Читать книгу: «Die Farbe der guten Geister»

Шрифт:

A. A. Kilgon

Die Farbe der guten Geister

Am Tod vorbei führt auch ein Weg.

Roman

Impressum:

A. A. Kilgon

Die Farbe der guten Geister, Am Tod vorbei führt auch ein Weg.

Kontakt: aakilgon@yahoo.com

© Dr. Barbara Noglik, Dorfstrasse 133, 18356 Fuhlendorf (Deutschland)

Lektorat: Dr. Harry Noglik und Margrit Noglik

1. Auflage Februar 2017

Redaktionsschluss: 25.02.2017

Dieser Roman ist kein medizinischer Ratgeber. In allen Krankheitsfällen wird empfohlen, ärztlichen Rat oder den Rat eines Heilpraktikers einzuholen.

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der elektronischen, mechanischen und fotografischen Vervielfältigung, der Verarbeitung und Speicherung in elektronischen Systemen, des Nachdruckes in Zeitungen oder Zeitschriften, des öffentlichen Vortrages, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen und Video, auch einzelner Textteile sowie Übersetzung in andere Sprachen.

Dieser Roman basiert auf einer wahren Begebenheit.

Die Namen von Personen und die Orte der Handlungen wurden verändert, um ihre Privatsphäre zu wahren. Ähnlichkeiten mit anderen lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

KAPITEL 1

Es war ein schöner, sonniger Morgen Mitte Mai, als das aufdringliche, schrille Piepen des Weckers Tilda unsanft aus ihren Träumen riss. Sie drehte sich noch einmal um, fühlte sich wie erschlagen. Einen Moment lang lag sie noch so da, unfähig sich zu bewegen. Ihr Mund war trocken. Ein dumpfer Druck lastete auf ihrem Bauch. Ihre Beine schienen wie gelähmt zu sein. Sie hatte ganz fest geschlafen und war noch immer wie benommen.

Neben ihr lag Ludwig. Er schnarchte inbrünstig vor sich hin. Ein in die Jahre gekommenes Sägewerk konnte keine schaurigeren Töne von sich geben. Es klang, als wäre er dabei, den gesamten nordischen Waldbestand abzusägen. Tilda kannte dieses schreckliche Schnarchen bis dahin nur von ihren Großeltern. Aber alte Leute durften das. Nur Ludwig, der war weit davon entfernt, so alt zu sein wie ihre Großeltern es gewesen waren. Ludwig war erst 35 Jahre alt. 35 Jahre waren nicht alt genug für eine derart fürchterliche Geräuschkulisse. Tilda bemühte sich trotzdem, ruhig zu bleiben. Sie wollte sich nicht schon wieder darüber aufregen. Schließlich änderte sich dadurch nichts. Ludwig schnarchte schon solange sie ihn kannte. Außerdem hatte sie die ganze Nacht lang neben ihm gelegen und fest geschlafen. Sein Sägen hatte sie dabei offenbar nicht gestört. Das war der Beweis dafür, dass es so schlimm eigentlich nicht sein konnte. Angestrengt versuchte sie, gelassen zu bleiben. Doch auch mit der gelassensten Einstellung änderte sich nichts daran, dass sie das Schnarchen neben sich einfach nur schrecklich fand. Ein unangenehmer Schauer rannte über ihren Körper, jagte eiskalt vom Scheitel bis zu ihren Fußsohlen hinunter. Sie biss die Zähne fest aufeinander und atmete wütend aus. Wie hypnotisiert starrte sie an die weiß gestrichene Decke über sich. Auf ihr huschten, von der Morgensonne beschienen, die Schatten einiger Zweige hin und her. Ein paar verirrte Sonnenstrahlen glitten durch die leichten Vorhänge mit dem maritimen, blau-weißen Streifenmuster. Sie hatte diesen Vorhangstoff selbst ausgesucht und genäht. Sie mochte den Stil, der noch dazu so gut zu Hamburg passte. Bei dem wunderbaren Sonnenschein draußen hätte man fast glauben können, es wäre bereits Hochsommer. Die Sonnenstrahlen schon so früh am Morgen vermittelten das Gefühl, als stünde ein schöner, langer Sommertag bevor. Doch die Sonne hatte in Wahrheit noch gar nicht genug Kraft dafür. Es war noch kalt draußen. Die Sonne war noch zu schwach. Der Sommer sollte erst noch kommen.

Nachdenklich glitt Tildas Blick von der Decke abwärts über das schlafende Gesicht ihres Lebensgefährten. An Ludwig war, wenn sie ehrlich blieb, im Laufe ihrer sechsjährigen Beziehung so einiges unattraktiv geworden. Nicht sein Äußeres. Das ganz und gar nicht. Ludwig sah, ohne zu übertreiben, einfach großartig aus. Er war sportlich und durchtrainiert, sehr gepflegt und hatte diesen mitreißenden Charme, der andere Männer neben ihm blass aussehen ließ. Er war ein typischer Münchner, ein Bayer eben. Er war in München geboren und aufgewachsen und Tilda hatte ihn damals, vor gefühlt ewigen Zeiten, während ihres Studiums in Hamburg kennengelernt. Sie hatte gerade mit ihrem Lehramtsstudium für die Fachrichtungen Deutsch und Physik begonnen. Ludwig war damals schon im vorletzten Semester gewesen. Er studierte Bauingenieurwesen. Bei genauer Betrachtung war das eigentlich sein vorletztes Semester in zweiter Wiederholung. Das wusste sie damals aber noch nicht. Letzten Endes hatte er dann aber doch erfolgreich abgeschlossen. Auch jetzt, nach den Jahren in Hamburg, hatte Ludwig noch immer einen ganz heißen Draht nach Süddeutschland. Seine Eltern, sein Bruder und der ganze Rest seiner Verwandtschaft lebte in München. Wenn Tilda es ganz genau betrachtete, so waren die „ewigen Zeiten“, die sie Ludwig kannte, doch noch gar nicht so lang. Es waren sechs Jahre. Inzwischen kam ihr das aber wie eine Ewigkeit vor.

Ludwig, der Prüfstatiker, war sozusagen ein fescher bayrischer Buar, der in Hamburg gestrandet war. Augenscheinlich fühlte sich aber doch ganz wohl dabei. Sein Bayrisch hatte inzwischen eine dezentere Note angenommen, wurde von seiner Umgebung aber dennoch ganz klar bemerkt. Die meisten Leute, die ihn kannten, mochten jedoch die Art, in der er sprach. Auch ansonsten war er bei allen recht beliebt, denn er konnte durchaus nett sein. Er hatte das Talent dazu, sich immer im besten Licht zu präsentieren. Das mochte oberflächlich klingen und im Grunde genommen war Ludwig das auch. Er war oberflächlich. Dafür war er aber recht intelligent und sah umwerfend aus. Seine blauen Augen standen in auffälligem Kontrast zu seinem dunkelbraunen, glänzenden Haar, das er immer kurz geschnitten und perfekt gestylt trug. Er hatte auffallend schöne, weiße Zähne. Das war allerdings nicht wirklich sein Verdienst, sondern, wie Tilda bald feststellte, ein Familienerbe. Ein Blick auf die Münder seiner Verwandtschaft zeigte die Herkunft seiner schönen Zähne schnell an. Doch Ludwigs glänzende Erscheinung war nicht ganz so ohne Schatten, wie es im ersten Moment den Anschein haben mochte. Vor allen Dingen war es seine Spießigkeit, die gutmeinende Zeitgenossen vielleicht als „bodenständig“ oder „zuverlässig“ bezeichneten. Tilda ging diese Eigenschaft jedoch seit geraumer Zeit gehörig auf die Nerven. Und irgendwie war es auch genau diese Spießigkeit, die bei ihm im Laufe der Zeit immer stärker hervorzutreten schien.

Sicher war sich Tilda allerdings nicht, ob es vielleicht notwendig war, spießig zu sein, wenn man so wie Ludwig im Hamburger Stadtbauamt arbeitete. Möglicherweise war er an diesem Ort auch erst so geworden. Vielleicht, weil dieser Job gar nicht anders zu bewältigen war. Das würde allerdings die klassische Fragestellung aufwerfen, was zuerst da war: das Ei oder die Henne, der Job oder die Spießigkeit. Oder war es vielmehr so, dass Ludwig genau deshalb Baustatiker geworden war, weil er in seinem innersten Kern schon immer ein Spießer gewesen war? Wie immer auch die Dinge in dieser Hinsicht lagen. In jedem Falle liebte er seine Arbeit ohne jede Einschränkung. Er ging vollständig darin auf. Zumindest hatte er auf Tilda bisher immer diesen Eindruck gemacht. Er sprach zwar fast nie darüber, was er den ganzen Tag lang so tat, aber er beschwerte sich auch nicht. Tilda ging folglich davon aus, dass er mit seiner Arbeit im Stadtbauamt glücklich war. Nachdenklich fragte sie sich, ob er wohl auch in seiner Beziehung mit ihr glücklich war. Vielleicht gab es etwas, das ihn an ihr störte? Etwas, das ihm nicht gefiel?

Tilda holte tief Luft und war unschlüssig. Ihre Gedanken kreisten darum, was das möglicherweise sein konnte. Vielleicht war es ihr blondes, kurzes Haar, das sie seit Jahren immer gleich trug und das sie nie lang wachsen ließ, obwohl er sich das so sehr wünschte. Er hatte ja keine Ahnung davon, wie langes Haar bei ihr aussehen würde. Tilda wusste, dass es viel zu dünn dafür war, um es lang zu tragen. Aber musste sie ihm das wirklich beweisen? Und dann war da noch diese blöde Brille, die sie neuerdings zum Lesen brauchte und mit der sie sich selbst furchtbar hässlich fand. Und da war noch etwas. Sicher mochte er auch ihre Antipathie gegen High Heels nicht. Umso mehr, weil sie ganz im Gegenteil eine Vorliebe für flache, schnöde Ökotreter hatte. Die Schuhe, die ein kleines Vermögen kosteten, aber immer irgendwie den Charme von orthopädischen Spezialanfertigungen hatten. Ihre Schuhe, die er meist nur „Rinden“ nannte, weil sie den Gang einer Frau nicht elegant, beschwingt und sexy machten, sondern im besten Falle sportlich. Vielleicht hasste Ludwig auch ihre Begeisterung für gesunde Ernährung. Tilda war sich inzwischen ziemlich sicher, dass das der Fall sein musste. Ludwig konnte gesundes Essen nicht ausstehen. Schon deshalb nicht, weil er ständig unter ihren „gesunden Kochkünsten“ leiden musste, wie er das selbst immer nannte. Ludwig verschmähte Gesundfutter, wie er es nannte, aus tiefstem Herzen. Nach Möglichkeit vermied er alles, was auch nur annähernd so aussah. Dafür liebte er umso inbrünstiger Burger, Schweinshaxen, Bratwürste und Leberkäs-Semmeln. Auch Cola, Eis und Schokolade standen unbekümmert und reichlich auf seinem Speiseplan. Und er hatte auch kein Problem damit, das zuzugeben. Zwar hatte Ludwig sich vor kurzem zu einer Art Kompromiss hinreißen lassen und war mehr oder weniger konsequent auf Light-Cola umgestiegen, aber das war letzten Endes keine wirkliche Verbesserung. Für ihn selbst war das allerdings schon ein Quantensprung. Für Tilda brachte seine Entscheidung aber gleich neuen Diskussionsstoff mit sich. Für sie war das auf keinen Fall eine Bewegung in die richtige Richtung, zumal seine Light-Cola letzten Endes auch nicht mehr als eine chemische, braune Brühe war. Ludwig aber brauchte dieses Getränk. Er schien davon regelrecht abhängig zu sein. Wie immer, wenn Tilda daran dachte, stieg Ärger brennend heiß in ihr auf. Sie fand es einfach eines erwachsenen Mannes unwürdig, wenn er sich mit Händen und Füßen dagegen sträubte, auch nur einen einzigen Tag lang ohne sein braunes Getränk zu sein. Wo auch immer er war und wohin er auch immer ging, so trug er doch ständig eine von seinen heiligen Cola-Flaschen mit sich herum. Tilda konnte einfach nicht verstehen, dass es beim Einkaufen immer wieder Streit geben musste, weil sie sich weigerte, die Kästen mit der braunen Brause in den Einkaufswagen zu stellen. Sie hatte schon so vieles versucht. Sie hatte sich auch bemüht, die Angelegenheit positiv zu sehen. Aber ihr Innerstes sträubte sich strikt dagegen. In ihren Augen war Zucker ein Gift und die meisten ersatzweise eingesetzten Austauschstoffe führten zu Verblödung oder verursachten Krebs. Sie hatte darüber gelesen. Natürlich machte sicher auch die Dosis das Gift. Doch Ludwig´ s Dosis war definitiv zu hoch, als dass sie sich damit entspannt zurücklehnen konnte.

Tilda war in dieser Hinsicht richtig sauer auf ihn. Sie hatte sich wirklich nach Kräften bemüht, das Cola-Problem mit ihm zu lösen, doch es kochte zwischen ihnen immer wieder hoch wie ein aktiver Vulkan. Sie hatte sogar versucht, sich einzureden, dass die Chemie- Cola immer noch besser wäre, als das Bier, das andere Männer stattdessen regelmäßig tranken. Aber irgendwie war sie davon auch nicht überzeugt. War es nicht letztendlich der Unterschied zwischen Pest und Cholera? Eins hatte sie inzwischen allerdings begriffen: Sie konnte Ludwig´ s Probleme nicht lösen. Er musste sie selbst lösen. Und er würde sie erst lösen, wenn er selbst es wollte und nicht, wenn sie es wollte. Tilda schloss ihre Augen und streckte sich noch einmal in ihrem Bett aus. Sie versuchte dabei, alle Muskeln und Sehnen in ihrem Körper zu dehnen, so wie die Katzen es taten. Ein bisschen zwickte es schon hier und knackte es da. Sie fragte sich, ob das schon die subtilen Botschaften waren, die das Älterwerden in ihre Richtung schickte. Morgens fühlte sie sich mit ihren dreißig Jahren tatsächlich oft wie eingerostet. Sie nahm sich zwar regelmäßig vor, etwas dagegen zu unternehmen, aber dabei blieb es dann auch. Erschöpft stellte sie sich die Frage, was das wohl für ein Tag sein würde, der da draußen auf sie wartete.

Wenn alles nach Plan lief, dann würde es ein ganz normaler Montag mit fünf Unterrichtsstunden für sie werden. Das war das Übliche, also nichts Besonderes. Danach würde die kleine Lehrerkonferenz folgen und im Anschluss daran wartete noch ein Stapel Tests der siebten Klasse auf sie, den sie noch korrigieren musste. Alles in allem war es wirklich ganz und gar das Übliche. Sie würde wie immer in Eile sein und der Tag würde sein Ende finden, noch bevor sie sich seiner so richtig bewusst geworden war. Der Montag war für Tilda schon lange Zeit der schlimmste Tag der Woche, weil sich da irgendwie immer alles staute. Das betraf das Gute wie das Schlechte in gleichem Maße. Wieder einmal fragte sie sich, wie es nur möglich war, dass scheinbar die ganze Welt zu wissen glaubte, dass Lehrer zu sein ein sagenhaft entspannter Job war. Ein Job, bei dem man mittags nach Hause gehen konnte und dann den Rest des Tages frei hatte. Wenn das wirklich so wäre, dann ergab sich daraus die Frage, wieso nicht alle Abiturienten ein Lehramtsstudium beginnen wollten. Warum also gab es dann diesen Lehrermangel, der in der Realität alle ihre möglichen Pausen während des Tages verhinderte?

Natürlich war es toll, Lehrer zu sein. Zumindest für Tilda war das so. Sie liebte es. Lehrer war schon immer ihr Traumberuf gewesen. Bereits ganz früher, als kleines Mädchen, hatte sie ständig alle Nachbarskinder „unterrichtet“. Meist hatte sie das dann so häufig und so intensiv getan, dass die anderen überhaupt keine Lust mehr darauf hatten und sich weigerten, weiter mitzuspielen. Tilda war tatsächlich mit einer überaus großen Liebe zu diesem Beruf geboren worden. Doch leicht war er wirklich nicht. Das musste sie nach den beinahe fünf Jahren, in denen sie mittlerweile im Schuldienst war, zugeben. Lehrer zu sein musste man mögen. Wer das nicht tat, der hatte keine Chance, mit diesem Beruf glücklich zu werden. Das war die einfache Wahrheit.

Ludwig drehte sich neben ihr mit einem Grunzlaut auf die andere Seite. So, wie er jetzt lag, sah sie nur seinen Rücken. Während Tilda ihn betrachtete, kam ihr das Bauamt wieder in den Sinn. Nein, sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie es wäre, wenn sie dort arbeiten würde. Für kein Geld der Welt würde sie ihr Leben in so ein Korsett zwängen. Nicht einen einzigen Tag lang wollte sie das probieren. Tilda hatte schon immer sehr viel Wert auf ihre persönliche Freiheit gelegt. Sie brauchte Luft zum Atmen. Verbeamtet zu sein wie Ludwig war bestimmt nicht das Schlechteste, was man sich vorstellen konnte. Der Staatsdienst hatte ein paar großartige Vorteile, aber er konnte auch zur Fessel werden. Und er war bestimmt nicht die Lösung aller beruflichen oder finanziellen Probleme. Im Gegenteil. Er schaffte zusätzliche Zwänge. Aus Tilda´ s Sicht brachte er eine Menge neuer, anderer Probleme mit sich. Eines davon war diese merkwürdige Art von Starrheit, die schon nach kurzer Zeit von Ludwig Besitz ergriffen hatte. Es war eine Art lähmungsartige Trägheit seines Innern. Eine Art Unfähigkeit, dem Leben lebend zu begegnen, sich von ihm tragen zu lassen und sich dabei sicher zu fühlen. Einfach die Gelassenheit, die täglichen Dinge auf sich zukommen zu sehen und sie entspannt anzugehen. Ludwig war immer nur angespannt und ständig darauf bedacht, alles im Griff zu haben und alles zu kontrollieren.

Er, der Statiker, schien die Statik eines ganz normalen Menschenlebens inzwischen für unsicher zu halten. Er liebte seine Sicherheit über alles. Er hielt sich immer an die Regeln. Und er passte sein Verhalten immer den Umständen an. Ludwig bevorzugte Ordnung, Stabilität und Gesetze. Irgendwie machte er auf Tilda immer öfter den Eindruck, als wäre ihm durch seinen Job nach und nach das Leben abhandengekommen.

Aber wie dem auch immer war. So, wie es aussah, schien er trotzdem zufrieden mit sich und seiner Welt zu sein. Er hatte sich nie beschwert. Seine Arbeit im Stadtbauamt war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Tilda war sich sicher, dass er ein Vorzeige-Angestellter war. Auch ihre Eltern, die beide bei der Hamburger Sparkasse gearbeitet hatten und inzwischen im Ruhestand waren, mochten ihn wegen seiner Verlässlichkeit. Ludwig ging morgens pünktlich aus dem Haus und kam genauso pünktlich am Nachmittag zurück. Um 7.00 Uhr morgens verließ der die Wohnung und pünktlich um 16.30 Uhr war er wieder zu Hause. Am Freitag kam er schon um 15.00 Uhr zurück. Er funktionierte wie ein Schweizer Uhrwerk, fehlerfrei und vollkommen präzise. Seit kurzem fuhr er sogar einen großen Range Rover, der unten vor dem Haus parkte. Ein Monstrum. Er hatte sich seinen Männertraum erfüllt.

Tilda lag immer noch da schaute an die Decke. Sie konnte sich nicht aufraffen, aufzustehen. An diesem Morgen fühlte sie sich wieder einmal schlapp. Ihr Hals war trocken wie ein Reibeisen. Sie schluckte. Es wurde nicht besser. Unangenehme Gedanken drängten sich ihr auf. In Wahrheit war die Luft ganz schön raus aus ihrer Beziehung mit Ludwig. Sie konnte nicht anders, als sich das selbst einzugestehen. Auch wenn es unangenehm war, so war es doch eine Tatsache. Wahrscheinlich war das auch der Grund für das beklemmende Schweigen, das sich in den letzten Monaten mehr und mehr zwischen sie geschlichen hatte.

Auch wenn sie sich momentan irgendwie körperlich nicht so gut fühlte, so war Tilda doch klar, dass ihr Leben trotzdem ganz in Ordnung war. Ihre merkwürdigen Befindlichkeitsstörungen, die sie seit einiger Zeit plagten, änderten nichts daran. Die Gesamtschule in Bergedorf war für sie ein guter Ort. Nur selten hatte sie es bisher bereut, dort zu arbeiten. Wo gab es nicht ab und zu Probleme? Es war einfach eine Tatsache, dass in solch einer Schule wie der ihren bei weitem mehr los war, als man im Zustand innerer Tiefenentspannung verkraften konnte. Meist konnte Tilda aber gut damit umgehen und die Phasen, in denen alles reibungslos lief, entschädigten sie für den Stress zwischendurch. In anderen Schulen war es vermutlich auch nicht besser. Meist blieb der Deckel auf dem Topf. Nur selten kochte er über. Aus ihrem Arbeitsplatz wurde dann kurzzeitig so etwas wie ein vibrierender Ameisenhaufen. Aber diese Zustände waren gewöhnlich nicht von langer Dauer.

In jedem Falle aber versuchte Tilda, ihr Berufsleben so entspannt wie möglich zu sehen. Natürlich gab es die Querelen der Kollegen mit dem Angezicke untereinander. Und es gab den Disput mit den Eltern der Schüler, die immer häufiger völlig unrealistische Ansichten vertraten. Oder die Probleme mit den Migranteneltern, die von irgendwoher aus der Welt nach Deutschland gekommen waren, um eine Zukunft in Wohlstand zu erleben. Das war verständlich. Obwohl Tilda inzwischen der Meinung war, dass sich die Menschen anderer Konfessionen besser kein christliches Land für ihre neue Zukunft ausgesucht hätten. Sie hatte längst beobachtet, dass sich viele von ihnen nicht in die deutsche Mehrheitsgesellschaft mit ihren Werten integrieren wollten. Allzu oft erlebte sie den Frontalcrash zwischen der Weltanschauung und den Glaubensinhalten der Migranteneltern und den deutschen Normen und Wertvorstellungen mit. Die Schule war nicht der geeignete Ort, um die Probleme dieser Eltern zu lösen. Erst in der letzten Woche war da wieder der erboste Brief eines arabischen Vaters auf den Tisch des Direktors geflattert, der darauf bestand, aufgrund seines Glaubens und dem seiner vier Kinder an der Schule das Schweinefleisch generell aus der Schulkantine zu verbannen. Tilda wusste, dass solche Forderungen auch schon an Direktoren anderer Schulen herangetragen worden waren.

Sie ärgerte sich über derlei Respektlosigkeiten. Vielleicht wäre der Mann unter diesen Umständen mit seiner Familie besser nicht nach Deutschland, sondern in eines der sechsundfünfzig muslimischen Länder dieser Welt ausgewandert, die es außer seinem Herkunftsland noch gab. Dann hätte er viele Probleme nicht und der Schule seiner Kinder ginge es ebenso. Tilda wusste, dass nicht alle Kollegen ihre Sichtweise teilten. Doch sie hatte immer zu ihrer Meinung gestanden. Die Wahrheit musste schließlich die Wahrheit bleiben und durfte nicht schöngeredet werden. Wenn die Migrantenfamilien Deutschland wählten, dann war es selbstverständlich, dass sie sich in die Mehrheitsgesellschaft integrieren mussten. Schon im Interesse ihrer Kinder war das unumgänglich. Niemand hatte diese Menschen dazu gezwungen, nach Deutschland zu kommen. Niemand hatte hier auf sie gewartet. Wenn es Probleme mit der Integration gab, dann mussten letztendlich immer die Kinder darunter leiden. Die Kinder, die sich später als Erwachsene ständig darüber beschweren würden, dass sie in diesem Staat nur Bürger zweiter Klasse waren. Das war die unausweichliche Folge der fehlenden Integrationsbereitschaft ihrer eigenen Elternhäuser. Tilda fand das traurig für diese Kinder. Und sie fand es auch gefährlich. Diese Kinder steckten zwischen zwei Welten fest und konnten sich nicht dagegen wehren. Als Lehrerin versuchte sie in solchen Fällen immer, mit den Eltern zu reden. Leider waren ihre Bemühungen in dieser Hinsicht meist wenig erfolgreich.

Trotzdem war sie immer darum bemüht, den Stress aus der Schule nicht mit nach Hause zu nehmen. Und sie machte zunehmend Fortschritte damit. Damit, auch einmal einfach „nein“ zu sagen. Früher war ihr das noch schwerer gefallen, als in den letzten Jahren. Jetzt machte es sie stolz, dass sie das ab und zu schon überzeugend hinbekam. Sie hatte festgestellt, dass es das Leben ungemein erleichterte, im richtigen Moment „nein“ sagen zu können.

Auch in anderer Hinsicht war die Schule natürlich immer für ein wenig Aufregung gut. Da gab es das Zerren im Kollegenkreis um die besten Pöstchen und die ewigen Gehaltsdebatten, die Vertretungspläne, den Kleinkrieg zwischen den verbeamteten und den nicht verbeamteten Kollegen und denen mit befristeten und unbefristeten Arbeitsverträgen. Auch das Problem mit dem Essen aus der Schulkantine, das eigentlich ganz wohlschmeckend war, aber vollständig ungesund und voller Konservierungsstoffe, kam regelmäßig wieder an die Oberfläche wie ein gasgefüllter Ballon. Und natürlich brachten auch die Schüler selbst allerlei Bewegung mit sich. Ein Sack Flöhe war vermutlich einfacher zu bändigen, als sie. Und doch: summa summarum waren die Schüler genau genommen diejenigen, die im Endeffekt die geringsten Probleme verursachten. Viele davon erledigten sich im Laufe der Zeit von allein, auch wenn das keiner ihrer Pädagogen-Kollegen offiziell hören wollte. In einer Schule wie der ihren gab es tatsächlich Probleme, die man als Lehrer aussitzen musste. Lehrer konnten definitiv nicht alles klären. Noch dazu gab es für alles im Leben eines Menschen den richtigen Zeitpunkt. Es war also sinnlos, den Fluss schieben zu wollen oder an den Halmen zu ziehen, damit das Gras schneller wuchs. Wenn es nicht der richtige Zeitpunkt war, dann waren oft alle Bemühungen umsonst. Manche Schüler brauchten eben mehr Zeit, als andere. Und bei einem Teil von ihnen war der Zug dann eben leider abgefahren, auch wenn sie sich endlich doch noch bequemten. Schüler änderten ihr Verhalten wie alle anderen Menschen auf dieser Welt eben auch erst dann, wenn sie selbst es wollten und nicht, wenn ihr Lehrer oder ihre Eltern meinten, es wäre gut für sie. Das war die Realität. Tilda hätte früher nie gedacht, dass sie das einmal so abgeklärt sehen würde. Fünf Jahre Schuldienst hatten sie zu Erkenntnissen geführt, hatten ihr die Augen geöffnet. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb war Tilda Optimistin geblieben. In ihren Augen war das Glas immer halbvoll und nie halbleer.

Ludwigs Schnarch-Orgie neben ihr hatte ein jähes Ende gefunden. Die Stille irritierte Tilda und riss sie aus ihren Gedanken. Mit einem Schwung schlug sie ihre Bettdecke zurück. Während sie noch einen allerletzten Moment lang auf der Bettkante saß, begann Ludwigs Geschnarche neben ihr erneut. Sie hatte sich zu früh gefreut. Jetzt, wo sie hellwach war, kroch so etwas wie Wut in ihr hoch. Sie atmete ein paarmal tief durch, um sich zu beruhigen. Es gab nichts, was sie an der Situation ändern konnte. Letzten Endes war die Wohnung groß genug und zur Not würde sie auch nebenan im Arbeitszimmer schlafen können. Ludwig würde das bestimmt nicht gefallen, doch schließlich war er derjenige, der jede Nacht mit der Säge in den Wald ging. Er war der Verursacher des Problems, also würde er mit ihrer Entscheidung leben müssen.

Tilda erhob sich leise. Ihre Füße berührten den kühlen, glatten Fußboden mit den Holzdielen. Mit einem Mal verspürte sie wieder diese stumme Übelkeit, die sie seit Monaten in unregelmäßigen Abständen überkam. Langsam kroch sie in ihr hoch und schien sich bis in die letzte ihrer Zellen auszubreiten, schien sie zu überschwemmen wie eine Flut. Sie empfand dabei auch einen dumpfen Schmerz im Oberbauch. Allein bei dem Gedanken an Frühstück drehte sich ihr fast der Magen um. Dabei hatte sie ihr Frühstück früher immer so geliebt.

Tilda hatte nicht die geringste Ahnung, woher ihr Problem kam. Es gab keine Regel für diese Erscheinungen und erst recht keine Erklärung. Schon seit Weihnachten quälte sie sich damit herum. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass der Spuk endlich vorbei wäre. Sie hatte genug davon.

Ratlos hielt sie inne und nestelte mit den Fingern an dem kratzenden Schild in ihrem Nacken herum, direkt am Halsausschnitt ihres Schlafanzuges. Es piekte und schabte. Es war einfach unerträglich. Sie fühlte sich unwohl genug. Sie brauchte das nicht auch noch. Müde raffte sie sich auf und ging leise ins Badezimmer. Dort schnitt sie das Schild kurzentschlossen heraus und warf es ärgerlich in den silbernen kleinen Mülleimer unter dem Waschbecken. Ratlos setzte sie sich dann auf den kleinen Holzhocker, der in der Ecke stand. Alles war irgendwie verändert. Sie war innerlich ständig angespannt, seitdem sie sich nicht mehr wohlfühlte. Und irgendwie war sie dadurch auch ständig auf Krawall gebürstet, hätte wegen jeder Kleinigkeit aus der Haut fahren können. Sie merkte das selbst, aber sie konnte nichts dagegen tun.

Leider war es unmöglich, die schreckliche Übelkeit und den Druck in ihrem Oberbauch so einfach loszuwerden wie das Schild aus ihrem Schlafanzug. Wenigstens sollte ihre Befindlichkeitsstörung aber nichts Schlimmes sein. Zumindest hatte das Dr. Pfeifer gesagt. Dr. Pfeifer war ihr Hausarzt, in dessen Sprechstunde sie deshalb schon zweimal gewesen war. Doch noch immer waren die lästigen Beschwerden nicht verschwunden. Lag es am Ende doch daran, dass sie die Tabletten nicht eingenommen hatte, die er ihr verschrieben hatte? Sie hatte sein Rezept in Wahrheit noch nicht einmal in der Apotheke eingelöst. Sie trug es noch immer irgendwo in ihrer Handtasche mit sich herum. Tilda mochte keine Tabletten. Seit Jahren hatte sie keine Medikamente mehr angerührt. Ihr Misstrauen gegen diese chemischen Mittel war zu groß. Das hatte seinen Grund in der Vergangenheit.

Damals, vor vielen Jahren, als sie etwa zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen war, hatte sie gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester Doro, die eigentlich Dorothea hieß, auf einer Zugfahrt von Hamburg nach Köln eine Frau kennengelernt. Ihre Mutter hatte sich die ganze Zeit über angeregt mit ihr unterhalten. Die Frau war sehr groß und sehr schlank gewesen. Sie trug ein helles Kostüm. Tilda konnte sich auch heute noch gut an sie erinnern. Die fremde Frau hatte wunderschönes, kupferrotes, Haar, das ihr bis auf die Schultern herabfiel. Sie mochte so etwa vierzig Jahre alt gewesen sein. Ihre grünen Augen strahlten und ihr Gesicht war über und über mit winzigen, hellbraunen Sommersprossen bedeckt gewesen. Sie lachte oft, wenn sie sprach. Es stellte sich bald heraus, dass die Frau für einen großen Pharmakonzern arbeitete. Sie erzählte ihrer Mam, sie stünde dort an einer Maschine, mit der Schmerztabletten hergestellt wurden. Auf der einen Seite müsse sie die Säcke mit dem Pulver für die Tabletten in einen großen Trichter hineingeben. Auf der anderen Seite der Maschine fielen dann die fertig gepressten Tabletten heraus. So zumindest hatte Tilda die Schilderung der Frau in Erinnerung. Auf die neugierige Frage ihrer Mutter, ob sie durch ihre Arbeit an der Tablettenmaschine auch privat schneller zu Medikamenten greifen würde, hatte die fremde Frau ihre Augen entsetzt aufgerissen. Sie hatte ihre Hände abwehrend ausgestreckt und gesagt: „Wie bitte? Ich? Um Gottes willen! Nein! Ich nehme doch nie Tabletten. Niemals! Ich weiß doch, was da drin ist!“ Tilda hatte die Worte und das entsetzte Gesicht der Frau nie vergessen. Für sie und ihre ältere Schwester Doro hatte die Aussage der Fremden gravierenden Folgen, wie sie beide unabhängig voneinander später feststellten. Die Reaktion und der Satz dieser Frau hatten sich in ihr Gedächtnis gebrannt. Die Schwestern hatten sich lange Zeit gefragt, welches Gift es wohl sein mochte, das in den Tabletten steckte. Diese Frau musste es schließlich wissen. Wie das Medikament hieß, erfuhren sie nie. Doch als Kinder glaubten sie, dass es sich bei den Tabletten um ein furchtbares Gift handeln musste.

Die Anzahl der Medikamente, die Tilda seit der Begegnung von damals eingenommen hatte, ließ sich vermutlich an einer Hand abzählen. Bei ihrer Schwester Doro war es ähnlich. Nur ihre Mutter schien das Gespräch mit der Frau schon bald vergessen zu haben. Sie war nicht so kleinlich, wenn es darum ging, ihre Beschwerden mit Chemie zu bekämpfen. Momentan schien es so, als würde ihr Körper die chemischen Mittel auch noch tolerieren. Aber das konnte sich schnell ändern. Irgendwann würde das Fass möglicherweise überlaufen. Tilda war in Sorge um ihre Mutter und auch um ihren Vater, der ähnlich entspannt mit dem Thema umging.

956,63 ₽
Жанры и теги
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
850 стр.
ISBN:
9783742761583
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают