, seine Schwestern, die Mutter des kleinen Jungen, all die Charaktere aus der Vergangenheit. Und ich bin die lange, einsame Straße von New Orleans zum Staatsgefängnis von Louisiana gefahren, das den Namen Angola trägt. Ich habe diesem Mann, diesem Mörder, an einem Besuchstisch gegenübergesessen und in dieselben Augen geblickt, die in diesem Video zu sehen sind.

Dieses Band hat mich dazu gebracht, alles auf den Prüfstand zu stellen, was ich je geglaubt habe – nicht nur über das Rechtswesen, sondern auch über meine Familie und meine Vergangenheit. Vielleicht hätte ich mir wünschen können, es nie gesehen zu haben. Ich hätte mir wünschen können, mein Leben wäre geblieben, wie es vorher war, in einer einfacheren Zeit.

Sie schiebt die Kassette in den Videorekorder und tritt einen Schritt zurück. Der Bildschirm des alten Röhrenfernsehers flimmert. Langsam wird ein sitzender Mann sichtbar. Blasse Haut, eckiges Kinn, Segelohren. Dicke, runde Brillengläser. Ein orangefarbener Jogging­anzug. Hände in Handschellen auf dem Schoß.

»Wie lautet Ihr Name?«, fragt eine tiefe Stimme aus dem Off.

»Ricky Langley«, antwortet der Mann.

Erster Teil: Das Verbrechen

1

Louisiana, 1992

Der Junge trägt kurze Hosen, deren Farbe an die Seen in Louisiana erinnert. Später wird der Polizeibericht die Farbe als »Blau« verzeichnen, aber in allen Beschreibungen, die sie gibt, wird seine Mutter darauf bestehen, sie »Aquamarin« oder »Blaugrün« zu nennen. Seine Füße stecken in schlammverkrusteten Wanderschuhen, wie jeder Junge in diesem Teil des Staates sie hat, ideal, um darin in den Wäldern zu spielen. Eine kleine Faust umschließt den Griff eines Luftgewehrs, das halb so groß ist wie er selbst. Es ist eine Waffe der Marke Daisy mit einem langen, braunen Plastiklauf, den der Junge poliert, bis er glänzt wie echtes Metall. Als einziges Kind einer alleinerziehenden Mutter ist Jeremy Guillory daran gewöhnt, häufig umzuziehen und in fremden Schlafzimmern zu übernachten. Die Freunde seiner Mutter leben alle in gemieteten Häusern entlang derselben Sackgasse, die der Eigentümer »Watson Road« nennt, wann immer er die Miete erhöhen will, die aber in Wirklichkeit keinen Namen hat. Selbst die Polizisten der örtlichen Polizeidirektion werden später nachfragen müssen, um den Weg dorthin zu finden. Siedler aus Iowa benannten die Siedlung einst nach ihrem Heimatstaat, aber da sie einen Neubeginn suchten, sprachen sie den Namen »Io-way« aus, obwohl sie die ursprüngliche Schreibweise beibehielten. Diese Stadt ist schon immer ein Ort gewesen, an den Leute für einen Neuanfang kommen – und zugleich ein Ort, an dem sie es nie so ganz schaffen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Hier also schlüpfen der Junge und die Mutter bei jedem unter, der in der Lage ist, die monatliche Stromrechnung zu bezahlen, und der dafür sorgt, dass das Gas im nächsten Monat nicht abgestellt wird. Wo auch immer der Junge landet, hat er sein Luftgewehr dabei. Für ihn ist es sein größter Schatz.

Es ist die erste Februarwoche. Die Blätter der Bäume sind grün und üppig, aber bei Nacht sinken die Temperaturen empfindlich. Lorilei, Jeremys Mutter, arbeitet nicht. Sie hat ein Haus nur für sie beide gemietet – ihr erstes –, aber der Strom wurde ihnen abgestellt. Ihr Bruder Richard lebt in einem weitläufigen Eigenheim oben auf dem Hügel, aber sie ist nicht bei ihm untergekommen. Stattdessen wohnen Lorilei und Jeremy zurzeit bei Lorileis Freundin Melissa, deren Partner Michael und ihrem gemeinsamen Baby. Das Kind ist zwei, alt genug, dass es mit dem Jungen spielen will und brüllt, wenn es seinen Willen nicht bekommt.

Heute schreit das Baby die ganze Zeit. Jeremy ist sechs Jahre alt und gerade aus dem gelben Bus ausgestiegen, der ihn von der Vorschule heimgebracht hat. Er schlingt seinen Nachmittagsimbiss hinunter und träumt sich weg von dem Lärm, träumt von den Wäldern und dem Spaß, den er dort haben könnte.

Am Ende der Straße steht ein heruntergekommenes weißes Haus, dahinter liegt ein Fleckchen Wald. Die Wälder hier sind dichte, feuchte Laubwälder, in denen verrottende Blätter sich mit Erde zu einem weichen Untergrund verbinden, der unter den Füßen des Jungen nachgibt. Und auch wenn dieser Wald nur sehr klein ist, so ist er mit seiner Schlucht, die einer Narbe im Erdreich gleicht und sich perfekt für Kriegsspiele oder als Versteck eignet, doch Jeremys absoluter Lieblingsspielplatz.

Jeremy bittet seine Mutter um das Luftgewehr. Sie nimmt es von dem Regal herunter, auf dem sie es vor dem Baby in Sicherheit gebracht hat, und reicht es ihm. Er läuft durch die Tür nach draußen. Zwei Kinder, die ungefähr im gleichen Alter sind, ein Junge namens Joey und ein Mädchen namens June, wohnen in dem weißen Haus am Waldrand, und obwohl Jeremy auch gern allein auf Entdeckungsreisen geht, macht es doch mehr Spaß, wenn Joey dabei ist. Er geht zur Tür und klopft an.

Ein Mann öffnet ihm. Er trägt eine Brille mit dicken Gläsern. Er hat einen kleinen Kopf und große Segelohren. Mit seinen sechsundzwanzig Jahren und einem Gewicht von nur siebzig Kilo ist Ricky Joseph Langley schmächtig für einen erwachsenen Mann – aber immer noch viel größer als der Junge. Auch er ist hier in der Stadt aufgewachsen. Jetzt wohnt er zur Untermiete bei Joeys und Junes Eltern, die er kennenlernte, als er begann, bei der Tankstelle am Highway zu arbeiten, wo auch ihre Mutter Pearl beschäftigt ist. In der Theorie bezahlt er Pearl fünfzig Dollar pro Woche für das Zimmer, aber das kann er sich nie leisten und gleicht es mit Babysitterdiensten aus. Erst vor wenigen Tagen hat er auf Joey und Jeremy aufgepasst und den beiden die Seife gebracht, als sie in der Badewanne saßen.

»Ist Joey da?«, fragt Jeremy.

»Nein«, sagt Ricky. »Die sind angeln gegangen.« Das entspricht der Wahrheit. Vor gerade mal zwanzig Minuten haben Joeys Vater und der Junge die Ruder eingepackt und sind zum See hinausgefahren. Sie werden den ganzen Nachmittag fortbleiben. »Sie sind bald wieder da«, sagt Ricky. »Du kannst reinkommen und hier warten, wenn du willst.«

Jeremy spielt jede Woche in dem Haus. Er kennt Ricky. Trotzdem zögert er.

»Warum kommst du nicht rein?«, fragt Ricky noch mal. Er öffnet die Tür weiter und wendet sich ab. Jeremy tritt über die Türschwelle, lehnt vorsichtig sein Luftgewehr gegen eine Wand in der Nähe des Eingangs und steigt die Stufen zu Joeys Schlafzimmer hinauf. Er setzt sich im Schneidersitz auf den Boden und beginnt zu spielen.

Ricky folgt ihm die Treppe hinauf. Er will nur zuschauen, wie Jeremy spielt – das wird er später so sagen, er wird es schwören. Aber das Zuschauen verändert etwas in ihm, und von diesem Moment an ist es, als befände er sich in einem Traum. Er stellt sich hinter Jeremy und schlingt ihm einen Unterarm um den Hals, hebt ihn hoch. Jeremy zappelt so heftig, dass seine Schuhe ihm von den Füßen fallen. Ricky drückt zu.

Jeremy hört auf zu atmen.

Vielleicht berührt Ricky ihn jetzt; vielleicht kann er sich jetzt eingestehen, was er schon die ganze Zeit tun wollte, seitdem er Jeremy in der Badewanne gesehen hat. Vielleicht tut er es auch nicht. Trotz allem, was danach kommt, den drei Gerichtsverfahren und den drei unterschiedlichen auf Video aufgenommenen Geständnissen, den DNA-Tests, den Bluttests, den Untersuchungen der Körperflüssigkeiten, dem psychiatrischen Gutachten und all den hochheiligen Eiden, wird niemand außer Ricky jemals die ganze Wahrheit kennen.

Ricky nimmt Jeremy auf seine Arme, hält ihn, als schlafe er nur, und trägt ihn hinüber in sein Zimmer. Er legt ihn vorsichtig auf die Matratze. Er deckt Jeremy – nein, es ist nur noch ein lebloser Körper; er deckt die Leiche mit einer blauen Decke zu, auf der das Gesicht des Comicdetektivs Dick Tracy abgebildet ist. Dann setzt er sich an den Bettrand und streicht über das blonde Haar.

Unten klopft jemand an die Tür. Er geht hinunter und öffnet. Eine junge Frau steht im Eingang. Ihr Haar ist vom kindlichen Blond zu einem lichten Braun nachgedunkelt.

»Hast du meinen Sohn gesehen?« Als Lorilei diese Frage stellt, ist sie im dritten Monat schwanger.

»Wer ist Ihr Sohn?«, fragt er.

»Jeremy«, antwortet sie, und Ricky wird klar, dass er das schon wusste.

»Nein«, sagt er. »Hab ihn nicht gesehen.«

Sie seufzt. »Hm, vielleicht ist er bei meinem Bruder.«

»Vielleicht«, stimmt er zu. »Warum kommen Sie nicht rein? Sie können unser Telefon benutzen. Sie könnten Ihren Bruder anrufen.«

»Danke.« Lorilei tritt ins Haus. Rechts von ihr lehnt an der Wand ein Luftgewehr der Marke Daisy, der lange braune Lauf glänzend poliert.

Aber sie wendet sich nach links. Sie bemerkt das Gewehr nicht. Er reicht ihr das Telefon, und sie wählt die Nummer, auf der Suche nach ihrem Sohn.

Bandaufnahme von Ricky Joseph Langleys Geständnis, 1992

Frage: Wissen Sie, warum Sie Jeremy getötet haben?

Antwort: Nein. Ich weiß nicht. Ich meine, ich hätte nie gedacht, dass ich das überhaupt tun könnte, es war das erste Mal.

Frage: Und warum haben Sie beschlossen, es zu tun?

Antwort: Ich kann’s Ihnen nicht sagen. Ich kapier es selbst immer noch nicht, ich versuch es zu verstehen, wissen Sie? Es ist wie – ich weiß, dass ich es gemacht habe, aber es ist auch wie etwas, was ich in der Zeitung gelesen habe.

Frage: Ist es für Sie so etwas wie ein Traum, Ricky?

Antwort: Ja, vielleicht. Ich kann nicht wirklich … ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll.

Frage: Aber Ihnen ist bewusst, dass Sie es getan haben?

Antwort: Ja.

Frage: Es gab doch in Ihrer Vergangenheit schon Probleme mit Kindern?

Antwort: Ja.

Frage: Wollen Sie mir davon erzählen?

Antwort: Es ist bloß – ich kann es nicht erklären. Ich schätze, es ist mein Schicksal, verstehen Sie, das ist die Wahrheit.

1 823,74 ₽
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9783747201916
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